Späte Chance auf ein neues Leben

Von Michael Stang · 12.04.2009
Viele Dialysepatienten müssen lange auf eine Spenderniere warten. Gerade ältere Menschen jenseits der 70 stehen nicht oben auf der Warteliste. Doch auch ihre Situation ist nicht aussichtslos. Es gibt ein nur wenig bekanntes Programm, das alten Menschen die Chance auf ein neues Leben bietet – mit einer Nierenspende von einem Altersgenossen.
Das mittlere Alter eines Dialysepatienten in Deutschland liegt bei etwa 70 Jahren. Wer eine Spenderniere braucht und über 65 Jahre alt ist, wartet oft vergeblich. Um dem Organmangel entgegenzuwirken, entwickelte Ulrich Frei 1999 das European Senior Programm – kurz ES-Programm. Es wird auch als Old-to-Old-Programm bezeichnet und ist Teil des Organ-Verteilerverbunds von Eurotransplant. Das Prinzip ist einfach, sagt der Direktor der medizinischen Klinik für Nephrologie der Berliner Charite. Vollendet ein Patient das 65. Lebensjahr, rutscht er in das Programm. Dort hat er zusätzlich die Chance auf eine Niere, auch wenn die von einem Altersgenossen stammt.

"Hypothese eins war: Es gibt noch eine ganze Menge guter Nieren jenseits von 65. Zweite Hypothese war, dass die Verkürzung der sogenannten Ischämiezeit, also dieser Verpflanzungszeit, auf alte Nieren einen positiven Effekt hat auf die Initiale Funktion und die dritte Hypothese war, dass ältere Patienten weniger immunologisch reagieren."

Mithilfe des Programms sollten nicht nur mehr Organe verpflanzt werden, sondern auch noch schneller. Da bei alten Empfängern eine 100-prozentige Gewebeübereinstimmung vernachlässigt werden konnte – so die Vermutung, waren regionale Transplantationen möglich. Das Programm hatte Erfolg. Heute werden viele der sogenannten Mindernieren transplantiert, sagt Urologe Markus Giessing von der Charite Berlin. Auch wenn ein Patient nur eine "alte" Niere bekommt, sei der Erfolg da.

"Und wenn er ein Organ bekommt, das ihn zehn Jahre von der Dialyse fernhält, bei einer guten Lebensqualität, dann hat er all das erreicht, was er maximal eben erreichen kann und das ist eben möglicherweise gewährleistet durch eine Spenderniere eines in gutem Zustand befindlichen fünfundsiebzigjährigen Spenders."

Für eine Organspende gibt es keine Altersgrenze, allein der Zustand des Organs ist entscheidend. Helga Stödter ist die Vorzeigepatientin des Programms. 2003 kam die Hamburger Juristin mit 81 Jahren auf die Warteliste - lange musste sie aber nicht warten.

"Schon am 1. März des folgenden Jahres, also 2004, bekam ich einen Anruf nach Essen zu kommen, dorthin sei eine Niere für mich unterwegs. Und dann bin ich am 1. März, das heißt also acht Tage vor meinem 82. Geburtstag in Essen transplantiert worden."

Mit damals fast 82 und heute 87 Jahren ist Helga Stödter die älteste Nierentransplantierte Europas. Nicht ihr Geburtsdatum hat den Ausschlag für die Operation gegeben, sondern ihr biologisches Alter. Nach der Operation kam die nächste Überraschung.

"Als ich aufwachte hatte man mir gesagt: Sie haben nicht nur eine Niere bekommen, sondern sie haben zwei Nieren bekommen von derselben Person. Und beide arbeiteten von da an bis zum heutigen Tage so wie es sein soll, es könnte also gar nicht besser sein."

Die Nieren stammen von einer 81-jährigen verstorbenen Spenderin. Mehr Informationen gibt es über das anonymisierte Transplantationssystem nicht. Das Old-to-old Programm gibt es seit zehn Jahren. Kürzlich sind die ersten 1200 Transplantationen von einem Expertenteam untersucht worden. Kernfrage war, ob die kurze Transportzeit wichtiger ist als die Gewebeübereinstimmung, sagt Adina Voiculescu von der Klinik für Nephrologie in Düsseldorf.

"Wir haben die Transplantation aller unserer alten Patienten miteinander verglichen, das heißt auch die älteren Patienten, die im regulären Programm transplantiert wurden, die im ES-Programm transplantiert wurden und auch die eine Lebendspende-Transplantation erhalten. Nach fünf und sogar acht Jahren haben wir ähnliche Transplantat- und Patienten-Überleben."

Obwohl die Gewebetypen von Spender und Empfänger nicht immer übereinstimmten, haben viele Patienten die neue Niere gut vertragen. Jedoch war die Annahme, dass alte Patienten nur noch ein schwaches Immunsystem haben, falsch. Es gab mehr Abstoßreaktionen als erwartet. Dagegen haben sich die Wartezeiten auf einen Spenderniere um rund zwei Jahre verkürzt. Eine Transplantation bringt aber nicht nur den Patienten Vorteile, sie sind auch volkswirtschaftlich gesehen günstig. Trotz der hohen Kosten für Transplantation, Krankenhausaufenthalte und Medikamente sind die Krankenkassen schon nach zwei Jahren im Plus. Ulrich Frei von der Berliner Charite ist stolz auf sein Programm. In Beratungsgesprächen habe sich auch noch kein Patient beschwert, dass es im Old-to-old Programm nur Nieren gibt, die genauso alt sind wie die Empfänger.
"Ich kenne viele Patienten, die gesagt haben 'Doktor, im September werde ich 65 und dann gibt es eine Niere'. Und es stimmt, dass sie rasch nach dem 65. Geburtstag dann transplantiert wurden."