Späte Entdeckung

22.07.2005
Für Kenner der tschechischen Lyrik war es eine literarische Sensation: 1979 erschien beim tschechischen Exilverlag "68 Publishers" in Toronto der Gedichtband "Alte Wohnsitze" von Ivan Blatný. In der Tschechoslowakei war Blatný seit Jahrzehnten totgeschwiegen worden. Er galt als Verräter, weil er nach der kommunistischen Machtübernahme im März 1948 nicht von einem Aufenthalt in England in die Tschechoslowakei zurückgekehrt war.
Blatný lebte seit Mitte der 50er Jahre bis zu seinem Tod 1990 in verschiedenen englischen Nervenheilanstalten. Die Diagnose lautete paranoide Schizophrenie: Blatný fürchtete zeitlebens, von den Kommunisten entführt zu werden. Viele Gedichte, die er in den Kliniken verfasste, wurden achtlos weggeworfen. Schließlich schrieb eine aufmerksame Krankenschwester Literaturgeschichte: Mit der Zustimmung eines Cousins ihres Patienten begann sie Mitte der 70er Jahre, die Verse aufzuheben und schickte sie nach Toronto, wo der Bohemist und Exillyriker Antonin Brousek die Sammlung für den kanadischen Exilverlag zusammenstellte.

Ivan Blatný wurde 1919 in Brünn als Sohn des Schriftstellers und Dramatikers Lev Blatný geboren. Mit 21 Jahren legte er einen schwärmerisch idealistischen Lyrikband vor. In den 40er Jahren folgten drei weitere Bücher, die seinen Ruf als einer der großen Lyriker seiner Generation festigten. Er galt als Melodiker und Stimmungsmaler, dessen Leichtigkeit und Liedhaftigkeit durchaus mit Jaroslav Seifert zu vergleichen war. Der zweite Band "Melancholische Spaziergänge" schlug jedoch auch andere Töne an: Enge, Einsamkeit und Fremdheit. Diese existentialistischen Motive weisen bereits auf die Nähe zur "Gruppe 42" hin. Die antiideologischen Gedichte zeigen, inspiriert durch amerikanische Dichter wie Walt Whitman, eine Faszination für die Ästhetik des Alltags und der Großstadt. Spätestens mit dem dritten Band "Dieser Abend" (1945) wird Blatnýs Zugehörigkeit zur "Gruppe 42" deutlich, der etwa Jiri Kolar angehörte. Den Kommunisten galt die Künstlervereinigung als dekadent und kosmopolitisch.

Jahrzehnte später knüpft der Band "Alte Wohnsitze" an die Lyrik der 40-er Jahre an. Die Gedichte sind ebenso lebendig und melodisch, assoziativ und metaphernreich. "Alte Wohnsitze" ist eine Rückkehr in die eigene Kindheit und Jugend und an die Orte, an denen Blatný bis zu seiner Emigration 1948 gelebt und gearbeitet hat: Brünn und seine Vororte, Mähren und Prag. In den Gedichten vergegenwärtigt er sich das Land und die Sprache, die er durch die Emigration verloren hat: "Hin und hergehen und langsam zurückkehren / wie die Zeit zurückkehrt, wie die Ferne zurückkehrt / nostalgisch wie die Marken auf Kuverts." Die Vergangenheit besitzt mythischen Charakter. Frühlings- und Naturmotive, sonnendurchflutete Bilder und Szenen spielen eine Rolle – die Atmosphäre eines Fußballspiels, die Lieblingskneipe seiner Großmutter, das Bestellen einer Speise auf Tschechisch. Der Alltag als Inspirationsquelle war schon in den 20er Jahren charakteristisch für den Poetismus und dessen "Kunst des Lebens".

Blatnýs "Erinnerungsarchipel", wie es die Übersetzerin Christa Rothmeier in ihrem Nachwort nennt, umfasst auch seine künstlerische Vergangenheit, die von der Gruppe 42, dem Poetismus und dem Surrealismus geprägt war. Neben Dichter- und Kritikernamen stehen Eigenzitate aus den frühen Gedichtbänden. Blatný mischt dies alles mit Realien aus seinem Leben in England. Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander. Formal verwendet Blatný in seinen Gedichten sowohl den rhythmisch-freien Vers als auch regelmäßige Paar- und Kreuzreime, die als Reminiszenz an seine Jugend und eine damals wichtige Literaturzeitschrift zu verstehen sind: "Ich möchte Gedichte schreiben für den ‚Zvon’ / altmodisch gereimte, nette..."

Motiviert von der unerwarteten Herausgabe der "Alten Wohnsitze" hat Blatný unablässig weitere Gedichte mit dem Ziel der Veröffentlichung geschrieben - zum Teil nachts auf der Toilette, dem einzigen Raum in der Anstalt, der zu dieser Zeit beleuchtet wurde. So konnte 1987, ebenfalls bei "68 Publishers", der Band "Hilfsschule Bixley" erscheinen. Noch stärker als in "Alte Wohnsitze" handelt es sich um einen endlosen inneren Monolog, eine Text-Collage ohne Anfang und Ende, in der sich die Sprachen zu einem babylonischen Stimmengewirr vermengen.

Vor fast genau 15 Jahren, am 5.8. 1990, ist Ivan Blatný in England gestorben. Lange nach seinem Tod ist nun erstmals auch in deutscher Sprache eine ungewöhnliche Dichterpersönlichkeit zu entdecken.

Ivan Blatný: "Alte Wohnsitze"
Gedichte
Tschechisch/Deutsch
Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Christa Rothmeier
Edition Korrespondenzen. Wien 2005.
192 Seiten, 22,20 Euro