Soziologe zu Sanktionen bei Hartz IV

Hilfe hilft, Strafen nicht

07:33 Minuten
Das Bild zeigt ein Graffiti in Berlin, das die Hartz-IV-Gesetze kritisiert.
Street Art in Berlin: Eindrücklicher Kommentar zu den Hartz-IV-Gesetzen. © picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg
Martin Diewald im Gespräch mit Dieter Kassel · 06.11.2019
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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV sorgt für die nächste Grundsatz-Debatte über unser Sozialsystem. Der Soziologe Martin Diewald plädiert für mehr Prävention und psychologische Hilfen. Strafen führten nirgendwo hin.
Kaum hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass Leistungskürzungen für Hartz-IV-Bezieher teils verfassungswidrig sind, beginnt erneut eine Grundsatz-Debatte über das Sozialsystem. Juso-Chef Kevin Kühnert will auf dem SPD-Parteitag im Dezember über eine Abschaffung aller Hartz-IV-Sanktionen abstimmen lassen. Und auch Grünen-Chef Robert Habeck fordert eine grundlegende Reform. Das System müsse vom Kopf auf die Füße gestellt werden.

Nicht dumm, nicht demotiviert, nicht faul

Martin Diewald, Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Bielefeld, sieht das ähnlich. Benachteiligten Menschen sei nicht damit geholfen, deklassiert zu werden, sagt er. Es gebe keinerlei Hinweise darauf, dass Strafe im Hartz-IV-System zu "irgendetwas Gutem" geführt hätte. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sieht er dementsprechend als einen "Appell für Reformen".
Deutschland habe im internationalen Vergleich verhältnismäßig viele Langzeitarbeitslose, kritisiert der Soziologe. Das liege vor allem daran, dass in jedem Jahrgang rund 15 Prozent der Schüler "in die Aussichtslosigkeit" geschickt werde.
Doch wer im Bildungssystem scheitere, keinen Schulabschluss mache oder keinen Ausbildungsplatz bekomme, sei nicht von Grund auf dumm, demotiviert oder faul, betont Diewald. Es gebe auch Lebenskrisen - und jungen Menschen in Not werde "nicht besonders geholfen". Hier müsse viel mehr in Prävention investiert werden.
Auch in den Jobcentern wünscht sich Diewald mehr Empathie. Hier müsse es unbedingt psychologische Betreuung für schwierige Fälle geben. Dass bei Schwierigkeiten mit Hartz-IV-Empfängern "immer Faulheit unterstellt wird", sei ein "fataler Fehler".

Hilfe und Unterstützung sind angesagt

"Es gibt diese Bilder von der Hängematte, es gibt Drückeberger-Metaphern, die dafür verwandt werden. Das kann ja sein, dass Leute kaum noch zu erreichen sind von der Motivation her. Aber sind die gleichzeitig schuld? Das ist - finde ich - eine Gleichsetzung, die ist überhaupt nicht erlaubt. Und die wird auch von wissenschaftlichen Untersuchungen in keinster Weise unterstützt."
Misserfolge drückten bei allen Menschen "schwer aufs Gemüt", sagt Diewald: "Und hier ist schlichtweg Hilfe und Unterstützung angesagt."
(ahe)
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