Soziologe über die Zukunft der SPD

Dringend gesucht: die Grundidee von Gerechtigkeit

07:43 Minuten
Die SPD-Politiker Lars Klingbeil, Carsten Sieling, Olaf Scholz, Katarina Barley und Udo Bullmann sitzen bei einer Wahlkampf-veranstaltung in der ersten Reihe der Zuhörer
Die SPD müsse ihr Spitzenpersonal anders auswählen, meint der Soziologe Oliver Nachtwey. Neue Personen müssten auch die Chance haben sich zu etablieren. © imago / photothek / Florian Gaertner
Oliver Nachtwey im Gespräch mit Ute Welty · 14.06.2019
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Sozialdemokratische Ideen sind heute gefragter denn je, sagt der Soziologe Oliver Nachtwey. Doch die SPD beantworte nicht, was soziale Gerechtigkeit im Jahr 2019 grundsätzlich bedeute. Stattdessen arbeite sie sich an Einzelprojekten ab.
Ute Welty: Bis heute Nachmittag berät die Große Koalition, wie es denn nun praktisch weitergehen soll. Gefragt sind die Führungsspitzen der Bundestagsfraktionen von SPD, CDU und CSU, und die haben sich bereits gestern zur Klausurtagung getroffen. Etliche Augen dürften sich während dieser Klausur auf Rolf Mützenich richten, der die SPD-Fraktion nach dem Rücktritt von Andrea Nahles kommissarisch leitet und der dafür sorgen muss, dass die SPD wieder glaubwürdig wird und wählbar.
Ob und wie ihm das gelingen kann, bespreche ich mit Oliver Nachtwey, Soziologe an der Uni in Basel, und ihn beschäftigen vor allem die Veränderungen in Bezug auf Arbeit, Digitalisierung und Gesellschaft. Arbeit, Digitalisierung, Gesellschaft – da hat die SPD bisher nicht so sehr punkten können trotz aller Bemühungen. Warum haben da weder Mindestlohn noch Rentenverbesserung verfangen?
Nachtwey: Weil es, glaube ich, nicht ausreicht beziehungsweise weil die SPD ja auch noch eine andere Geschichte hat, und die Geschichte ist vor allen Dingen mit dem Begriff Hartz IV verbunden, einem großen Umbau des Arbeitsmarktes. Man hat es einfach bisher nicht glaubwürdig geschafft, eine runde Idee für soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu vermitteln, und da hat bisher auch der Mindestlohn nicht geholfen.
Welty: Was also muss bei diesem Fraktionstreffen herauskommen im Sinne der SPD, um auch den Verbleib in der Großen Koalition erst mal zu rechtfertigen?
Nachtwey: Vielleicht muss man die Frage anders stellen: Kann die SPD …
Welty: Dann stellen Sie mal eine Frage!
Nachtwey: Genau! Kann die SPD in der Großen Koalition überhaupt wieder Glaubwürdigkeit erlangen?

Die Reichen müssen abgeben: Davon ist die SPD abgerückt

Welty: So wie Sie die Frage jetzt stellen, lautet die Antwort nein, oder?
Nachtwey: Ja … Ja beziehungsweise nein. Ich finde, man muss sich zumindest damit beschäftigen, ob man jeweils sagt, wir möchten gerne eine grundsätzlich andere Politik machen, wie man es ja vor den Wahlen jeweils sagt, um dann aber wieder die gleiche Politik in der Großen Koalition fortzuführen. Da ist natürlich ein gewisser logischer Widerspruch drin, und das schafft die SPD nicht, das wirklich aufzulösen.
Und sie weiß natürlich auch, dass man mit der Union einen Koalitionspartner hat, der stark ist, der stärker als man selbst ist, und dem kann man ja auch nicht nach Belieben die eigenen Sachen aufzwingen. Vielleicht ist dann diese Idee, sich auch noch mal in der Opposition zu erneuern, die richtige.
Welty: Inwieweit spielt eine Rolle, dass der Begriff Gerechtigkeit geradezu inflationär verwendet wird und dass es darüber hinaus höchst unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was denn tatsächlich gerecht ist?
Nachtwey: Leider eine große, und auch hier hat die SPD zu ihrer eigenen und zur gesellschaftlichen Verwirrung etwas beigetragen, denn sie verwendet den Begriff selbst in ganz unterschiedlichen Arten und Weisen, nicht nur als Verteilungsgerechtigkeit, wo man zwischen oben und unten zum Beispiel ausgleichen würde, sondern auch als Chancengerechtigkeit, als Chancengleichheit, wo es dann um den Zutritt zum Markt, zur Bildung geht.
Und da hat die SPD tatsächlich eine inhaltliche Verschiebung vorgenommen: Diese alte Verteilungsgerechtigkeit, die Idee, dass die Reichen deutlich mehr abgeben sollten, von der hat man sich schon sehr stark verabschiedet. Der Finanzminister Olaf Scholz hat jetzt auch nicht erkennen lassen in der jüngsten Legislaturperiode, dass er daran etwas ändern möchte.

Kühnert hat wenigstens eine Debatte eröffnet

Welty: Was sind denn die Themen, die die SPD dringend zu ihren Themen machen muss, auch im Sinne von Gerechtigkeit?
Nachtwey: Bei allen Wahlen sieht man jeweils wieder, das Klima ist natürlich ein neues Thema, aber die soziale Gerechtigkeit wird von allen Bundesbürgern immer sehr stark und sehr hoch bewertet, und hier hat aber die SPD es nicht versäumt, sozusagen sich mit Einzelthemen zu beschäftigen, sondern eine Grundidee, eine Basisidee zu vermitteln.
Ich finde die Idee von dem Kevin Kühnert, über den demokratischen Sozialismus zu reden, das wird bestimmt vielen Leuten zu weit gehen, aber es war erst mal eine grundsätzliche Idee, die in die Debatte geworfen wurde, und die SPD war sehr stark damit beschäftigt, sich davon zu distanzieren, anstatt zu sagen, lass uns doch mal eine Grundsatzdiskussion führen. Ich glaube, die Idee wäre, nicht zu sagen, wir brauchen einzelne Maßnahmen, sondern die Frage zu stellen, was ist eine gerechte Gesellschaft heute im Jahr 2019.
Welty: Sehen Sie Kevin Kühnert, den Juso-Chef, an der Spitze der Partei demnächst?
Nachtwey: Ich glaube nicht, dass er die Mehrheiten dafür findet, weil die SPD tatsächlich sehr stark dominiert wird von dem Seeheimer Flügel, also den Parteirechten, die sitzen da sehr stark an den Schaltstellen, und da wird Kevin Kühnert wenig Chancen haben, Mehrheiten zu finden.
Welty: Wen sehen Sie denn vorne?
Nachtwey: Es drängt sich kein Kandidat auf.

Es fehlen Persönlichkeiten wie Corbyn oder Sanders

Welty: Das ist wahrscheinlich auch das Problem der Partei, schätze ich mal, oder?
Nachtwey: Ja, aber das ist natürlich die Tragödie. Man hat nach der letzten Bundestagswahl eine Erneuerung ausgerufen und hat dann ein Debattencamp gemacht und dann geglaubt, damit sei das erledigt. Was der SPD fehlt, ist aus meiner Sicht ein Jeremy Corbyn oder ein Bernie Sanders. Das hat aber auch was mit dem Wahlsystem in Deutschland zu tun.
Jeremy Corbyn war immer ein Parteilinker und war ein bisschen ein Hinterbänkler, der da überwintern konnte in der Labour-Party, und in Deutschland hat sich im Jahr 2005 Die Linke gebildet, und die, aus meiner Sicht, interessanteren Figuren sind dann eben zur Linken abgewandert oder haben in der SPD wenig Chancen gehabt, nach oben zu kommen und sich zu etablieren. Jetzt steht man vor dieser Situation, und man rätselt wirklich, wer könnte dieses Boot noch steuern. Ich habe selbst keine Idee, obwohl ich mich sehr viel mit der Sozialdemokratie beschäftige.
Welty: Wie groß ist denn das Risiko für die SPD, dass sie tatsächlich in die Bedeutungslosigkeit abgleitet? Von den französischen Sozialisten ist ja so viel nicht mehr übrig.
Nachtwey: Die französischen Sozialisten, die gibt es fast nicht mehr. Die spanischen Sozialisten haben sich aber jetzt in relativ kurzer Zeit wieder revitalisiert, und das ist das Interessante. Das zeigt nämlich, dass durchaus sozialdemokratische Ideen sehr attraktiv sein können und dass man auch aus einer großen Krise wieder herauskommen kann.

Die SPD muss ihr Spitzenpersonal anders auswählen

Welty: Dänemark wäre auch so ein Beispiel.
Nachtwey: Ganz genau, obwohl ich jetzt hier den Wahlerfolg, den so genannten, der dänischen Sozialdemokraten für etwas überbewertet halte, weil sie haben ja de facto verloren, aber sozialdemokratische Ideen sind nicht weniger, sondern eigentlich gefragter denn je heute, gerade die Idee, wie könnte eine gerechte Welt aussehen.
Es ist ja auch so, dass nach der Finanzkrise 2008 die Ungleichheiten in Europa gestiegen sind und nicht abgenommen haben. Deshalb würde ich sagen, französische Verhältnisse drohen, und spanische Verhältnisse sind möglich, aber dann müsste man es wirklich ernst meinen mit einer Parteireform, mit neuen Verfahren der Auswahl des Spitzenpersonals.
Wir haben ja bisher die Situation, dass man gesagt hat, man will sich ändern, aber das Spitzenpersonal ist bis auf Lars Klingbeil, den neuen Generalsekretär, ja absolut das alte. Olaf Scholz, der ist seit 15 Jahren in der Parteiführung, und deshalb müsste man jetzt den Neuen eine Chance geben, aber man muss auch diesen Neuen dann erst mal finden und dem die Möglichkeit geben, sich Stück für Stück zu etablieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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