Soziologe hält allgemeine Wehrpflicht in Israel für problematisch

Moshe Zuckermann im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 17.07.2012
Der israelische Soziologe Moshe Zuckermann kritisiert die Pläne der Regierung in Jerusalem, die Wehrpflicht auch für orthodoxe Juden und arabische Israels durchzusetzen. Zugleich warnt er vor einer zu starken Polarisierung.
Stephan Karkowsky: Im Staat Israel hat die Wehrpflicht eine ganz besondere Bedeutung. Umzingelt von Feinden gilt der Dienst an der Waffe als Ehre. Ab 18 müssen Männer drei Jahre, Frauen zwei Jahre in die Armee, Männer dürfen nicht einmal verweigern. Freigestellt vom Wehrdienst waren bislang nur die arabischen Israelis und die Ultraorthodoxen.

Die liberale israelische Kadima-Partei will das ändern: Sie will die israelische Wehrpflicht verbindlich für alle machen. Unterstützt wird sie dabei vom Obersten Gerichtshof, der hat die bisherigen Ausnahmeregeln aufgehoben. Bis zum ersten August muss die Regierung dem Parlament nun eine Neuregelung vorlegen. Doch die bisher diskutierten Kompromisse gehen der Kadima nicht weit genug, sie droht mit Austritt. Erklären lassen wollen wir uns das von Moshe Zuckermann. Der israelische Soziologe ist Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Guten Morgen, Herr Zuckermann!

Moshe Zuckermann: Guten Morgen!

Karkowsky: Was ist der Hintergrund dieser Geschichte? Warum also sind bislang ultraorthodoxe Juden und arabische Israelis von der Wehrpflicht befreit?

Zuckermann: Was die orthodoxen Juden anbelangt, handelt es sich vor allem um religiöse Juden, die zum großen Teil keine Zionisten sind, die den Staat Israel eigentlich als einen jüdischen Staat nicht anerkannt haben. Für orthodoxe Juden, für ultraorthodoxe Juden wie diejenigen, um die es hier geht, die sich also der Wehrpflicht entziehen, ist eigentlich der jüdische Staat erst dann denkbar, wenn der Messias gekommen ist.

Das ist auch vom Staat Israel mehr oder weniger auch akzeptiert worden, und man hat sich mehr oder weniger darauf geeinigt, dass die orthodoxen Juden zwar im israelischen Parlament vertreten sein können, aber beispielsweise nie Ministerposten annehmen würden, da das ja bedeuten würde, dass sie den Staat anerkennen. Aber das ist der Hintergrund, warum diese Leute eigentlich zunächst einmal nie den Staat Israel anerkannt haben und von daher auch die Wehrpflicht nie wahrgenommen haben. Und das ist wie gesagt über Jahrzehnte mehr oder weniger stillschweigend akzeptiert worden.

Karkowsky: Die Orthodoxen wollen also nicht, die arabischen Israelis dürfen nicht bislang. Immerhin 20 Prozent der Bevölkerung, warum nicht?

Zuckermann: Na ja, die arabischen Israelis wollen auch nicht unbedingt, denn schauen Sie, wenn das bedeuten würde, dass die arabischen Israelis beispielsweise in einen Krieg verwickelt werden gegen, was weiß ich, was, Syrien oder Ägypten, in der Vergangenheit oder heute als Teil des Militärs in den besetzten Gebieten, also im Westjordanland, gegen Araber, Palästinenser vorzugehen hätten, würden sie sehr oft auch in das Dilemma geraten können, gegen ihre eigenen Familien und so weiter vorgehen zu sollen. Das heißt also, die sind auch nicht gerade erpicht drauf, diesen Wehrdienst zu machen.

Die Kadima-Partei verfolgt dabei politische Ziele, sie will sich damit profilieren, Sie wissen ja, diese Partei, eine ganze Menge von ihrem politischen – ja, wie soll man sagen – von ihrem politischen Renommee verloren hat in den letzten Jahren und versucht sich jetzt also damit zu profilieren, weil in der Tat in der israelischen Gesellschaft im Moment eine Bewegung ausmachbar ist, die unter anderem davon die Schnauze voll hat, dass nämlich der Wehrdienst ungleich verteilt ist, darüber haben sich eine ganze Menge Israelis erbost in der letzten Zeit.

Karkowsky: Aber wie kam es denn konkret zu dem Urteil des Obersten Gerichtshofes, der die Freistellung der strenggläubigen Juden für verfassungswidrig erklärt hat?

Zuckermann: Verfassungswidrig brauchen wir nicht zu sagen, denn es gibt ja in Israel keine Verfassung – unter anderem deshalb, weil die Frage, wer ist Jude in Israel, ja noch nicht geklärt ist. Aber es ist in der Tat vom Obersten Gerichtshof verhandelt worden, und in der Tat ist es ja so, dass die Begründung, warum diese Leute den Wehrdienst nicht leisten, ja eine aformelle Begründung ist, dass sie sagen, für uns orthodoxe Juden ist ja im Grunde genommen die Lebenshaltung so, dass wir lernen. Wir lernen die Tora, wir lernen die (…), wir lernen also alle heiligen Schriften, und das ist unsere Leistung für die Erhaltung des jüdischen Volkes. Ich weiß, das hört sich für deutsche Ohren abstrus, also wenn man zivilgesellschaftlich denkt, aber das ist in der Tat ein orthodoxes Argument. Und das ist in der Tat das, was zivilgesellschaftlich im Moment infrage gestellt worden ist, und da kam es, wie gesagt, zu diesem Ausschuss, zu diesem (…) Ausschuss.

Karkowsky: Sie hören zu einer möglichen Neugestaltung der Wehrpflicht in Israel Moshe Zuckermann, den israelischen Soziologen. Herr Zuckermann, wie steht die Mehrheit der ja zumeist säkularen Israelis dazu? Nehmen die dieses Thema auch auf in ihrem Demonstrationen? Da gab es ja viele soziale Unruhen in den letzten Wochen?

Zuckermann: Die sozialen Unruhen haben sich beruhigt, aber gerade dieses Thema ist in den letzten Wochen sehr dezidiert aufgenommen worden, und die allermeisten säkularen Israelis sind in dieser Hinsicht ganz eindeutig gegen die Tatsache, dass sie, zumindest die orthodoxen Juden, aus dem Wehrdienst befreit sind.

Man muss allerdings dazu sagen, dass überhaupt das Verhältnis zwischen orthodoxen Juden und säkularen Juden in Israel ein altes Problem darstellt, weil wie gesagt die orthodoxen Juden keine Zionisten sind, wie die allermeisten säkularen Juden eben Zionisten sind, und von daher sehen sie diese Leute als etwas, was dem Land fremd ist, quasi die Leute, die sich am dezidiertesten als Juden darstellen, sind für die zionistischen, säkularen Menschen im Grunde genommen ein Dorn im Auge.

Man muss auch historisch verstehen, wie es dazu gekommen ist. Denn was ja der Zionismus in seiner Geschichte versuchte zu überwinden, war ja gerade das Städteleben, das orthodoxe Leben, das Leben als religiöse Gemeinschaft. Und dieses säkulare Moment ist im Grunde genommen im Verhältnis von Staat und Religion in Israel ja nie gelöst worden, und das ist ja genau das, was im Moment durch diese Frage des Militärdienstes auf den Punkt gebracht worden ist.

Karkowsky: Im Prinzip hat die Regierung Netanjahu ja keine andere Wahl als auch die Orthodoxen zum Dienst an der Waffe zu zwingen. Aber es treffen dort doch einige unvereinbare Positionen aufeinander: Israel gehört zu den ganz wenigen Staaten weltweit, in denen die Wehrpflicht für Männer wie Frauen gleichermaßen gilt. Darf ein orthodoxer Jude nach seinen religiösen Überzeugungen unter einem weiblichen Offizier eingesetzt werden?

Zuckermann: Na ja, also das wäre auf jeden Fall nicht denkbar, und es wäre in der Tat so, und es ist in der Tat so, dass diejenigen orthodoxen Juden, die eingezogen worden sind, dass sie in Einheiten untergebracht sind, die orthodoxe Einheiten sind. Das heißt also da, diese Gefahr besteht nicht. Es ist aber in der Tat so, dass das, was Sie gerade angesprochen haben, in der Tat ein Problem darstellt.

Es stellt ein Problem dar, weil was hier aufeinanderprallt, ist die Tatsache, dass es eine allgemeine Wehrpflicht gibt, aber es gibt eben diese zwei neuralgischen Momente, dass weder die Araber noch die orthodoxen Juden interessiert sind daran, an dieser Wehrpflicht teilzunehmen und dass der Staat Israel auch immer klug genug gewesen ist, das sozusagen dann in der Schwebe zu belassen.

Jetzt die Netanjahu-Regierung hat im Moment das Problem: Es gibt ja die Vertreter der Kadima-Partei und die Vertreter der Likud-Partei, die ja verhandelt haben in den letzten Wochen, um zu einem Kompromiss zu kommen und zu einer neuen Gesetzesvorlage zu gelangen. Und da hat sich für meine Begriffe aus politischen Gründen, gar nicht so sehr aus prinzipiellen Gründen, herausgestellt, dass weil die Netanjahu eben die Koalitionspartner der orthodoxen Juden nicht verlieren will, er versucht hat, denen entgegen zu kommen, indem beispielsweise die Quoten, wie viele eingezogen werden sollen und ab wie viel Monaten oder Jahren dürfen sie belangt werden, wenn sie nicht eingezogen werden, wohingegen die Kadima-Partei sich viel prinzipieller auf die Hinterbeine gestellt hat. Und wie es jetzt weitergehen soll, weiß man eigentlich nicht genau.

Karkowsky: Was sagen denn die Militärs eigentlich zu der ganzen Diskussion, haben die Angst, dass es die israelische Armee schwächen könnte, wenn auch arabische Israelis und Orthodoxe Dienst leisten müssen?

Zuckermann: Nein, nein, das Problem der Araber, die eingezogen werden, das ist kein Problem, das prinzipiell ist. Beispielsweise sind Beduinen sehr oft eingezogen worden, Drusen sind im israelischen Militär untergebracht. Und es geht bei den Arabern auch gar nicht so sehr, dass sie unbedingt jetzt ins Militär eingezogen werden, weil das auch die allermeisten Israelis einsehen, dass die Araber nicht unbedingt gegen Araber in den Konflikt gebracht werden sollen, dass sie gegen Araber kämpfen sollen.

Es geht darum, ob sie dann wenigstens Zivildienst leisten, darum geht es. Und ich glaube, da öffnen wir jetzt ein ganz anderes Problem, denn die große Frage ist, was heißt es denn eigentlich, den Arabern jetzt den Zivildienst oder den Wehrdienst abzufordern, wenn die Araber ansonsten insgesamt in der israelischen Gesellschaft schon seit über 60 Jahren als Bürger zweiter Klasse mehr oder weniger behandelt werden, vollkommen diskriminiert und unterprivilegiert, was die Zugänge zu den Eliten anbelangt, was die Ressourcenverteilung anbelangt und so weiter und so fort.

Wenn man jetzt formalitär sagt, die sollen auch Wehrdienst leisten, dann hat es zwar juristisch eine Grundlage, aber in der Politik selber müsste man sich dann in der Tat die Frage stellen, was will ich eigentlich von den Arabern, wenn ich sie ansonsten sozusagen als illegitim betrachte. Die arabischen Parteien würden nie von israelischen zionistischen Parteien als Koalitionspartner akzeptiert werden, was will man dann von denen dann Wehrdienst abverlangen?

Karkowsky: Ein Problem also mit sehr vielen Facetten. Trauen Sie der Regierung Netanjahu zu, es zu lösen?

Zuckermann: Die Frage ist, was sie für eine Lösung erachten werden, dass man zu irgendeinem Kompromiss kommen kann, bin ich durchaus der Meinung, aber ich glaube, das ist durchaus so, dass wenn man sich zu sehr polarisiert, dass die Kadima-Partei sich dann gezwungen sieht, aus der Regierungskoalition, in die sie eingetreten ist vor einigen Wochen, wie Sie sagten, wieder auszutreten. Und in der Tat steht ja in den gestrigen Tageszeitungen Israels, dass die Kadima-Partei vermutlich Neuwahlen anpeilt für Februar nächsten Jahres.

Karkowsky: Zu den Plänen der israelischen Regierung, die Wehrpflicht für alle durchzusetzen, der israelische Soziologe und Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv Moshe Zuckermann. Ihnen danke für das Gespräch!

Zuckermann: Ich danke Ihnen!


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