"Nur weil viele mitmachen, ist es noch nicht Demokratie"
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"Das größte Demokratieprojekt der letzten Jahre": So sieht sich die AfD, auch weil sie viele Nichtwähler mobilisiert. Der Soziologe Robert Feustel widerspricht: Der AfD gehe es um eine "geführte Scheindemokratie", die einen vermeintlich uniformen Volkswillen vertritt.
Liane von Billerbeck: Nach der Landtagswahl in Thüringen bekam man am Sonntag das Selbstlob der AfD zu hören, zuerst von Björn Höcke, dem AfD-Spitzenkandidaten in Thüringen, und dann von Georg Pazderski, dem stellvertretenden AfD-Bundessprecher sowie Partei- und Fraktionschef in Berlin:
Höcke: "Wir haben es geschafft, die meisten Nichtwähler zurück an die Wahlurnen zu bekommen, die AfD wirkt also auch als Demokratiebeleber, und darauf bin ich unheimlich stolz."
Pazderski: "Die AfD ist das größte Demokratieprojekt der letzten Jahre."
von Billerbeck: Solche Formulierungen, die sind sicher kein Zufall. Eine höhere Wahlbeteiligung, mehr Interesse an Politik, das reklamiert die AfD für sich. Aber wollen wir diese Art der Demokratiebelebung? Geht es nur um mehr Menschen, die politisiert sind, oder ist auch wichtig, wie diskutiert wird, kurz: Welche Art von Demokratie meint da die AfD?
Darüber will ich jetzt reden mit Robert Feustel. Er ist Soziologe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitherausgeber des "Wörterbuchs des besorgten Bürgers".
Demokratie-Beleber und größtes Demokratieprojekt – das ist ja, wenn man das so anguckt, nicht ganz von der Hand zu weisen. Höhere Wahlbeteiligung hat es gegeben in Thüringen, also mehr politisch Interessierte. Ist das nicht tatsächlich eine Folge des AfD-Erfolgs?
Feustel: Ja, das könnte man schon sagen, eine Repolitisierung findet schon statt. Allerdings gibt es keinen Automatismus: Nur weil viele mitmachen, ist es noch nicht Demokratie. Im NS haben auch viele mitgemacht und niemand würde sagen, dass das demokratisch war. Und wenn immerhin knapp 24 Prozent in Thüringen einen Faschisten wählen, der dazu angetreten ist, die Demokratie, wie wir sie kennen, abzuschaffen, dann ist das nicht nur ein gutes Zeichen einer Repolitisierung.
von Billerbeck: Also es ist nicht die notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, dass sich möglichst viele Menschen daran beteiligen?
Feustel: Ich würde sagen, da ist der Konjunktiv sehr wichtig: Es müssen sich sehr viele Menschen beteiligen können und Einfluss entwickeln können. Ob sie das tun, ist noch mal eine andere Frage. Ich würde zum Beispiel sagen, dass es ein sehr progressiver Schritt wäre, wenn man doch allen, die hier leben, das Wahlrecht geben würde, also auch Migrantinnen und Migranten, die ja regelmäßig von Wahlen ausgeschlossen sind. Also, die Möglichkeit, dass viele mitmachen können, ist schon wichtig. Ob alle mitmachen und wie viele mitmachen, ist noch kein Ausweis für Demokratie.
"Faschistischer Wolf im bürgerlichen Schafspelz"
von Billerbeck: Das mit dem Wahlrecht für Migrantinnen, das wäre sicher nicht im Sinne der AfD, aber fragen wir doch mal: Was versteht die Partei eigentlich unter Demokratie und was meinen Höcke und Pazderski, wenn sie solche Ausdrücke wie eben gehört benutzen?
Feustel: Ja, man darf sich da nicht von dem faschistischen Wolf im bürgerlichen Schafspelz täuschen lassen. Den Leuten von der AfD, vor allem Björn Höcke, geht es um eine Art gelenkte oder geführte Scheindemokratie, die nur sozusagen einen uniformen Volkswillen ausagiert oder ausagieren lässt durch einen Führer.
Also, die AfD will im Prinzip der gegenwärtigen Demokratie ganz wesentliche Merkmale entreißen, einerseits die Minderheitenrechte, was zu einer Art Tyrannei der weißen Mehrheit führen würde, und auch so was wie Aushandlungs- und Vermittlungsprozesse sind dann kein Thema mehr.
Stattdessen geht es um eine unmittelbare Übersetzung eines vermeintlichen Volkswillens in Form des Führers. Wir kennen das schon, das hat mit Demokratie, wie wir sie kennen, wie wir sie vielleicht auch wollen, ganz wenig zu tun. Und dennoch besetzen natürlich rechte Kräfte den Begriff Demokratie für sich auch.
Eine Repolitisierung, die entpolitisieren will
von Billerbeck: Geht's bei diesem allen eigentlich nur um eine Politisierung oder ist auch die Form des Diskurses ausschlaggebend? Und vor allem: Wer bestimmt das?
Feustel: Man kann das politisch und wie sich das entwickelt, ganz schlecht bestimmen, und es geht schon um eine Repolitisierung und das ist auch nicht nur schlecht. Allerdings muss man dazu sagen, dass die rechte Form der Repolitisierung eigentlich eine Entpolitisierung anstrebt, weil rechte Kräfte wie Höcke ganz vorn eine Art organisch geschlossene Gesellschaft wollen mit klarer Verteilung, mit klaren Orten, jeder hat seinen Platz.
Dann verwechseln ja rechte Kräfte sehr häufig Gesellschaft und Natur: Also, sie nehmen sozusagen ein biologisch verknotetes Volk an, was historisch eine Fiktion ist. Und deren Zielvorstellung ist am Ende eine entpolitisierte Gesellschaft, in der ganz klare Ordnungsstrukturen herrschen und die Dinge halt nicht mehr umkämpft sind. Der Weg dahin sozusagen soll nur demokratisch sein.
Letztlich ist das eine Art Übernahmeversuch: Man nutzt die Institutionen aus und fährt, das ist ja in Thüringen sehr auffällig gewesen, eine Revolutionsrhetorik. Ein Wahlslogan war "Vollende die Wende", also es geht am Ende schon um ein revolutionäres Gebaren, was nur in der bürgerlichen Presse, also wenn Höcke bei bestimmten Pressekonferenzen sitzt, immer bürgerlich eingekleidet wird.
"Politisierung kann auch nachteilig sein"
von Billerbeck: Kann denn auch eine zu starke Politisierung der Demokratie schaden?
Feustel: Das hängt schon davon ab, in welche Richtung es geht. Also, Politisierung ist erst mal nur der Versuch, sich zu beteiligen, aber wenn sozusagen die Politisierungstendenzen dahin gehen, Gesellschaften zu entdemokratisieren, Ausschlüsse zu produzieren, eine harte Freund-Feind-Konstellation hervorzubringen – das, was rechte Kräfte immer tun. Das machen sie nach außen gegenüber dem Fremden und nach innen gegenüber dem politischen Gegner, der also kein Spielpartner mehr ist, mit dem man nicht mehr Dinge aushandeln muss, sondern der robust und brutal ausgeschlossen wird. Dann kann eine Politisierung der Gesellschaft auch nachteilig sein, das ist schon richtig, ja.
von Billerbeck: Herr Feustel, kann man denn den bisherigen politischen Eliten vorwerfen, dass sie mit einer eher unpolitischen Masse ganz gut haben leben können?
Feustel: Ja, die Kritik ist auch vielfach vorgebracht worden in den letzten 20, 30 Jahren, da sprach man von einem Diktat des Ökonomischen, man hat das so in Begriffen wie "Postpolitik" eingekleidet, die "Expertokratie" war viel diskutiert worden, das hat man an der Troika gesehen, an TTIP, an Prozessen, die sozusagen jenseits eines Volkswillens abgelaufen sind. Das Dumme ist nur, dass sozusagen die rechte Alternative ja keine demokratische Alternative, also kein Aufbruch ist, sondern eher eine führergelenkte Scheindemokratie anstrebt.
Aber ja, die Kritik an sozusagen postpolitischen Verhältnissen, die gab es auch, die gab es auch aus der Wissenschaft. Und der Vorwurf, der ist nicht ganz unberechtigt, dass sich eine große Spaltung aufgetan hat zwischen einer bestimmten Art von lobbyistischer Elitenregierung und Volkswillen. Dummerweise, wie gesagt, ist sozusagen die rechte Alternative keine präzise Antwort darauf.
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