"Pegida ist ein regionales Phänomen von Wende-Enttäuschten"
Nach Ansicht des Soziologen Heinz Bude ist die Protestbewegung Pegida ein regionales Phänomen. Ostdeutsche Demonstranten brächten ihr Gefühl der verletzten Ehre zum Ausdruck, weil sie sich im wiedervereinigten Deutschland zurückgesetzt fühlten.
Für Heinz Bude ist die Protestbewegung Pegida ein regionales Phänomen, das auf ein ostdeutsches Narrativ zurückzuführen ist.
Zwar gebe es in einigen Regionen der "neuen Bundesländer" ein Bevölkerungswachstum – Potsdam ist eine der reichsten Städte Deutschlands – aber viele Gebiete "bluten aus", sagte Bude im Deutschlandradio Kultur. Wenn diese Menschen jetzt rufen "Wir sind das Volk", ist das ein trauriger Ausruf, weil es das "ostdeutsche Volk" nicht mehr gebe und sie nur so ein Gefühl von ihrer sozialen Größe hätten. Diese Menschen hätten Jahre lang gehofft nach der Wende, dass etwas passiert, "ein großer Investor kommt", aber nichts geschah. Zu akzeptieren, dass sie enttäuscht worden sind vom vereinten Deutschland, ist schwer, meint Bude.
Aus der Sicht des Soziologen und Publizisten gibt es keinen Politiker, der sich für diese Menschen noch interessiert. Auch Sachsens Ministerpräsident Tillich von der CDU habe nur das islamophobische Motiv aufgenommen und verpasst, dass es eigentlich um etwas ganz anderes geht – ein Gefühl der verletzten Ehre, des Zurückgesetzt worden seins". Deshalb die geringe Wahlbeteiligung in Sachsen. "Kein Politiker trifft ihr Lebensgefühl."
Gerhard Schröder habe in seiner Amtszeit nie geschafft zu sagen, dass es zwar kein Recht auf Faulheit gebe, aber wir auch auf niemand verzichten können. Zu Angela Merkel meinte Bude: "Ihr Regime der immer währenden Gegenwart, dass wir immer nur die kleinen Probleme lösen und die großen auf sich beruhen lassen, diese Zeit des emotionalen Managements von Deutschland ist vorbei."
Heinz Bude wird 1954 in Wuppertal geboren. Er studiert in Tübingen und an der Freien Universität Berlin u. a. Soziologie. 1994 habilitiert er zur Herkunftsgeschichte der 68er-Generation. Seit 2000 hat er an der Universität Kassel die Professur für Makrosoziologie inne. Bude landete mit seinen Büchern regelmäßig in den Bestseller-Listen, darunter "Bildungspanik" und zuletzt "Gesellschaft der Angst".
Lesen Sie hier das gesamte Interview im Wortlaut:
Deutschlandradio Kultur: Die Gründe für den Unmut der Pegida-Anhänger, deren Führung sich ja in dieser Woche zerlegt hat, wollen wir nun erfragen. Das waren einige Musiker, die am Montag in Dresden ein Konzert für ein weltoffenes Deutschland gegeben haben, darunter Herbert Grönemeyer, Silly und Gentleman.
Bei uns zu Gast im Tacheles ist heute Heinz Bude, Soziologe von der Universität Kassel und vielen sicherlich bekannt durch seine Bücher "Bildungspanik“ oder zuletzt "Gesellschaft der Angst“. Herr Bude, dieses Buch ist im September 2014 erschienen und sucht nach Gründen für das Angstgefühl in unserer Gesellschaft.
Ob es das gibt, lassen wir jetzt mal dahingestellt, aber auf Zuwanderer sind Sie vor einem halben Jahr noch nicht richtig gekommen. Müssen Sie Ihr Buch jetzt nochmal um ein Kapitel Islam erweitern?
Heinz Bude: Na ja, es gibt ein Kapitel, wo es um den Islam auch geht.
Deutschlandradio Kultur: Am Rande.
Heinz Bude: Am Rande – es ist ein Kapitel, das heißt "die Angst der anderen“. Das ist für uns nicht ganz unwichtig, auch für diese Debatte nicht ganz unwichtig. Wir haben ja die merkwürdige Situation, dass wir eine Mehrheitsbevölkerung haben, die sagt, sie habe Angst vor einer Minderheitsbevölkerung. Sie vergisst ab und an, dass die Minderheitsbevölkerung auch Angst vor der Mehrheitsbevölkerung hat. Das heißt, wir haben durchaus, was Deutsche betrifft, die eine – wie soll ich sagen – islamische Zuwanderungsgeschichte haben, die haben auch Angst und die haben auch Anlass, Angst zu haben. Denken Sie an den NSU.
Da hat's Leute gegeben, die aus einem Untergrund aufgetaucht sind und ohne irgendwelche Erklärungen abgegeben zu haben, einige Leute erschossen haben – brutal erschossen haben. Ich muss gestehen, ich habe für alles Verständnis. Ich habe auch Verständnis dafür: Wenn ich ein Deutscher wäre, der türkische Wurzeln hätte, der palästinensische Wurzeln hätte, ich glaube, ich hätte auch ein bisschen Angst in unserer Gesellschaft.
Deutschlandradio Kultur: Ist denn die Angst der Mehrheitsgesellschaft vor dieser Minderheit, vor den Anhängern des islamischen Glaubens etwas Neues oder ist es durch Pegida erst hervorgetreten?
Heinz Bude: Hervorgetreten ist vielleicht das richtige Wort. Durch Pegida ist etwas geäußert worden. Ob wir Angst haben vor dem Mehmet-Scholl-Deutschen, das glaube ich eher nicht. Viele Leute wissen gar nicht, dass Mehmet Scholl einen türkischstämmigen Hintergrund hat. Und ich habe auch den Eindruck, dass für die allermeisten Mehmet-Scholl-Deutschen diese Situation so ist, dass sie, wenn sie etwas fürchten, im Augenblick auch eher fürchten, dass ihre Kinder oder ihre Enkel auf dumme Gedanken kommen und möglicherweise sich irgendwelchen Pop-Radikalismen anschließen, die plötzlich ganz gewalttätig werden können.
Das Interessante ist, und das muss man soziologisch relativ nüchtern konstatieren, die allermeisten Migranten in Deutschland sind Migrationsgewinner, die allerallermeisten. Ich würde sagen, 95 Prozent aller Migranten in Deutschland sind Migrationsgewinner. Die Bildungserfolge der türkischstämmigen Deutschen sind bemerkenswert, wenn man immer vergleicht mit dem, was die Eltern und Großeltern für einen Bildungsabschluss hatten. Also, im Grunde können wir eine Geschichte einer unglaublichen Inklusion von nicht deutschstämmigen Deutschen konstatieren.
Aber – und das ist immer der interessante Fall und das macht beiden Seiten Angst, der Mehrheitsbevölkerung wie der Minderheitsbevölkerung – wir haben auch immer Migrationsverlierer. Und je größer eine Einwanderungsgruppe ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es in dieser Gruppe auch Migrationsverlierer gibt.
Das Interessante ist jetzt: Mit den Migrationsverlierern will sowohl ihre eigene Migrationsgruppe nichts mehr zu tun haben und gleichzeitig die, wenn Sie so wollen, "biodeutschen“ Deutschen, die denken, das sind Leute, die komische Gedanken in ihrem Kopf ausbrüten. – Tun sie auch manchmal.
Also, es gibt in der Tat Gründe, ab und an Angst zu haben vor Leuten, die sich dumme Gedanken machen. Wir haben das in Belgien erlebt. Wir haben das in Frankreich erlebt. Und es ist nicht ausgeschlossen, der Innenminister betont das auch immer wieder, dass es auch in Deutschland passieren kann.
Deutschlandradio Kultur: Und diese Angst vor der größer werdenden Gruppe von auch Migrations-Verlierern in der zugewanderten Gesellschaftsschicht hat ihre Ausprägung in ganz Deutschland. Sie haben das mal untersucht 2011 in einer Telefonumfrage. Erst mal gefragt: War die repräsentativ, so haben Sie es damals genannt, für ganz Deutschland?
Heinz Bude: Ja, es ist eine repräsentative Umfrage gewesen.
Deutschlandradio Kultur: Was sind denn die wichtigsten Erkenntnisse gewesen daraus, wie islamkritisch Deutschland eingestellt ist?
Heinz Bude: Vielleicht nochmal der Hintergrund: Der Hintergrund dieser Umfrage war, dass wir uns für Leute interessiert haben, denen die Äußerungen des Bundespräsidenten Christian Wulff, dass der Islam zu Deutschland gehört, das war im Oktober 2010, gar nicht schmeckte. Wir wollten wissen, wem schmeckt das eigentlich nicht. Und wir sind auf drei Gruppen gekommen, denen das überhaupt nicht gefällt. Und das ist einigermaßen rätselhaft, wie diese Gruppen zustande kommen.
Das ist nämlich eine Gruppe, denen geht es relativ gut. Die haben auch das Gefühl, sie haben so im Leben, je nach dem, in welchem Alter sie sind, mehr oder weniger eigentlich ganz gut das erreicht, was sie sich vorgenommen hatten. Und sie sind gleichzeitig zu einem großen Anteil der Meinung, dass sie zu den Gewinnern der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten 20 Jahre gehören. Das sind, wenn Sie so wollen, Leute, die ein hohes positives Statusgefühl haben. – Die haben zum Teil Angst vor einer Veränderung unserer Gesellschaft durch Migranten mit islamischem Hintergrund. Und es ist merkwürdig. Wie kommen die eigentlich da drauf?
Unsere Interpretation ist, das sind Leute, die eigentlich sich in ihren sozusagen Kreisen nicht stören lassen wollen. Wenn Sie so wollen, man könnte sagen, die haben so eine Art Selbstgerechtigkeit entwickelt. Die haben so das Gefühl, ich hab erreicht, ich hab halt gearbeitet und jetzt will ich meine Ruhe haben. Dieses Gefühl, seine Ruhe haben zu wollen, hat offenbar auch, kann anlassbezogen immer ausschlagen in der Idee, da ist irgendetwas, was uns nicht gefällt.
Dann haben wir eine Gruppe, die zweite Gruppe, die sind eher schlecht gebildet, arbeiten in schwierigen Positionen, gehören beispielsweise zum "Dienstleistungsproletariat“ in Deutschland. Die sind hart mit Einwanderern konfrontiert, weil es bei denen um eine unmittelbare existenzielle Konkurrenz um Arbeitsplätze geht.
Also, stellen Sie sich Leute vor, die in der Gebäudereinigung tätig sind. Die Gebäudereinigung ist ein Bereich, den ich zum "Dienstleistungsproletariat“ rechnen würde. Das ist eine multiethnische Population. Da merken Sie, da stoßen die Gruppen aufeinander und da gibt’s Zoff.
Deutschlandradio Kultur: Viel Wettbewerb.
Heinz Bude: Genau. Und diese Gruppe ist sogar der Meinung, wir haben so eine Art Überströmungsgefahr. Da gibt es irgendwie Leute, die kommen in das Land, die wollen nur Theater machen. Die wollen nur "Zeck“ machen. Die sagen, nee, nee, raus mit diesen Leuten, die machen nur Theater, die machen nur Krieg auf der Straße.
Die dritte Gruppe ist die interessanteste Gruppe. Das sind nämlich Leute, immerhin 13 Prozent derer, die wir befragt haben, denen es relativ gut geht, die ein starkes Gefühl von ihren eigenen Kompetenzen haben und Weltreisen gemacht haben, in der Welt rumgekommen sind und sich selber als weltoffen bezeichnen.
Deutschlandradio Kultur: Hoher Bildungsgrad?
Heinz Bude: Relativ hoher Bildungsgrad, die Höchstgebildeten von den drei islamophoben Gruppen. Und die sagen: Jetzt ist aber mal Schluss bei diesen Leuten, die irgendwie diesen komischen Glauben haben, von dem wir nicht genau wissen, was der eigentlich verkündet. Mit diesen selbst ernannten Propheten, mit denen wollen wir nichts mehr zu tun haben.
Interessant an dieser Gruppe ist, wenn man sich die genauer anguckt, dass sind Leute, die eigentlich das Gefühl haben, dass sie ihr Leben lang unter ihren Möglichkeiten geblieben sind, dass sie eigentlich hätten viel mehr leisten können und jetzt das Gefühl haben, jetzt wird uns erzählt, wir sollten eine Empfangskultur für Leute bereithalten, die aus anderen Ländern hier hinströmen. Und denen wird quasi alles ermöglicht. – Ich habe doch auch hart arbeiten müssen! Ich habe doch auch bestimmte Niederlagen hinnehmen müssen. Ich habe mich gehalten und ich bin nicht willkommen geheißen worden. Und ich habe eigentlich das Gefühl, ich bin unter meinen Möglichkeiten geblieben in meinem Leben.
Diese Gruppe haben wir höher repräsentiert in Ostdeutschland als in Westdeutschland. Da vermute ich einen sehr zentralen Bestandteil dessen, was wir heute Pegida nennen.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben wir diese drei Gruppen erwähnt, ganz verschiedene Menschen, Gebäudereiniger, hoch gebildet, aus ganz verschiedenen Bereichen. Trotzdem schaffen die es, sich alle zu vereinen mit dem Feindbild Islam. – Warum?
Heinz Bude: Weil es so etwas gibt wie einen konzeptionellen anderen, der uns in unserer Lebensweise bedroht. Und was sie alle drei vereint, ist das Gefühl, dass wir im Grunde in Deutschland dabei sind, so eine Art von kollektiver Selbstpreisgabe zu praktizieren. Alle drei sind eigentlich der Meinung, dieses Rangieren ans andere, dieses immer auf andere zukommen, obwohl sie doch eigentlich unsere Kultur verachten, damit muss jetzt mal Schluss sein.
Dies ist das Gefühl, und das eint sie mit manchen extremen Islamisten, eigentlich ist es noch mal der Traum einer ethnischen Reinheit des Volkes, nochmal, dass wir unter uns wären, dass wir eine Art von exklusiver Solidarität von Deutschen hätten, die sich gegenüber denjenigen abschirmen könnte, die in unser Land kommen wollen oder von der politischen Klasse oder von Ihnen, also von den Journalisten und von den Medien, von denen dauernd erzählt wird, wir bräuchten die, weil sonst Deutschland aussterben würde.
Diese Idee, dass Deutschland von sich aus aussterben würde, bringt die um den Verstand.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben gerade über die Ergebnisse einer Untersuchung von Ihnen gesprochen aus dem Jahr 2011 über Islamophobie in Deutschland. Die ist also in durchaus vielen Köpfen drin, haben wir gehört. Offen ausgesprochen wurde sie zuletzt vor allem in Dresden. Warum, das wollen wir jetzt noch analysieren anhand der Teilnehmer.
Wir fangen mal an mit dem Musikgeschmack. Die hören gerne Roland Kaiser. Sie verschieben ihre Demo, um beim Konzert von Herbert Grönemeyer, Sarah Connor und Silly dabei zu sein.
Sind die Pegida-Anhänger also genau das, was sie bei den Medien anprangern, Mainstream?
Heinz Bude: Das ist so eine Sache mit dem Mainstream. Erstmal müssen wir mal feststellen, am Ende ist es ein regionales Phänomen geblieben. Also, an der Universität Kassel da gab's auch so ein paar Pegida-Anhänger. Es waren 50, in Worten: fünfzig. Da waren natürlich gleich 500 da, die sagten, was soll das alles, die also eine Gegendemonstration veranstaltet haben. Und das sind alle die Nachrichten, die wir aus München haben, die wir am Ende auch aus Düsseldorf haben, obwohl es am Anfang ein bisschen anders aussah, und aus vielen Städten, insbesondere interessanterweise in Süddeutschland.
Da gibt es eigentlich eine Mittelklasse, die sagt, nee, das ist nix für uns. Das ist sozusagen der Testfall, um zu zeigen, dass wir anders sind. Ich war in München bei einer Veranstaltung und merkte, die sind eigentlich so in dieser etwas bayerischen Selbstgewissheit der Meinung, nee, nee, nee, also, von denen aus dem Osten lassen wir uns nicht sagen, wie wir uns in Deutschland fühlen. Wir sind sogar bereit, und das ist interessant, auch eine gewisse Großzügigkeit zu haben. Wir können es uns leisten, Leute willkommen zu heißen. Wir sind nicht so engherzig wie die da drüben.
Also, in gewisser Weise ist für die Pegida ein Testfall für die Weltoffenheit der Deutschen Mitte. Und das ist auch die Generaltendenz, die wir haben. Die Generaltendenz ist eigentlich der Ausdruck von Solidarität gegen Angst. Die Generaltendenz ist zu sagen, Großherzigkeit gegen Engherzigkeit. Das ist interessant.
Aber es bleibt dabei, es ist in Ostdeutschland eine gewisse Konzentrierung zu konstatieren.
Deutschlandradio Kultur: Wie kommt die zustande?
Heinz Bude: Ich glaube, es gibt, und diese Geschichte ist noch viel zu wenig erzählt, es gibt auch einen ostdeutschen Grund in der ganzen Geschichte, ein ostdeutsches Narrativ. Und das geht in etwa so, dass Ostdeutschland überhaupt gar nicht mehr existiert. Ostdeutschland gibt es nicht mehr. Ostdeutschland ist wahrscheinlich heute eine der fragmentiertesten Soziallandschaften Europas. Es gibt derartig unterschiedliche Lebensverhältnisse in Ostdeutschland, denken Sie an Brandenburg hier in der Nähe von Berlin. Dort gibt es Teile von Brandenburg, in denen in den nächsten zehn Jahren ein Bevölkerungszuwachs von sechs bis acht Prozent zu erwarten ist. Potsdam ist eine der reichsten Städte mittlerweile in Deutschland. Da wohnt die Prominenz der Republik.
Und dann gibt es im gleichen Bundesland so am Rande hin zu Mecklenburg-Vorpommern Gebiete, bei denen ein Bevölkerungsschwund um 30 Prozent im gleichen Zeitraum zu erwarten ist.
Das heißt, wir haben einerseits Landflucht, wo Leute übrig bleiben, die wirklich das Gefühl haben, übriggeblieben zu sein, und solche Gebiete in Ostdeutschland, Zonen des Lebens in Ostdeutschland, wo es den Leuten ziemlich gut geht.
Und jetzt sagt man: Wir sind das Volk! Wir sind das Volk ist eigentlich ein ganz trauriger Ausruf. Es ist ein völlig verlorener Ausruf, weil das Volk der Ostdeutschen sich, wenn Sie so wollen, verpulverisiert hat. Es gibt es nicht mehr. Es gibt auch keine ostdeutsche Solidarität mehr, die man aufrufen kann. Wenn man sie überhaupt noch aufrufen kann, dann in einem gewissen Ressentiment.
Warum ich das alles sagen kann: Ich habe mit Kollegen zusammen in den Jahren 2006 bis 2009 eine groß angelegte Untersuchung in einer Kleinstadt in Ostdeutschland unternommen über viele Jahre, eine Langzeitbeobachtung in Wittenberge. Das liegt zwischen Berlin und Hamburg. Da haben wir das gleiche Phänomen schon studieren können. Dort gibt es Leute, denen es relativ gut geht, die einen netten Immobilienbesitz haben. Und das Interessante ist, dass wir das in Wittenberge studieren konnten, dass diejenigen mit ihren ostdeutschen Kollegen, die nebenan wohnen, eigentlich immer weniger zu tun haben wollen, wenn das die Verlierer der Wende sind. Das heißt, es gibt so etwas wie eine wechselseitige Abstandsnahme, die aktiv unternommen wird innerhalb, wenn Sie so wollen, der ostdeutschen Bevölkerung.
Und jetzt taucht das Problem auf, alle Leute erzählen, Deutschland geht es so gut, Deutschland ist das wirtschaftlich erfolgreichste Land Europas, möglicherweise auch das politisch führende Land. Und alle Leute gucken auf Deutschland und sagen, mein Gott, wie die Deutschen es gut gemacht haben. – Es gibt aber ganz viele in Ostdeutschland, die sagen, wir haben getan und gemacht, wir haben versucht unsere Energien zu entfalten. Wir haben versucht unsere Talente einzubringen. Aber es hat ja niemand gewollt.
Deutschlandradio Kultur: Und das sind die, die auf die Straße gehen jetzt?
Heinz Bude: Das sind die, die auf die Straße gehen und rufen in ihrer Verlorenheit, wir sind das Volk, weil sie das Gefühl haben, dass von ihren schwierigen Lebensbilanzen, wo sie jetzt wissen, wer jetzt nicht so eine Raketenkarriere wie Angela Merkel gemacht hat, wird sie nicht mehr machen. Wer jetzt nicht sein Schäfchen ins Trockene gebracht hat mit Immobilienbesitz, wird es nicht mehr machen. Und wer in der Zeit des langen Wartens zwischen 1992 und 2010 nicht irgendwie sein Ding gemacht hat, wird es auch nicht mehr machen.
Und die haben das Gefühl, für unsere Bedürfnislage, unsere Wünsche, unsere Degradierungen, unser Gefühl, am Ende doch zurückgesetzt worden zu sein, dafür interessiert sich kein Mensch mehr. Und das Interessante ist, auch in Ostdeutschland interessiert sich von der politischen Klasse Ostdeutschlands auch keiner wirklich mehr dafür.
Für mich war es sehr merkwürdig, den sächsischen Ministerpräsidenten zu sehen, der nur dieses islamophobe Motiv aufgenommen hat.
Deutschlandradio Kultur: Stanislaw Tillich von der CDU.
Heinz Bude: Genau, der gesagt hat, der Islam gehört nicht zu Sachsen, und es verpasst hat, dass es eigentlich um etwas ganz anderes geht. Es geht um dieses Gefühl des Zurückgesetzt-worden-Seins, auch das Gefühl, dass man, wenn wir schon zu den Verlierern von einer Entwicklung gehören oder jedenfalls zu denen, die nicht in der Weise davon profitiert haben wie Leute, die ich auch kenne, dass wir eigentlich keine würdevolle Abfindung für unsere Position gekriegt haben. Es geht eigentlich um so etwas wie verletzte Ehre.
Und das erklärt auch, wenn Sie da waren, wann wird den Leuten anders? Wann wird die Menge unruhig und fühlt sich stark? Wenn sie rufen: Wir sind das Volk! – Es ist eigentlich egal, zu welchem anderen Aufruf, wenn sie sagen, wir sind das Volk, dann haben sie ein Gefühl ihrer sozialen Größe.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind ja auch das Volk, wenn man einfach mal sagt, das Volk ist die Gruppe von Menschen, die einfach wählt. Nun wählen aber in Sachsen ganz viele nicht. Über die Hälfte hat nicht gewählt bei der letzten Wahl. Trotzdem wird als Hauptmotiv genannt, wenn man dort zu Pegida gegangen ist, wir haben ein Problem mit der Politik. Dann kommen die Medien. Und dann kommen erst die Zuwanderer und Asylbewerber.
Heinz Bude: So ist es.
Deutschlandradio Kultur: Warum wählt man dann nicht einfach und bleibt nicht zu Hause und kann dann ja auch viel verändern?
Heinz Bude: Sie wählen doch nur diejenige Person, von der sie das Gefühl haben, dass es eine alltagsmoralische Anschlussfähigkeit an ihre Lebenslage gibt. Sie wählen nicht einen Interessensvertreter. Das ist eine merkwürdige Vorstellung, die immer wieder rumgereicht wird, die im Sozialkundeunterricht in der Schule erzählt wird. Das ist ganz falsch. Sie brauchen so etwas wie eine Korrespondenz zu ihren Wünschen, zu ihren Lebensweisen, zu ihren Vorstellungen einer glücklichen Existenz. Und das Interessante ist, dass offenbar eine erhebliche Anzahl von Menschen in Ostdeutschland der Meinung ist, dass es Repräsentanten ihres Lebensgefühls eigentlich nicht mehr gibt. Denn das ist der Ausdruck der zurückgehenden Wahlbeteiligung.
Der Ausdruck der zurückgehenden Wahlbeteiligung ist in diesem Fall, wenn Sie so wollen, der Schrei, der stille Schrei: Warum redet eigentlich keiner über uns?
Und das ist auch völlig klar. Die Linke sagt, nee, mit denen wollen wir nix zu tun haben. Die CDU arrangiert sich irgendwann so langsam, ja, wir müssen doch mal reden usw. und die Dinge ernst nehmen. Die SPD ziert sich, führt ihren Vorsitzenden vor, der sich einfach nun mal hingesetzt hat, weil er eine ostdeutsche Frau hat, und dachte, muss ich mir doch mal angucken. Und das ist eine ganz schwierige Lage. Ich habe auch das Gefühl, ich bin nun ein klassischer Westdeutscher, es ist sehr, sehr schwierig mit Leuten zu reden, die eigentlich das Gefühl haben, die Wahrheit unseres Lebens gehört uns. Wir müssen sie eigentlich verteidigen gegen so eine komische Presse, gegen solche komische politische Klasse und natürlich gegenüber so naseweisen Westdeutschen, wie ich das einer bin.
Ich verstehe das in gewisser Weise auch, weil, es ist eine ganz schwierige Bilanz zu sagen, wir sind enttäuscht worden im Jahre 1990 bis 1992. Dann haben wir ewig gewartet, dass sich irgendetwas ändert. Ein Investor war immer die Idee. Endlich kommt ein Investor und bringt die Sache wieder in Ordnung. Und jetzt muss man sagen, es hat keinen Sinn weiter zu warten. Denn wer jetzt noch wartet, wird lange warten. Und dieses Gefühl zu akzeptieren, dass das Leben und die Lebenschancen, so wie sie jetzt sind, dass daraus jetzt kein großes Feuer mehr zu schlagen ist, das ist auch nicht so ganz einfach, wenn sie die Idee hatten, es wird im vereinten Deutschland eine Orientierung auf eine gemeinsame Kraft geben. Man hat doch gehört, was hatte Gerhard Schröder gesagt? Wir müssen unsere Konkurrenzfähigkeit stärken. – Ja, ich bin dabei, aber mich fragt ja keiner.
Und das ist eine ganz schwierige Situation. Und ich bin überrascht darüber, dass es eigentlich in Ostdeutschland fast keinen Sprecher dieses Gefühls gibt, meiner Meinung nach, nicht in der politischen Klasse, aber auch nicht im Bereich der Kunst, auch nicht bei den Intellektuellen. Ich habe das Gefühl, dass Jean-Luc Godard, der 1990 einen sehr schönen Film über Deutschland gemacht hat, wo er gesagt hat, die DDR hat ein einsames Volk produziert, dass das in Teilen jetzt wieder da ist. Dieses einsame und verlorene Volk, jedenfalls die Reste davon, die rufen: Wir sind das Volk! Und keiner interessiert sich wirklich dafür.
Deutschlandradio Kultur: Das wollen wir jetzt aber nicht so stehen lassen hier in der Sendung, sondern noch ein bisschen weiter gucken, wie es jetzt weiter geht. Also, mit dem Führungsteam von Pegida wahrscheinlich nicht. Die haben sich ja in dieser Woche zerlegt. Aber wie kommt man jetzt dieser diffusen Angst und dieser Gefühlslage, die Sie beschrieben haben, entgegen?
Wir haben ja alle noch die Neujahrsansprache von Angela Merkel im Kopf, die gesagt hat, "in deren Herzen sind Vorurteile, Kälte und Hass“. – Wie wirkt sich aus Ihrer Sicht als Soziologe so ein Spruch aus auf diese Gruppe?
Heinz Bude: Die fühlen sich genau darin bestärkt.
Deutschlandradio Kultur: Unter sich zu bleiben oder jetzt mal den Dialog zu beginnen und zu schauen, wie sie da rauskommen?
Heinz Bude: Nein, natürlich bleibt man unter sich. Man bleibt nicht wirklich unter sich. Das ist auch die falsche Formulierung. Pegida hat sicherlich seinen Höhepunkt überschritten. Und das wird jetzt nach und nach auseinandergehen. Manche von denen werden wieder NPD wählen, wie sie vorher NPD gewählt haben. Das ist eine Minderheit, aber die gibt es natürlich. Es werden manche sagen, okay, tun wir es doch, probieren wir es doch mal bei der AfD. Die Mehrheit allerdings wird verstockt verstummen. Die Mehrheit wird ins Lager der Nichtwähler wechseln, in dem sie auch vorher schon gewesen sind, und dort wieder bleiben.
Und das wird sich auflösen in eine merkwürdige Befindlichkeit des Defensiven, des Abblockens, des Verstocktseins. Und ich fürchte, wir werden da wieder so einen merkwürdigen Block in der Bevölkerung haben, wo Ungutes rumort, das aber in der Öffentlichkeit eigentlich keinen Ausdruck findet.
Das ist deshalb eine relativ problematische Entwicklung, weil ich glaube, dass viele unserer europäischen Nachbarn nach Deutschland schauen und sich fragen: Wie machen die Deutschen das jetzt eigentlich unter sich klar? Warum ist das so interessant? Weil wir natürlich diese Problematik in fast allen Ländern Europas haben. Jetzt schauen alle nach Deutschland und sagen: Wie kriegt ihr das eigentlich hin, dass Leute, die das Gefühl haben, sie haben nicht den Teil des Kuchens abgekriegt, der da so wunderbar aufgetischt worden ist, wie wird man die eigentlich in die gesellschaftliche Gemeinschaft zurückbringen? Oder wie kriegen die einen Platz da drin?
Und wenn wir in Deutschland nicht in der Lage sind, das umzumünzen in eine Idee von Zukunft, in der auch die einen Platz haben, die vielleicht doch die zweite und dritte Chance haben nehmen müssen, obwohl sie eigentlich die erste haben wollten, und dass wir ein bisschen von der Vorstellung abrücken, dass die Gewinner immer alles nehmen, also, dass wir nicht alle Philipp Lahms sind, das ist, glaube ich, eine Entwicklung und ist eine Interpretation, die uns in der nächsten Zeit bevorsteht. Und unsere europäischen Nachbarn schauen deshalb so gespannt, weil sie fragen: Kriegen die Deutschen das jetzt hin? Denn wenn es jemand hinkriegen sollte in Europa, diese Art, die Enttäuschten, die Zurückgebliebenen zusammenzuführen in einer gewissen Art von gesellschaftlicher Gemeinschaft, dann kann das doch nur in Deutschland passieren.
Wenn es dazu führt, dass wir die wieder links liegen lassen, dass Verliererabfindung kein Thema für uns ist, dann haben wir unsere Lektion nicht verstanden.
Deutschlandradio Kultur: Ist das denn eine Aufgabe, die jetzt die Politik betrifft? Ist das eine Aufgabe, die die Wirtschaft betrifft? Dieser Gedanke Wettbewerb, Konkurrenz, Verlierer, Gewinner ist ja eigentlich ziemlich implementiert bei uns, dass man da versucht ranzugehen? Oder wie lässt sich sowas gestalten?
Heinz Bude: Ich glaube schon, wir haben ja die Situation, dass viele Arbeitsmärkte leer gefegt sind, dass unsicher ist, wo eigentlich das Potenzial herkommen soll, mit dem Deutschland noch in 20 oder 30 Jahren vorne mitspielen kann, und ich glaube schon, dass es zur Schröderschen Idee der Stärkung der Konkurrenzfähigkeit keine Alternative gibt aus Deutschland.
Das gilt übrigens auch für Europa, was in mittlerer Frist vielleicht noch vier Prozent der Weltbevölkerung stellen wird. Da wird schon die Frage stehen: Mit was wollen wir hier eigentlich noch punkten? Und ich glaube, und das ist ein Punkt, wenn ich jetzt zum drittem Mal den Namen Gerhard Schröder nehme, der das in seiner Regierungszeit irgendwie nicht hingekriegt hat, den Leuten zu sagen, ja, ja, jeder muss versuchen seine Energien zu entfalten. Jeder muss versuchen seine Talente einzubringen. Und es gibt kein Recht auf Faulheit. Aber wir können auf niemanden verzichten. Und wir können auch nicht auf Leute verzichten, die dumme Sprüche sagen, die gar nicht wissen, was sie da tun und die eigentlich darauf warten, dass jemand zu ihnen kommt und sagt, jetzt sei doch mal vernünftig.
Das ist eine ganz schwierige Situation. Von wem lässt man sich eigentlich sagen, jetzt sei doch mal vernünftig? Denn vernünftig zu sein, heißt: Du kannst doch nicht Leute, die dir nicht gefallen, rausschmeißen aus dem Land. Es mag sein, dass es da ein paar Leute gibt, die du nicht magst, aber du musst auch in einem Land mit Leuten zusammenleben, die du nicht magst. Warum? Weil wir nur gemeinsam eine Zukunft haben.
Und das ist, glaube ich, das Problem. Gibt es Leute, die sagen, wir müssen hier ein klein wenig eine Tür aufmachen, damit wir eine gemeinsame Zukunft haben. Und so sehr ich Angela Merkel bewundere, das sage ich in aller Bewusstheit, ich glaube, ihr Regime der immerwährenden Gegenwart, dass wir immer nur die kleinen Probleme lösen und die großen auf sich beruhen lassen, diese Zeit des emotionalen Managements von Deutschland ist vorbei.
Deutschlandradio Kultur: Sagt Heinz Bude. Das war Tacheles. Für weitere Fragen an ihn empfehle ich die Universität Kassel. Dort lehrt er Makrosoziologie und schreibt auch Bücher wie "Bildungspanik“ oder "Gesellschaft der Angst“. Herzlichen Dank für Ihren Besuch Herr Heinz Bude.
Heinz Bude: Ich danke Ihnen.