Spannende Sammlung von 24 Cliffhangern

28.08.2008
Nach Ansicht des österreichischen Literaturwissenschaftlers Raoul Schrott birgt Homers "Ilias" eine überraschend moderne Struktur, deren Spannungsbogen heutigen Fortsetzungsromanen oder -serien nicht unähnlich ist. Schrott, dessen "Ilias"-Neuübersetzung im Herbst erscheint, sagte ferner, er halte es für borniert, den Einfluss orientalischer Quellen auf die "Ilias" zu leugnen – wie es derzeit immer noch viele Wissenschaftler täten.
"Dass es so verwunderlich sein soll, dass ein Genius wie Homer fremde Quellen benützt, die noch dazu aus dem Orient stammen, das zeigt nur ein gewisses Maß an Borniertheit und Ignoranz gegenüber dem, wie Literatur entsteht."

Schrott sagte, er habe den Text beim Übersetzen neu entdeckt: "Der Text ist unheimlich spannend. Nicht nur dadurch, dass er eine ganze Enzyklopädie einer verlorenen, kulturellen Welt darstellt und den Anfang des heutigen Europas auch. Sondern dass es ein Text ist, der mit 24 Gesängen gleichzeitig 24 Cliffhanger präsentiert." Die älteren, noch heute gebräuchlichen Übersetzungen, so Schrott weiter, seien in einem Deutsch verfasst, das nicht mehr ins 21. Jahrhundert passe. "Mir ging es darum, die begrenzte Sprachmöglichkeit, die Homer damals hatte, aufzufächern und zu zeigen, was zwischen den Zeilen liegt. Was Homer eigentlich meint." Er habe sich vorgestellt, "was wäre, wenn Homer tiefgefroren aufwachen würde, 3000 Jahre später, in einem völlig anderen Land, mit einem völlig anderen Kulturkreis."

Schrott betonte, er habe sich bei der Übersetzung gefragt, wie der griechische Dichter seine Geschichte heute aufschreiben würde. "Es ist das Werk eines Dichters. Und damit etwas Kollegiales." In Anlehnung an den Schriftsteller Arno Schmidt erklärte er: "Man betreibt Ahnendienst, indem man das, was ein Kollege vor Tausenden von Jahren geschrieben hat, wieder in ein klares, heutiges Deutsch bringt."

Das gesamte Gespräch mit Raoul Schrott können Sie bis zum 28. Januar 2009 in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören. MP3-Audio