Soziologe warnt vor Verflachung der Öffentlich-Rechtlichen

Moderation: Joachim Scholl · 07.03.2013
Nach dem Krieg sollte das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem eine demokratische Gesinnung verbreiten und totalitäre Tendenzen verhindern. Werden die Sender diesem Auftrag heute noch gerecht? Der Soziologe Sighard Neckel hat seine Zweifel und warnt vor "besorgniserregenden Entwicklungen".
Joachim Scholl: Nach 1945 sollte es also anders sein, ein anderer Rundfunk entstehen, von Gremien kontrolliert, parteipolitisch ausgewogen, der Staat darf sich nicht einmischen, das war die Geburtsstunde unseres öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems, das demokratische Gesinnung verbreiten, totalitäre Tendenzen verhindern sollte. Bis heute gilt dieser Auftrag, aber kann er noch erfüllt werden in einer Zeit, in der Kritiker von einer Entwicklung unserer Gesellschaft hin zur Postdemokratie sprechen? Einer, der sich diese Sorgen macht, ist der Soziologe Sighard Neckel, Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Frankfurt am Main und jetzt bei uns im Studio. Guten Tag, Herr Neckel!

Sighard Neckel: Hallo!

Scholl: Sie haben in etlichen Schriften und Interviews gemahnt, gewarnt, dass unsere Demokratie sich derzeit ungut wandelt. Inwiefern?

Neckel: Es existieren noch die demokratischen Institutionen, die wir kennen, und teilweise werden ihre Befugnisse auch ausgebaut, aber wir sehen immer mehr, dass in vielen gesellschaftlichen Bereichen die Politik ihre Selbstständigkeit, ihre Eigenständigkeit, ihre Unabhängigkeit verliert, vor allen Dingen im Verhältnis zur Wirtschaft. Die Politik wird ressourcenabhängig, die Politik ist abhängig heute von den Finanzmärkten, das ist das eine. Das andere ist, dass aber auch politische Konzepte heute vielfach übernommen werden von den Richtlinien, von den Instrumenten, die verwendet werden, um im wirtschaftlichen Wettbewerb erfolgreich zu sein. Diese Art von Vermarktlichung der Politik ist etwas, was man mit Sorge verfolgen kann, weil dadurch die Trennung zwischen Politik und Wirtschaft etwa weniger zu beobachten ist und weniger stattfindet, als man sich das eigentlich wünschen sollte.

Scholl: In diesem Zusammenhang ist Ihnen wahrscheinlich der Satz von Angela Merkel oder die Formulierung von Angela Merkel von der "marktkonformen Demokratie" besonders garstig aufgestoßen. Sie bezeichnen, Herr Neckel, diese Entwicklung sogar harsch als Refeudalisierung. Das heißt, es entstehen eigene, von demokratischen Prozessen abgekoppelte Kasten, die Finanzbranche wäre solch eine, die Eliten der Wirtschaftsführer. Welche Rolle spielen die Medien dabei?

Neckel: Wir können uns vielleicht noch mal vergegenwärtigen, wie eigentlich der Zustand vormoderner Gesellschaften war, als wir noch nicht von der modernen bürgerlichen Gesellschaft gesprochen haben. In diesen Gesellschaften war Staat und Gesellschaft identisch, es gab keine Öffentlichkeit, die sich dazwischenschalten konnte. Auch die private Machtausübung war mit dem Staat identisch und vom Machthaber gewissermaßen nicht zu trennen. Die moderne Demokratie hat Institutionen dazwischengeschaltet, und die moderne Demokratie hat die Sphäre der Öffentlichkeit als Willensbildung dazwischengeschaltet, zwischen Staat und Gesellschaft, und heute erleben wir tatsächlich, dass sich wirtschaftliche Macht auch gerade auf den Medienmärkten in eine große und bedeutende Stellung in diesen Medienmärkten übersetzen kann und von dieser bedeutenden Stellung der Medien dann auch politische Herrschaft angestrebt wird. Das Paradebeispiel für unsere europäische Situation ist natürlich das System Berlusconi, wo wir eben diese Triade haben von wirtschaftlicher Macht, von medialer Beeinflussung, medialer Monopolstellung und politischem Machtanspruch. Und das ist tatsächlich eine Situation und eine Entwicklung, die die Trennung der Sphären zwischen Staat und Gesellschaft, und die die Selbstständigkeit der Öffentlichkeit aufhebt.

Scholl: Wie ist das in unseren Breiten? Also dass hier die privaten Medien auch konformisierend wirken, also sozusagen mit dem Bestehenden mitgehen und auch mit diesen Entwicklungen, liegt ja auf der Hand, weil sie eben auch allein wirtschaftlichen Interessen unterworfen sind. Inwieweit gilt Ihr Befund aber auch für das deutsche öffentlich-rechtliche System? Ist das auch schon derart angenagt?

Neckel: Ja, da gibt es schon besorgniserregende Entwicklungen. Es ist so, dass die Programmdirektoren und Intendanten vieler Rundfunkanstalten heute die Radioformate von Radioberatern entwickeln lassen, die ihr Handwerk gelernt haben bei den kommerziellen Anbietern, und die dann eben sehr stark darauf ausgerichtet sind, wie man im medialen Wettbewerb die Einschaltquote erhöhen kann und die Werbeeinahmen verbessern kann. Und diese Maßstäbe und übrigens auch die Instrumente, auch die wissenschaftlichen Instrumente der Medienforschung werden dann übernommen für den öffentlich-rechtlichen Bereich und dort zur eigenen Handlungsmaxime erklärt.

Das führt in der Folge dazu, dass man immer mehr die Erfolgskriterien des kommerziellen Rundfunks übernimmt für den öffentlich-rechtlichen Bereich, und damit die Selbstständigkeit und die Selbstständigkeit des Kulturauftrags, mit dem das Rundfunkwesen eben ausgestattet wurde, als ein Resultat der Erfahrung aus der Vergangenheit, dass sich das mehr und mehr verflüchtigt. Und das sehen wir ja auch schon im Fernsehen, wir können manchmal nicht mehr unterscheiden, ob wir jetzt ein öffentlich-rechtliches Programm sehen oder ein privates Programm, weil bestimmte Formate sich allgemein verbreitet haben, die ihre Geburtsstunde hatten bei den kommerziellen Anbietern.

Scholl: Nun dürfte jeder Intendant, der uns jetzt zuhört, Ihnen bildlich ins Kreuz treten, Herr Neckel, und sagen, wir hier im öffentlich-rechtlichen System halten doch mit unserer Berichterstattung, mit unseren Diskussionen, mit unseren Diskursen wirklich an diesem Auftrag fest, und auch Politiker beschwören bei jeder Gelegenheit die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Systems für unsere Demokratie. Was antworten Sie da?

Neckel: Nun, Sonntagsreden werden überall in unserer Gesellschaft viel gehalten. Man kann, glaube ich, darauf verweisen, welche Techniken einfach angewendet werden. Und es ist unbestreitbar, dass im letzten Jahrzehnt gerade auch die großen sogenannten Massenwellen des öffentlichen Rundfunks mit denselben Instrumentarien verändert worden sind, die auch private, kommerzielle Anbieter verwendet haben, damit man zum Beispiel dieses schöne Radio-Mood-Management hinbekommt, das heißt also, das Radio formatiert als ein problemloser Alltagsbereiter, der eine ausgeglichene Stimmung hervorbringen soll. Ob das tatsächlich dem entspricht, was man sich einmal von dem Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks versprochen hat, da bin ich mir nicht so sicher.

Scholl: Was würden Sie sich denn von den öffentlich-rechtlichen Medien wünschen, Herr Neckel? Was müsste geschehen, um eine Redemokratisierung in Ihrem Sinne, in diesem Auftragssinne wieder einzuleiten?

Neckel: Es kommt darauf an, bestimmte Maximen und Voraussetzungen nicht einfach so kritiklos zu übernehmen, und das ist zum Beispiel bei den modernen Massenwellen der Fall, wo gesagt wird, wir müssen einfach dafür Sorge tragen, dass die Menschen Radio hören und sich dadurch wohlfühlen und glücklich werden. Man soll die Menschen durch das Radio nun sicherlich nicht unglücklich machen, aber wenn man das Radio derartig zielgerichtet darauf ausrichtet, nur noch gute Stimmung zu verbreiten, dann verflacht das Medium, übrigens auch für diejenigen, die das ewige Middle of the Road im Programm dann auch nicht mehr hören möchten.

Scholl: Radio im Auftrag der Demokratie – das war Sighard Neckel, Soziologe an der Goethe-Universität zu Frankfurt und derzeit auch präsent beim großen Kongress in Berlin Radio Zukunft. Heute Vormittag hat er dort seinen Vortrag gehalten – ich danke Ihnen für Ihren Besuch, Herr Neckel, und dieses Gespräch!

Neckel: Sehr gerne!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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