Soziologe: Frauen haben geringere Ansprüche

Stefan Liebig im Gespräch mit Holger Hettinger · 07.07.2010
Frauen verdienen bis zu 20 Prozent weniger als Männer. Dabei verlangen sie auch weniger Einkommen als vergleichbar qualifizierte Männer, fand eine Studie heraus. Frauen hätten andere Vergleichsmaßstabstäbe, erklärt der Soziologe Stefan Liebig.
Holger Hettinger: Zwei eher unauffällige Fragen waren es, die die Teilnehmer bei der Erhebung zum sogenannten sozioökonomischen Panel beantworten mussten. Die erste: Ist das Einkommen, das Sie in Ihrer jetzigen Stelle verdienen, aus Ihrer Sicht gerecht? Und die zweite Frage für die, die mit Nein geantwortet haben: Wie hoch müsste ein gerechter Nettoverdienst für Sie sein? Wie gesagt, unauffällige Fragen mit einem sehr überraschenden Ergebnis, denn die befragten Frauen waren mit weniger Gehalt zufrieden als vergleichbar qualifizierte Männer. Das ist erstaunlich in einer Zeit, in der der Grundsatz "Gleiches Geld für gleiche Arbeit" als Voraussetzung zur Geschlechtergerechtigkeit durchweg akzeptiert zu sein scheint. Über diesen doch sehr überraschenden Befund spreche ich nun mit Stefan Liebig. Er ist einer der Forscher, die an dieser Erhebung beteiligt waren, er ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und untersucht dort soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit. Schönen guten Morgen!

Stefan Liebig: Guten Morgen!

Hettinger: Herr Liebig, woran liegt das, das Frauen mit weniger Gehalt zufrieden zu sein scheinen als vergleichbar qualifizierte Männer?

Liebig: Das liegt sicherlich daran, dass Frauen andere Vergleichsmaßstäbe haben. Wenn Frauen ihr Einkommen bewerten, dann vergleichen sie sich in der Regel mit anderen Frauen. Das wissen wir, dass wir uns sozusagen immer mit den Leuten vergleichen, die mehr oder weniger ähnlich sind. Wir wissen auch, dass auf dem Arbeitsmarkt es eben eine Geschlechtertrennung sozusagen gibt. Es gibt typische Frauenberufe und es gibt typische Männerberufe. Die Besonderheit bei diesen typischen Frauenberufen ist einfach, dass sie ein niedrigeres Einkommen haben als vergleichbare Männerberufe, die möglicherweise die gleiche Qualifikation erfordern. Das heißt: Wenn Frauen sozusagen ihre Vorstellungen für ein gerechtes Einkommen bilden, dann vergleichen sie sich mit anderen Frauen, die in gleicher Weise weniger Einkommen haben als eben vergleichbar qualifizierte Männer. Das heißt also: Die Vorstellungen zum gerechten Einkommen sind das Ergebnis von Vergleichsprozessen oder sozialen Vergleichen eben mit Leuten, die weniger verdienen.

Hettinger: Die bisherige Lesart war die, dass man Diskriminierung vermutet hat hinter den Gehaltsunterschieden, dass die Unternehmen Frauen ohne erkennbaren Grund schlechter bezahlen. Muss man diese Annahme durch Ihre Studie in einem anderen Licht sehen?

Liebig: Was wir auf jeden Fall sagen können – und das ist sicherlich auch durch andere Studien schon gezeigt worden –, ist, dass Frauen einfach geringere Ansprüche haben, das heißt also: Zum Beispiel in Gehaltsverhandlungen treten sie einfach mit geringeren Ansprüchen auf. Und das ist sicherlich eine Ursache. Diskriminierung kann, das haben wir jetzt nicht untersucht, aber das mag eine andere Ursache sein. Also, es gibt sicherlich mehrere Ursachen und Diskriminierung mag eine sein, aber die geringeren oder eher niedrigeren Ansprüche der Frauen in zum Beispiel Gehaltsverhandlungen sind sicherlich ein weiterer Punkt. Wichtig ist in dem Zusammenhang gerade: Wie können wir das sozusagen belegen, dass es tatsächlich diese Vergleichsprozesse sind. Wir haben eine weitere Studie durchgeführt und haben gefragt, inwieweit Frauen, die mit Partnern zusammenleben, die die gleiche Qualifikation haben und den gleichen Beruf ausüben, wie unterscheiden sich deren Gerechtigkeitsvorstellungen über das eigene Einkommen von denjenigen Frauen, die entweder alleine leben oder mit anderen Partnern, die also höher qualifiziert sind. Und ein Befund ist, dass tatsächlich Frauen, die mit Partnern zusammenleben, die eben die ähnliche, gleiche Qualifikation, den gleichen Beruf ausüben, höhere Einkommenserwartungen haben oder höhere Ansprüche haben. Und das genau belegt aus unserer Sicht unsere Annahme, dass es tatsächlich diese Vergleiche sind. Das heißt dann auch: In dem Moment, wo es sozusagen transparent ist, wenn Frauen sozusagen sich nicht nur mit gleich niedrig verdienenden Frauen vergleichen können, dann verändern sich die Ansprüche und die Ansprüche werden höher.

Hettinger: Mit dem schneidigen Begriff "Gender Wage Gap" wird beschrieben, dass Frauen in der Realität 16 bis 20 Prozent weniger verdienen als gleich qualifizierte Männer. Nun könnte man ja die Ergebnisse Ihrer Erhebung auch so lesen, dass diese Praxis, dass diese Realität nicht als ungerecht empfunden wird. Nun könnte man ja ganz ketzerisch fragen: Warum also etwas ändern?

Liebig: Also, was wir natürlich nicht gefragt haben, ist, die Frauen, ob sie es tatsächlich gerecht finden, dass sie weniger verdienen. Wir haben sie ja nicht mit den höheren Einkommen gleich qualifizierter Männer konfrontiert und dann gefragt, okay, findest du es gerecht, dass dieser Mensch mehr verdient als du?

Hettinger: Hätten Sie da eine Antwort bekommen, oder wäre da das in einem Sturm der Entrüstung untergegangen, allein schon die Frage?

Liebig: Was wir natürlich wissen, ist aus einer wiederum anderen Studie, dass natürlich alle sagen: Ja, die Frage, soll Geschlecht bei der Festsetzung des Einkommens eine Rolle spielen, da sagen alle Nein, es sollte auf keinen Fall eine Rolle spielen. Also, es ist mehr oder weniger Konsens, dass gleiche Arbeit gleich entlohnt werden soll. Wenn wir aber genau nachschauen, was wir da gemacht haben in dieser Studie, so ein kleines Experiment gewesen, wir haben den Leuten so fiktive Personen vorgestellt, also Arbeitnehmer beschrieben nach ihrem Alter, nach ihrem Familienstand, nach ihrer Qualifikation und so weiter und haben gefragt, wie viel sollte denn diese Person gerechterweise verdienen. Und die vorgestellten Personen haben sich natürlich auch im Geschlecht unterschieden, und was wir tatsächlich herausfinden, ist, dass Männer – genau wie Frauen – den vorgestellten Frauen weniger Einkommen zuweisen als Männern. Auf den ersten Blick sagen die Menschen natürlich alle, ja, Geschlecht soll keine Rolle spielen, aber offenbar haben wir tatsächlich fest verankerte Normvorstellungen oder Vorstellungen darüber, was Männer und was Frauen tun und lassen sollen, dass diese dann, wenn es tatsächlich darum geht, konkrete Einzelfälle zu beurteilen, wirksam werden, sodass dann eben auch herauskommt, dass sogar Frauen anderen Frauen weniger Einkommen zubilligen als Männern.

Hettinger: Sie sprechen von fest verankerten Normvorstellungen. Wo kommen die her und wer hat die dort verankert?

Liebig: Ich glaube, dass wir das von Kindesbeinen an erlernen, indem wir uns anschauen, was macht denn der Papa und was macht die Mama? Ist der Papa immer unterwegs und arbeitet immer und die Mama immer zu Hause? Also, von daher werden solche Geschlechterstereotype, wie wir das auch bezeichnen, natürlich über die frühe Kindheit vermittelt, natürlich dann auch im weiteren Leben noch verstärkt. Was wir zum Beispiel an dieser Studie, die ich Ihnen gerade vorgestellt benannt hatte, auch gesehen haben, ist, dass Studierende eben diese geringere Einkommenszuweisung an Frauen noch nicht machen. Erst dann, wenn die Leute, die sozusagen fest im Arbeitsleben verankert sind, die machen genau diese Unterscheidung. Deswegen sind es zum Beispiel auch unsere Erfahrungen am Arbeitsplatz, die eben genau diese Rollenvorstellung, die wir haben und dann eben auch diese Idee, ja, dass Frauen eigentlich weniger verdienen sollten, vermitteln.

Hettinger: Könnte aber auch sein, dass diese Leute an der Uni, die Sie befragt haben, schlicht und ergreifend jünger sind, die mit anderen Rollenbildern auch groß geworden sind, für die die berufstätige Frau eher Normalität ist, also, dass es sich irgendwie auswächst?

Liebig: Wir wissen aus Studien aus den 70er-Jahren, die im Wesentlichen das gleiche Ergebnis gezeigt haben wie das, was wir jetzt finden. Also, diese Unterschiede zwischen Studenten und tatsächlich Erwerbstätigen haben wir in den 70er- und in den 90er-Jahren auch schon beobachtet.

Hettinger: Allerhand! Wie könnte man das ändern?

Liebig: Wie man das ändern könnte?

Hettinger: Na, gut, da scheint ja diese Erwerbsungerechtigkeit scheint ja tief in den Köpfen der Leute drin zu sein.

Liebig: Ich meine, wir wissen auch aus anderen Studien, dass auch im Laufe der Partnerschaft zum Beispiel Partnerschaften oder Partner, die sozusagen frisch verheiratet sind und eher so egalitäre, gleiche Vorstellungen haben, also, die Aufteilung im Haushalt, der Haushaltsarbeit möglichst gleich gemacht werden soll und so weiter, dass die mit der Zeit sich tatsächlich wieder in diese alten Rollenschemata einfügen, sodass also dann am Ende dann doch wieder es so ist, dass die Frau eben die meiste Hausarbeit macht und der Mann eben weniger macht, obwohl beide vielleicht gleich erwerbstätig sind.

Hettinger: Also, dieser Teufelskreis, den zu durchbrechen, da sehen Sie keine Chance?

Liebig: Ja, doch, ich will da jetzt nicht so schwarzmalen. Ich denke mir, dass es einfach ein längerfristiger Prozess ist und das ist, glaube ich, wichtig, gerade bei den Kindern natürlich solche Rollen, solche Verfestigungen von Rollenbildern eben zu vermeiden. Und ich denke mir, dass natürlich diese Entwicklung, die wir gerade haben, dass also auch natürlich Väter dann zu Hause bleiben und die Kinder versorgen, dass das eben sich vielleicht in ein paar Jahren dann tatsächlich darin niederschlägt, dass die jüngere Generation eben andere Rollenvorbilder und Rollenvorstellungen haben. Ich denke mir, ja, also, dass unsere Bundeskanzlerin eben eine Bundeskanzlerin ist, das wird eben sicherlich auch wirksam sein und dass es mittlerweile eben schon eher normal ist, dass es eben nicht unbedingt ein Mann sein muss, der eben an irgendwelchen Spitzenpositionen sitzt. Aber ich glaube, das ist ein längerfristiger Prozess einfach.

Hettinger: ... sagt Stefan Liebig, er ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und untersucht dort soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit. Ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!
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