Spannung trotz Handlungsarmut

09.05.2007
Der neue Roman von Peter Kurzeck wirkt wie eine poetisch-autobiographische Chronik. Der Ich-Erzähler in "Oktober und wer wir selbst sind" steht kurz vor der Trennung von Freundin und Tochter. Obwohl äußerlich nicht viel passiert, gelingt es Kurzeck meisterhaft, die innere Spannung seiner Figuren zu verbildlichen.
Peter Kurzecks 1979 einsetzendes Werk wurde in den letzten Jahren mit renommierten Preisen bedacht, und unter Kennern besteht kaum Zweifel darüber, dass Kurzecks Bücher zum Bestechendsten gehören, was die deutschsprachige Literatur in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat. Dreimal bereits - in "Übers Eis" (1997), "Als Gast" (2003) und "Ein Kirschkern im März" (2004) - widmete sich der 1943 in Böhmen geborene Kurzeck dem Jahr 1984, einer schicksalhaften Zäsur für seinen Ich-Erzähler, der sich nach neun Jahren von seiner Freundin Sibylle und seiner kleinen Tochter Carina getrennt sieht.

Im November 1983 brach diese Welt zusammen, und Kurzecks neuer Roman "Oktober und wer wir selbst sind" setzt unmittelbar davor ein. Noch befinden wir uns in der vertrauten Wohnung des Erzählers im Frankfurter Stadtteil Bockenheim; noch besteht die Dreisamkeit, wenn auch vor düsterem Horizont, da der Erzähler seine Halbtagsstelle in einem Antiquaritat verloren hat.

"Einzelheiten, immer mehr Bilder, und alles ganz deutlich", breitet Kurzeck in vertrauter Weise aus. Sind es wenige Wochen, die da vergehen? Oder schnurrt das Erlebte und Gesehene auf einen einzigen, nicht enden wollenden Tag zusammen? Meisterlich versteht es Kurzeck, das Gefühl zu vermitteln, "als sei die Zeit angehalten". Seine Monologe reduzieren das äußere Geschehen radikal. Denn viel passiert nicht: Das Ich versucht sich selbst einen festen Tagesablauf zu diktieren. Morgens wird geschrieben, dann holt man Carina vom Kinderladen ab, verbringt den Nachmittag mit ihr, wartet auf die Freundin, isst zu Abend und kehrt noch einmal an den Schreibtisch zurück.

Für Frankfurt am Main ist dieser Autor ein Glücksfall. Mit Akribie halten die Romane fest, was die Stadt ausmacht(e) und was Architekturplaner binnen weniger Monate für immer zerstörten. "Sanierung Bockenheim. Müssen lang stehen, mein Kind und ich, damit uns nur ja nichts verloren geht" - das ist die Beobachterhaltung, eine Perspektive, für die der Verlust selbstverständlich ist und die Obsession, dagegen im sich Erinnern und im Aufschreiben eine Bastion zu errichten.

Kurzecks Ich-Erzähler, dessen Alkoholexzesse erst gut vier Jahre zurückliegen, ist ein Gefährdeter - und das obschon die größte Bedrohung, das Auseinanderbrechen der Kleinfamilie, mit keiner Silbe thematisiert wird. Allein unterschwellig ist zu spüren, wie wenig Energie die Beziehung zu Sibylle noch aufweist. Peter Kurzeck spiegelt die latente Krise - ein geschickter Schachzug -, indem er die drohende Trennung eines anderen Paares ausführlich beschreibt. Sein Uraltkumpan Jürgen versucht sich zusammen mit seiner Freundin Pascale eine Existenz in Südfrankreich aufzubauen. Unter großen Mühen machen sie sich daran, dort ein Restaurant zu etablieren - bis Pascale kurzerhand die Flucht ergreift. Werden die beiden jemals wieder zusammenkommen? Oder löst sich die Bindung endgültig auf?

Peter Kurzeck und seine Leser wissen, dass der Schrecken nicht aufzuhalten sein wird. "Sie wird groß, keiner stirbt, und nichts geht verloren" - was sich der Erzähler, seine Tochter vor Augen, da ersehnt, ist ein frommer Wunsch, eine fromme Lüge. Davon lebt große Literatur.

Rezensiert von Rainer Moritz

Peter Kurzeck: Oktober und wer wir selbst sind
Stroemfeld Verlag , Frankfurt 2007
204 S., 19,80 EUR