Spannungsverhältnis zwischen Schachteln, Schmutz und Schund

Rezensiert von Jörg Magenau |
Alfred Irgang, Hauptfigur in Evelyn Grills Werk "Der Sammler", ist ein glücklicher Mensch. In seiner stinkenden Wohnung, wo er sich zwischen den Wänden aus Schachteln und Utensilien kaum noch bewegen kann, fühlt er sich wohl. Das Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst ist das zentrale Thema dieses Romans. Irgang selbst spricht von einem "emotionalen und ästhetischen Ordnungsprinzip", das in seiner Wohnung zur Anwendung komme.
Vor dem Blick des Sammlers ist alles gleich wertvoll. Er ist ein Demokrat der Dinge. Sein natürlicher Feind ist die Vergänglichkeit. Das macht ihn zum Archivar des Lebens. Er bewahrt alles auf, was andere Leute wegschmeißen würden. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt fischt er Abfall aus den Containern, um ihn in seiner Wohnung zu stapeln. Kein Wunder, dass sich in seiner Küche bald Kakerlaken tummeln. Nachts jagt er sie, zerquetscht das Ungeziefer zwischen den Fingern und sammelt die Leichen in Streichholzschachteln, die er sorgfältig numeriert und mit Datum versieht. Selbst die Haare, die ihm reichlich ausfallen, verpackt er in beschriftete Briefumschläge und hebt sie auf. Alte Joghurtbecher und halbgeleerte Fischkonserven stapeln sich bis zur Decke.

Alfred Irgang, Hauptfigur in Evelyn Grills groteskem Roman "Der Sammler", ist ein glücklicher Mensch. In seiner stinkenden Wohnung, wo er sich zwischen den Wänden aus Schachteln und Utensilien kaum noch bewegen kann, fühlt er sich wohl. Doch für seine Mitmenschen wird er zum pathologischen Fall. Am Stammtisch eines Geschichtsprofessors, der Alfred von klein auf kennt, debattiert man allwöchentlich, wie aus Alfred wieder ein "normaler" Mensch zu machen wäre. Eine Sozialarbeiterin, ein Wissenschaftler und eine Künstlerin sind hier versammelt. Auch die Schriftstellerin Dora Stein gehört zu dieser Runde. Sie betrachtet Alfred Irgang als Material für einen Roman. Auch sie ist eine Sammlerin, doch nicht von Dingen, sondern von Ereignissen und Beobachtungen.

Das Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst ist das zentrale Thema dieses Romans. Irgang selbst spricht von einem "emotionalen und ästhetischen Ordnungsprinzip", das in seiner Wohnung zur Anwendung komme. All die Schachteln, der Schmutz und der Schund sind in einem Spannungsverhältnis zueinander angeordnet, das sich nur ihm, als dem Zentrum dieser Welt, erschließt. Er fühlt sich den Arbeiten Hanne Darbovens und Christian Boltanskis Installation mit dem Titel "Spurensicherung" verwandt. Auch sie wollten etwas bewahren, die Zeit anhalten und sich ihrer Geschichte vergewissern. Bei Irgang allerdings wird daraus eine zwanghafte Lebensweise.

Evelyn Grill hat sich in ihren Romanen und Erzählungen auf skurrile Gestalten spezialisiert, auf Sonderlinge, die den Schutzraum der Literatur brauchen, weil es in der Wirklichkeit keinen Ort für sie gäbe. Jakob Heins Aussteiger "Herr Jensen" oder Jan Faktors "Schornstein" sind vergleichbare Figuren in der aktuellen Literaturproduktion. Anscheinend gibt es derzeit einen erhöhten Bedarf an Helden, die dem Normierungsdruck der Gesellschaft wenigstens literarisch widerstehen und sich jeder Anpassung verweigern. Evelyn Grill treibt in ihrem Roman den Konflikt zwischen individueller Absonderlichkeit und gesellschaftlichem Ordnungszwang allerdings auf die Spitze.
Als Irgang nach einem Rattenbiss mit einer schweren Blutvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert wird, nutzt der Stammtisch des Professors die Gelegenheit, seine Wohnung zu entmüllen. Die Gemeinschaft, angeführt von der Sozialarbeiterin Uta Aufbau, sieht ihre Abbruch- und Aufräumaktion als gute Tat. Für die Schriftstellerin Dora Stein ist das Stoff für ihren Roman. Ein junger Galerist möchte die Wohnung am liebsten zur Skulptur erklären. Eine Videokünstlerin filmt das Geschehen und auch das Entsetzen Irgangs, als er in die saubere, leergeräumte Wohnung zurückkehrt. Die Brutalität des pädagogischen Aktes wird den Beteiligten erst zu spät bewusst. Da ahnen sie bereits, dass es mit Alfred Irgang kein gutes Ende nehmen wird.

Evelyn Grill, die 1942 in Österreich geboren wurde und heute in Freiburg im Breisgau lebt, erzählt diese tragikomische Geschichte mit dezenter Ironie und kalkulierter Boshaftigkeit. Vielleicht ist "Der Sammler" für ein Buch, das von sehr schmutzigen und unhygienischen Dingen handelt, etwas zu sauber konstruiert. Jede Figur hat ihre genau berechnete Funktion und abgezirkelte Bedeutung. Die Namen sind sprechend, die Symbolik ist überdeutlich.

Wäre es wirklich nötig, dass die dicke Frau, die Alfred Irgang als einzige neben sich duldet, weil sie ihn nicht belehren und zu nichts zwingen will, keine Zunge mehr hat und deshalb stumm ist? Die Wirklichkeit ist leider nicht literarisch, sagt die Schriftstellerin im Roman. Evelyn Grill hilft deshalb nach, so gut sie kann. "Der Sammler" ist nebenbei auch ein hinterlistiger, unterhaltsamer Roman über das Entstehen von Kunst.


Evelyn Grill: Der Sammler
Residenz, Salzburg 2006, 236 Seiten