Späte Entschädigung für KZ-Opfer

Wolfgang Wippermann im Gespräch mit Susanne Führer · 07.08.2012
Jahrelang stritt die Witwe eines Sinto und KZ-Opfers mit dem Land NRW über eine Hinterbliebenenrente. Nun einigte man sich rückwirkend auf monatlich 600 Euro. Ein "Skandal", findet der Historiker Wolfgang Wippermann. Sinti und Roma würden in der Bundesrepublik schon immer benachteiligt.
Susanne Führer: Heute wurde vor dem Landgericht Düsseldorf ein jahrelanger Rechtsstreit wegen einer Witwenrente beigelegt. Der verstorbene Ehemann war Auschwitz-Überlebender und bezog wegen seiner als verfolgungsbedingt anerkannten Gesundheitsschäden eine Opferrente. Der Witwe aber hatte die Bezirksregierung Düsseldorf die Witwenrente versagt, das war im Jahr 2009, denn das Herzleiden ihres verstorbenen Mannes habe gar nichts mit der KZ-Haft zu tun, befand das Bezirksgericht nachträglich.

Heute nun lenkte die Bezirksregierung ein. Die Witwe bekommt eine lebenslange Beihilfe von monatlich 600 Euro. Über diesen Fall möchte ich nun mit Professor Wolfgang Wippermann sprechen. Er lehrt neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin, und er hat auch Gutachten fürs Gericht geschrieben. Herzlich Willkommen im Radiofeuilleton, Herr Wippermann.

Nach Ihrer Erfahrung, ist dieser jahrelange Rechtsstreit um diese Hinterbliebenenrente und diese ursprüngliche Entscheidung der Bezirksregierung Düsseldorf, ist das ein Einzelfall oder kommt so was häufiger vor?

Wolfgang Wippermann: Nein, leider nicht. Ein Einzelfall ist es nicht, vor allem bei der Gruppe, die Sie nicht erwähnt haben. Denn die Gruppe der Sinti und Roma, und die sind systematisch benachteiligt worden …

Führer: Ja, genau, das wollte ich später sagen. Also der Verstorbene war ein Sinto, ja.

Wippermann: Also normalerweise, wenn man … die Täter sind in der Regel nicht benachteiligt worden, sie sind bevorteilt worden, aber die Opfer sind benachteiligt worden.

Führer: In der Medienberichterstattung vor diesem Prozess heute wurde ja häufig also jetzt diese Opferrente den Renten der Witwen von SS-Angehörigen gegenübergestellt. Ist das eigentlich korrekt? Handelt es sich da um denselben Tatbestand oder um dieselbe Leistung, muss man sagen?

Wippermann: Nein, es ist also nicht korrekt und die Leistung war für die Täter immer höher. Also, Herr Freisler war Staatssekretär, Vorsitzender des Volksgerichtshofs, und die Witwe hat eine sehr hohe Rente bekommen. Die Opferrenten sind sehr niedrig gewesen, und in diesem Fall 600 Euro. Das ist relativ gering.

Führer: Ich meine das jetzt sozusagen, weil es gibt ja sozusagen eine normale Rente und eine, sozusagen, Extra-Rente in diesem Fall.

Wippermann: Ja, das sind hier zwei Renten, von denen wir reden, jetzt für die Opfer. Nach dem Bundesentschädigungsgesetz, das für Schäden an Leib und Gesundheit, am Tod und auch die Hinterbliebenen entschädigt werden. Man hat das das dumme Wort "Wiedergutmachung" eingeführt. Natürlich kann man das nicht wiedergutmachen. Aber das ist etwas anderes. Also es ist neben der normalen Rente, die man bekommt, ist hier eine Zusatzrente. Das hat es übrigens auch in der DDR gegeben.

Führer: Jetzt kommen wir mal zurück zu diesem aktuellen Fall. Sie haben es erwähnt, der Verstorbene war ein Sinto. Sinti und Roma wurden ja, was immer noch weniger bekannt ist, von den Nazis ebenfalls verfolgt und auch vernichtet, ermordet. Und sie hatten es besonders schwer nach '45, Entschädigung zu bekommen. Warum eigentlich?

Wippermann: Das hatte mehrere Gründe, und vor allen Dingen, weil es Sinti und Roma waren, die wir im Allgemeinen als Zigeuner bezeichnen. Das heißt, es war also vorurteilshaft von allen Seiten mit ihnen umgegangen worden. Es war zunächst so, dass im Bundesentschädigungsgesetz überhaupt gesagt wurde, nur deutsche Staatsbürger bekommen eine Wiedergutmachung. Das konnte man nicht durchsetzen gegenüber den Juden und hat dann gesagt, also die Juden in Osteuropa gehören zum deutschen Kulturraum und kriegen daher auch Wiedergutmachung.

Bei den Sinti und Roma galt das nicht, also nur sehr wenige Sinti und Roma außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches haben das bekommen. Und dann hat es auch verschiedene Fälle, und in denen habe ich auch ein Gutachten gegeben, dass eindeutig deutschen Staatsbürgern, Sinti und Roma, die Staatsbürgerschaft, die ihnen schon in der NS-Zeit entzogen worden war, noch einmal entzogen worden ist in der Bundesrepublik.

Das ist eine Kette von Ungerechtigkeiten, die dort passiert ist, und das Schlimmste war, dass unser oberstes Gericht, der Bundesgerichtshof, 1956 entschieden hat, dass die Sinti und Roma gar nicht verfolgt worden sind. Jedenfalls nicht bis zur Einlieferung nach Auschwitz. Begründung war, sie seien nicht aus rassischen Gründen verfolgt worden, sondern es waren alles Asoziale gewesen. Ein unfassbares Urteil …

Führer: Alles Asoziale, und deswegen dürfe man sie auch … in Lager sperren oder …

Wippermann: Ja, die Regelung war nur aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen, und die eindeutige und auch nachweisbare rassistisch motivierte Verfolgung der Sinti und Roma wurde hier einfach geleugnet und einfach gesagt, das sind alles Asoziale, und dann eben, Asoziale, die sperrt man eben einfach ins KZ. So ist es. Das war ein schöner Beitrag zur Geschichte des Rechtsstaates Bundesrepublik. Ich sage "Rechtsstaat Bundesrepublik" und nicht "Unrechtsstaat DDR".

Führer: Wie war es denn im "Unrechtsstaat", wir hören die Anführungszeichen jetzt, DDR denn geregelt?

Wippermann: Da waren einmal wenige Sinti und Roma, aber die haben auch Renten bekommen, Extra-Renten als Opfer des Faschismus. Die waren weniger als die für Kämpfer gegen den Faschismus, also Widerstandskämpfer, aber immerhin, sie haben das bekommen. Und eine weitere Regelung war, dass sie sozial angepasst sein mussten. Also sich so verhalten mussten, wie das der Staat wollte.

In einigen Fällen war die – es ist sehr merkwürdig – DDR sogar besser, nämlich das Zigeunerlager hier in Berlin-Marzahn, das ist schon früher anerkannt worden als Ort der Verfolgung, und die Inhaftierung dort wurde auch anerkannt insofern, als das eben Opfer des Faschismus waren. Ich war dabei, es war hier mühselig, in Westberlin durchzusetzen, dass Marzahn, das Zigeunerlager Marzahn ein Zwangslager war, weshalb die Haft dort entschädigungsberechtigt sein musste, also dass man dafür Geld bekam. Und da musste ich leider sagen: Drüben, jenseits von Mauer und Stacheldraht, ist es besser, und das kann doch so nicht sein.

Führer: Der Historiker Wolfgang Wippermann ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Sie haben jetzt dieses Urteil des Bundesgerichtshofs von 1956 erwähnt. Ich nehme mal an, das ist doch irgendwann revidiert worden?

Wippermann: Ja, teilweise '63, und da hat man gesagt, na ja, also ab '38 sind sie verfolgt worden, aber vorher nicht. Man stelle sich vor, man hätte bei den Juden gesagt, also ihr seid erst seit '38 verfolgt worden, damit hätte man gesagt, die Nürnberger Gesetze waren völlig rechtens. So weit ist man hier gegangen. Und dann sind auch viele Zeiten verstrichen worden, das heißt, sie konnten die Anträge nicht mehr stellen. Und es gab dann solche Gnadenerlasse, und überhaupt, das ganze Verfahren war wirklich unwürdig, schrecklich. Also, man muss sich da tatsächlich schämen. Und es war insgesamt keine Wiedergutmachung, sondern wider die Gutmachung.

Führer: Warum war es unwürdig?

Wippermann: Weil die Einzelnen nachweisen mussten, auch in diesem Fall, den wir hier besprechen, dass tatsächlich Schäden vorlagen. Bei diesem Fall, über den wir eben gesprochen haben, der war in Auschwitz, in Buchenwald und in Bau-Dora, wo also dort die V2-Raketen von und für Wernher von Braun produziert wurden …

Führer: Und er hat seit 1957 eine Entschädigung erhalten.

Wippermann: Und er hat das dann bekommen, selbstverständlich, kann man sagen, die Bedingungen waren also absolut unmenschlich. Und jetzt haben, und das war der Fall – der Herr ist schon gestorben – wollten sie also posthum diese Gründe anzweifeln, dass er hier verfolgt wurde und Schäden hatte. Also das heißt, sie wollten ihm nachträglich gewissermaßen noch die Rente entziehen. Also, da fehlten mir nun wirklich die Worte, und man konnte man nur noch schreien vor Entsetzen.

Führer: Und Sie vermuten dahinter auch ein Motiv des Rassismus?

Wippermann: Ja, wenn man bedenkt, dass die …

Führer: Oder ist das nicht so das Übliche, Behörden haben immer zu versuchen, die Ausgaben der öffentlichen Hand gering zu halten?

Wippermann: Ja, wie auch immer. Aber auch Behörden und Beamte sollten mal ein bisschen nachdenken und überlegen, was sie tun. Aber hier ist doch zu vermuten, dass die Vorurteilsbereitschaft sehr groß war. Wenn wir bedenken, dass über 60 Prozent der deutschen Mehrheitsbevölkerung antiziganistisch, feindlich gegenüber den Sinti und Roma eingestellt sind – sie liegen damit an der Spitze der Hassliste – so ist es kein Wunder, dass dann dieser Antiziganismus auch bei Beamten verbreitet ist. Und die haben gesagt, das ist eben nur ein Zigeuner. Und dem wollen wir doch nicht Geld geben.

Führer: Wie müsste denn das Entschädigungsrecht geändert werden Ihrer Ansicht nach, damit es nicht zu diesem unwürdigen Verfahren kommt?

Wippermann: Ja, das ist natürlich sehr schwierig, weil es meistens in diesem Verfahren … und da hat man den Behörden auch zu viel Spielraum gelassen, dass die dort so unwürdig mit den Opfern umgegangen sind, auch übrigens mit jüdischen Opfern. Also, dass ist bürokratische Schlamperei, Willkür, Vorurteilsbereitschaft und anderes. Was man nun auch weiter sagen muss, ist, dass der Kreis erweitert werden muss. Das heißt, dass eben nicht nur die entschädigt werden, die deutsche Staatsbürger waren oder in den Grenzen des Deutschen Reiches von 1937, sondern auch andere. Das ist immer noch nicht geschehen, und dann fehlen neben den Sinti und Roma auch noch weitere Opfergruppen. Und wir haben ja erst vor Kurzem erlebt, dass die Zwangsarbeiter eine minimale Entschädigung bekommen haben, das waren also wirklich Peanuts, und das nur auf dem Wege der Gnade.

Das heißt, wir haben hier die Vergangenheit weder bewältigt noch aufgearbeitet, und wir sind den Opfern nicht gerecht geworden. Und das ist unsere Schuld, die wir nach '45 geboren sind. Wir konnten nichts dazu, was vor '45 geschah, aber wir haben versagt bei der Aufarbeitung dieser Vergangenheit in dieser Hinsicht und bei der Hilfe für die Opfer.

Führer: Nun ist die Bundesrepublik Deutschland aber ja gerade besonders stolz auf die Wiedergutmachung, die sie geleistet hat. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann meinen Sie, jenseits der feierlichen Staatsakte fehlt es aber den Behörden, die ja den Spielraum haben, an Großmut oder vielleicht auch an nachgetragener Reue?

Wippermann: Beides. Also ich kann nicht verstehen, dass wir auf unsere Wiedergutmachung so stolz sind. Das ist ein Missverständnis. Schon der Begriff ist doch Wahnsinn. Kann man so etwas wiedergutmachen? Die Endlösung der Judenfrage wird wiedergutgemacht. Was ist da in den Leuten vorgegangen, die so etwas formuliert haben? Und dann war eben die praktische Durchführung einfach so schlecht. Also wie es gelungen ist, zu den Leistungen oder Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik die Wiedergutmachung zu rechnen, ist mir wirklich schleierhaft, und darüber habe ich auch gerade wieder einen Artikel geschrieben.

Führer: Aber das heutige Urteil begrüßen Sie? Die Witwe bekommt ja nun eine Hinterbliebenenrente?

Wippermann: Ja … begrüßen. Also, da kann man nur sagen, ja also, war es denn überhaupt notwendig, so etwas zu machen. Das ist doch der Skandal. Der Skandal ist, dass es so einen Fall geben musste. Und nun muss ich noch mal was Positives sagen: Aber es gibt ja Gott sei Dank in unserem Land nicht nur Bürokraten, es gibt auch Journalisten, und die haben das aufgetaggt und über die muss man auch mal was Positives sagen. Fällt mir schwer als Historiker, aber es ist manchmal notwendig.

Führer: Das ist doch schön. Da haben wir den Historiker Wolfgang Wippermann doch noch dazu bekommen, was Positives zu sagen. Danke für Ihren Besuch im Studio, Herr Wippermann!


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