Spätfolgen des Schreckens
Auch wenn die Waffen schweigen, zieht ein Krieg noch lange Schatten in das Leben der Menschen, die ihn mitgemacht haben. Angehörige, die an der Front gefallen sind, Bilder von Verstümmelungen und Vergewaltigungen, die den Menschen, die dieses Grauen erlebten, noch heute den Schlaf rauben. Von den Spätfolgen solcher Erlebnisse handelt das soeben erschienene Buch "Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit" von Hartmut Radebold.
Mehr als zweieinhalb Millionen Halb- und Vollwaisen, mehr als ein Drittel aller Kinder auf der Flucht. Neun von zehn Kindern erleben Bomben oder Kämpfe. Jedes sechste verliert ein Geschwister, jedes vierte auf Dauer oder für viele Jahre den Vater, viele auch die Mutter. Das sind für Deutschland die nackten Zahlen des Themas Kindheit im Krieg. Die Erlebnisse von damals, erläutert der Kasseler Altersforscher und Psychoanalytiker Hartmut Radebold in seinem Buch "Die dunklen Schatten der Vergangenheit" können noch im hohen Alter ihre Spuren zeigen:
Radebold:" Jemand erleidet jetzt einen Unfall, einen Überfall, eine schwere Operation und plötzlich wird alles wach, was so lange verdrängt war, weil das eine Wiederbelebung einer alten traumatischen hilflosen Situation ist. Das wären die Retraumatisierungen. Dann gibt es die Trauma-Reaktivierungen, das heißt bei Sirenengeheul, bei bestimmten Filmen, bei einem Kriegsausbruch, bei anderen Anstößen, Besuchen an einem Ort, wo etwas passiert ist, dort plötzlich wachen uralte Dinge auf mit Angst, Panik, Verzweiflung, tiefer Beunruhigung, Angstträumen, die dann eindeutig - wenn man länger mit ihnen arbeitet - sich zurückführen lassen auf entsprechende Kriegserlebnisse und -erfahrungen."
Radebold stellt Fragen, die sich viele Menschen fragen werden, und er führt den Leser anhand dieser Fragen durch sein Thema:
Dürfen wir Deutsche uns mit diesem Teil unserer Geschichte befassen? Wer war betroffen, wer nicht? Wie reagierte die Gesellschaft nach dem Krieg? Kann es Spätfolgen bei über 60-Jährigen geben? Und muss man dann über die alten Geschichten sprechen?
In seinen Antworten fasst er auf gut lesbare Art die Ergebnisse älterer und neuerer wissenschaftlicher Untersuchungen zusammen, zum Beispiel zu den Langzeitfolgen, die das Erlebnis der Bombennächte oder der Vertreibung haben:
Radebold: "... dass die, die ausgebombt worden sind und Flüchtlinge sind, dass die vermehrt, statistisch signifikant, Angstattacken und Panikattacken haben, dass die eine eingeschränkte psychosoziale Lebensqualität und Funktionsfähigkeit haben und dass diejenigen, die langfristig oder auf Dauer keinen Vater hatten, dass die psychische Müdigkeit bis hin zur Depressivität zeigen, auch statistisch signifikant."
Schätzungen zufolge, schreibt Radebold, machten etwa ein Viertel aller deutschen Kinder im Krieg lang anhaltende und mehrfache beschädigende oder traumatisierende Erfahrungen, ein weiteres Viertel kurzfristige oder einmalige. Sie erlebten Grausamkeiten, Tod, den gewaltsamen Verlust von Angehörigen, Hunger, Elend, Kälte. Ob jemand später davon seelisch krank wurde oder nicht, meint Radebold, hat etwas mit dem Alter zu tun, in dem ein Kind zum Beispiel den Vater verlor, mit der Intensität und Häufigkeit von Traumatisierungen und damit, ob andere Menschen, vor allem die Eltern, Schutz bieten konnten.
Nimmt Radebold in der ersten Hälfte seines Buches den Leser mit in die Welt, die die Kriegskinder erlebten, so wendet er sich in der zweiten Hälfte mehr an Menschen, die als Berater, Pfleger, Ärzte oder Psychotherapeuten mit alten Menschen zu tun haben. Hier wird das Sachbuch zu einem, allerdings all
gemein verständlichen Fachbuch, von dem auch die profitieren können, von denen es handelt: die alten Menschen. Oft sei es wichtig, sich im Gespräch mit einem alten Patienten behutsam der Frage zu nähern, ob vielleicht das Leiden von heute etwas mit dem Leiden von damals zu tun hat. Radebold erwähnt eine Befragung an der herzchirurgischen Abteilung des Hamburger Universitätsklinikums, bei der die Mehrheit der Patienten mit Bypass-Operationen von schmerzlichen Kriegserfahrungen zu erzählen begannen. Das Leid von damals zur Sprache zu bringen aber sei der erste Schritt, um die Seele von quälenden Gefühlen zu entlasten. Das gelte nicht nur im Gespräch mit dem Arzt, sondern auch im Gespräch mit der Familie. Radebold macht nicht die Hoffnung, sich von leidvollen Erfahrungen erlösen zu können, aber er macht Mut, sie als Teil der Lebensgeschichte annehmen zu lernen - was er selbst, der als Kind im Krieg seinen Vater verlor, schmerzlich durchleben musste:
Radebold: "Ich darf den Schriftsteller Dieter Forte zitieren: ... "Es ist einem bewusst, ... es geht einem nicht aus dem Kopf, man wird es auch nicht los, aber versteht: Es gehört zu einem." Und ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir verstehen ... es ist ein Teil unserer Geschichte. "
Hartmut Radebold: Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit. Ältere Menschen in Beratung, Psychotherapie, Seelsorge und Pflege.
Klett Cotta
19,50 Euro
Radebold:" Jemand erleidet jetzt einen Unfall, einen Überfall, eine schwere Operation und plötzlich wird alles wach, was so lange verdrängt war, weil das eine Wiederbelebung einer alten traumatischen hilflosen Situation ist. Das wären die Retraumatisierungen. Dann gibt es die Trauma-Reaktivierungen, das heißt bei Sirenengeheul, bei bestimmten Filmen, bei einem Kriegsausbruch, bei anderen Anstößen, Besuchen an einem Ort, wo etwas passiert ist, dort plötzlich wachen uralte Dinge auf mit Angst, Panik, Verzweiflung, tiefer Beunruhigung, Angstträumen, die dann eindeutig - wenn man länger mit ihnen arbeitet - sich zurückführen lassen auf entsprechende Kriegserlebnisse und -erfahrungen."
Radebold stellt Fragen, die sich viele Menschen fragen werden, und er führt den Leser anhand dieser Fragen durch sein Thema:
Dürfen wir Deutsche uns mit diesem Teil unserer Geschichte befassen? Wer war betroffen, wer nicht? Wie reagierte die Gesellschaft nach dem Krieg? Kann es Spätfolgen bei über 60-Jährigen geben? Und muss man dann über die alten Geschichten sprechen?
In seinen Antworten fasst er auf gut lesbare Art die Ergebnisse älterer und neuerer wissenschaftlicher Untersuchungen zusammen, zum Beispiel zu den Langzeitfolgen, die das Erlebnis der Bombennächte oder der Vertreibung haben:
Radebold: "... dass die, die ausgebombt worden sind und Flüchtlinge sind, dass die vermehrt, statistisch signifikant, Angstattacken und Panikattacken haben, dass die eine eingeschränkte psychosoziale Lebensqualität und Funktionsfähigkeit haben und dass diejenigen, die langfristig oder auf Dauer keinen Vater hatten, dass die psychische Müdigkeit bis hin zur Depressivität zeigen, auch statistisch signifikant."
Schätzungen zufolge, schreibt Radebold, machten etwa ein Viertel aller deutschen Kinder im Krieg lang anhaltende und mehrfache beschädigende oder traumatisierende Erfahrungen, ein weiteres Viertel kurzfristige oder einmalige. Sie erlebten Grausamkeiten, Tod, den gewaltsamen Verlust von Angehörigen, Hunger, Elend, Kälte. Ob jemand später davon seelisch krank wurde oder nicht, meint Radebold, hat etwas mit dem Alter zu tun, in dem ein Kind zum Beispiel den Vater verlor, mit der Intensität und Häufigkeit von Traumatisierungen und damit, ob andere Menschen, vor allem die Eltern, Schutz bieten konnten.
Nimmt Radebold in der ersten Hälfte seines Buches den Leser mit in die Welt, die die Kriegskinder erlebten, so wendet er sich in der zweiten Hälfte mehr an Menschen, die als Berater, Pfleger, Ärzte oder Psychotherapeuten mit alten Menschen zu tun haben. Hier wird das Sachbuch zu einem, allerdings all
gemein verständlichen Fachbuch, von dem auch die profitieren können, von denen es handelt: die alten Menschen. Oft sei es wichtig, sich im Gespräch mit einem alten Patienten behutsam der Frage zu nähern, ob vielleicht das Leiden von heute etwas mit dem Leiden von damals zu tun hat. Radebold erwähnt eine Befragung an der herzchirurgischen Abteilung des Hamburger Universitätsklinikums, bei der die Mehrheit der Patienten mit Bypass-Operationen von schmerzlichen Kriegserfahrungen zu erzählen begannen. Das Leid von damals zur Sprache zu bringen aber sei der erste Schritt, um die Seele von quälenden Gefühlen zu entlasten. Das gelte nicht nur im Gespräch mit dem Arzt, sondern auch im Gespräch mit der Familie. Radebold macht nicht die Hoffnung, sich von leidvollen Erfahrungen erlösen zu können, aber er macht Mut, sie als Teil der Lebensgeschichte annehmen zu lernen - was er selbst, der als Kind im Krieg seinen Vater verlor, schmerzlich durchleben musste:
Radebold: "Ich darf den Schriftsteller Dieter Forte zitieren: ... "Es ist einem bewusst, ... es geht einem nicht aus dem Kopf, man wird es auch nicht los, aber versteht: Es gehört zu einem." Und ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir verstehen ... es ist ein Teil unserer Geschichte. "
Hartmut Radebold: Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit. Ältere Menschen in Beratung, Psychotherapie, Seelsorge und Pflege.
Klett Cotta
19,50 Euro