Spannende Neuigkeiten über unser Gedächtnis
Der von Tobias Bonhoeffer und Peter Gruss herausgegebene Report der Max-Planck-Gesellschaft ist eine gut lesbare Gesamtschau der aktuellen Hirnforschung. "Zukunft Gehirn" bietet faszinierende Einblicke in die Neurowissenschaften und spart kritische Fragen nicht aus.
Wüstenameisen sind Meister der Navigation. Mit ihren Mini-Gehirnen legen sie innere Landkarten an, merken sich täglich dutzende von Wegen, errechnen mögliche Heimwege und produzieren Suchstrategien, falls sie sich doch einmal verlaufen. Dabei orientieren sich die kleinen Tiere an einem für uns Menschen unsichtbaren Muster: Den Schwingungsrichtungen des polarisierten Lichts.
Das neue Buch aus dem C. H. Beck Verlag "Zukunft Gehirn", ein Report der Max-Planck-Gesellschaft, präsentiert einen gut lesbaren, aktuellen und anspruchsvollen Querschnitt durch die Hirnforschung mit spannenden Neuigkeiten über unser Gedächtnis, Spracherwerb, Hirnverletzungen, Sinneswahrnehmungen und eben auch die kognitiven Leistungen von Insekten.
Die Erforschung der Wüstenameisen ist weit entfernt von gesellschaftlich brisanten Debatten. Anders sieht es mit dem Themenkomplex freier Wille, Strafmündigkeit und Selbstverantwortung aus, der gleich in zwei Aufsätzen verhandelt wird. "Das Gehirn auf der Anklagebank" beschreibt die Versuche der Neurowissenschaften, Erkenntnisse und Daten zu gewinnen, die eines Tages vor Gericht verwertbar sein könnten. Bislang ist das Zukunftsmusik, denn weder amerikanische noch deutsche Gerichte akzeptieren neurowissenschaftliche Daten. Allerdings sind die Ziele der Hirnforscher hoch gesteckt: Lügen, krankhafte Hirnveränderungen, die sich auf die Verarbeitung von Emotionen auswirken, selbst unbewusste Regungen von Angeklagten möchten sie erkunden.
Doch welche Auswirkungen hätte es auf unser Verständnis von Unschuld und Schuld, sollten sich Selbstverantwortung und freier Wille auf biochemische Messgrößen zurückführen lassen? Das debattieren der Philosoph Julian Nida-Rümelin und der Hirnforscher Wolf Singer im Kapitel "Erregungsmuster und gute Gründe". Sie wählen die Form von Rede und Gegenrede und kommen dabei leider nur mäßig ins Gespräch - zu unterschiedlich sind die Betrachtungsweisen. Dass Wolf Singer sich das letzte Wort nimmt, obwohl alles gesagt ist, wirkt seinem Gastautor gegenüber leider recht unsouverän.
Wesentlich eleganter gelingt der Dialog unterschiedlicher Positionen in dem Kapitel "Empathie und ihre Blockaden". Die Kulturwissenschaftlerin Ute Frevert und die Neuroforscherin Tania Singer haben sich erfreulich unverkrampft zu einem gemeinsamen Text entschieden, der sowohl kultur- wie neurowissenschaftliche Empathie-Konzepte zu Wort kommen lässt. Auch wenn ihre Ideen einander streckenweise ausschließen, finden sie gemeinsame Ansätze, etwa wenn die Forscherinnen klären, dass die sozialen Neurowissenschaften zu oft von "wir" und "der Mensch" sprechen, ohne den prägenden Einfluss kultureller Differenzen auf die Entwicklung von Empathie statistisch in Augenschein zu nehmen.
In der Gesamtschau bietet "Zukunft Gehirn" faszinierende Einblicke in den neuesten Stand der Neurowissenschaften, ohne kritische Fragen auszusparen.
Besprochen von Susanne Billig
Tobias Bonhoeffer, Peter Gruss (Hrsg.): Zukunft Gehirn. Neue Erkenntnisse, neue Herausforderungen - Ein Report der Max-Planck-Gesellschaft
C. H. Beck Verlag, München 2011
broschiert, 304 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 16,95 Euro
Über die Herausgeber:
Peter Gruss, geboren 1949, ist Biologe und seit 2002 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Er hat für seine wissenschaftliche Arbeit zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, darunter den "Niedersächsischen Staatspreis", den "Leibniz-Preis", den "Louis-Jeantet-Preis" für Medizin sowie den "Zukunftspreis des Deutschen Bundespräsidenten".
Tobias Bonhoeffer ist Neurobiologe und seit 1998 Direktor und Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Neurobiologie.
Das neue Buch aus dem C. H. Beck Verlag "Zukunft Gehirn", ein Report der Max-Planck-Gesellschaft, präsentiert einen gut lesbaren, aktuellen und anspruchsvollen Querschnitt durch die Hirnforschung mit spannenden Neuigkeiten über unser Gedächtnis, Spracherwerb, Hirnverletzungen, Sinneswahrnehmungen und eben auch die kognitiven Leistungen von Insekten.
Die Erforschung der Wüstenameisen ist weit entfernt von gesellschaftlich brisanten Debatten. Anders sieht es mit dem Themenkomplex freier Wille, Strafmündigkeit und Selbstverantwortung aus, der gleich in zwei Aufsätzen verhandelt wird. "Das Gehirn auf der Anklagebank" beschreibt die Versuche der Neurowissenschaften, Erkenntnisse und Daten zu gewinnen, die eines Tages vor Gericht verwertbar sein könnten. Bislang ist das Zukunftsmusik, denn weder amerikanische noch deutsche Gerichte akzeptieren neurowissenschaftliche Daten. Allerdings sind die Ziele der Hirnforscher hoch gesteckt: Lügen, krankhafte Hirnveränderungen, die sich auf die Verarbeitung von Emotionen auswirken, selbst unbewusste Regungen von Angeklagten möchten sie erkunden.
Doch welche Auswirkungen hätte es auf unser Verständnis von Unschuld und Schuld, sollten sich Selbstverantwortung und freier Wille auf biochemische Messgrößen zurückführen lassen? Das debattieren der Philosoph Julian Nida-Rümelin und der Hirnforscher Wolf Singer im Kapitel "Erregungsmuster und gute Gründe". Sie wählen die Form von Rede und Gegenrede und kommen dabei leider nur mäßig ins Gespräch - zu unterschiedlich sind die Betrachtungsweisen. Dass Wolf Singer sich das letzte Wort nimmt, obwohl alles gesagt ist, wirkt seinem Gastautor gegenüber leider recht unsouverän.
Wesentlich eleganter gelingt der Dialog unterschiedlicher Positionen in dem Kapitel "Empathie und ihre Blockaden". Die Kulturwissenschaftlerin Ute Frevert und die Neuroforscherin Tania Singer haben sich erfreulich unverkrampft zu einem gemeinsamen Text entschieden, der sowohl kultur- wie neurowissenschaftliche Empathie-Konzepte zu Wort kommen lässt. Auch wenn ihre Ideen einander streckenweise ausschließen, finden sie gemeinsame Ansätze, etwa wenn die Forscherinnen klären, dass die sozialen Neurowissenschaften zu oft von "wir" und "der Mensch" sprechen, ohne den prägenden Einfluss kultureller Differenzen auf die Entwicklung von Empathie statistisch in Augenschein zu nehmen.
In der Gesamtschau bietet "Zukunft Gehirn" faszinierende Einblicke in den neuesten Stand der Neurowissenschaften, ohne kritische Fragen auszusparen.
Besprochen von Susanne Billig
Tobias Bonhoeffer, Peter Gruss (Hrsg.): Zukunft Gehirn. Neue Erkenntnisse, neue Herausforderungen - Ein Report der Max-Planck-Gesellschaft
C. H. Beck Verlag, München 2011
broschiert, 304 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 16,95 Euro
Über die Herausgeber:
Peter Gruss, geboren 1949, ist Biologe und seit 2002 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Er hat für seine wissenschaftliche Arbeit zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, darunter den "Niedersächsischen Staatspreis", den "Leibniz-Preis", den "Louis-Jeantet-Preis" für Medizin sowie den "Zukunftspreis des Deutschen Bundespräsidenten".
Tobias Bonhoeffer ist Neurobiologe und seit 1998 Direktor und Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Neurobiologie.