Soziologe Andreas Reckwitz

Plädoyer für eine Abkühlung öffentlicher Debatten

30:04 Minuten
Der spanische Künstler Samuel Salcedo vor der, von ihm geschaffenen Plastik eines hyperrealistischen Gesichts, mit herausgestreckter Zunge.
Hyperrealistische Kunst von Samuel Salcedo: Andreas Reckwitz spricht im Blick auf unsere Gegenwart von einer neuen Emotionskultur. © picture alliance / dpa / Boris Roessler
Andreas Reckwitz im Gespräch mit Thorsten Jantschek · 18.01.2020
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Kaum eine öffentliche Debatte wird derzeit sachlich geführt. Überall sind heftige Gefühle im Spiel. Das sei typisch für unsere spätmoderne Lebensform, meint Soziologe Andreas Reckwitz. Er plädiert für eine Entemotionalisierung im öffentlichen Raum.
Ein Satire-Lied, in dem die Oma, die sonst im Hühnerstall Motorrad fährt, zur Umweltsau wird, löst einen gesellschaftlichen Skandal aus. Ein Mini-Video einer 18-jährigen Influencerin, die sich vor dem Dritten Weltkrieg fürchtet, dominiert für eine Woche die digitalen Medien und ist Ursache für einen riesigen Shitstorm. Und die öffentlichen Proteste von Fridays for Futures gegen Siemens führen letztlich dazu, dass eine 23-jährige Umweltaktivistin einen Aufsichtsratsposten angeboten bekommt. Was ist eigentlich los in unserer Öffentlichkeit?
Porträt des Soziologen und Kulturwissenschaftlers Andreas Reckwitz.
Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz plädiert für eine stärkere Regulierung der Hass- und Shitstormkultur.© imago images / Future Images
Für den Soziologen Andreas Reckwitz sind das nicht zufällige Ereignisse einer von den sozialen Medien dominierten Öffentlichkeit. Vielmehr gehört das für ihn zu einer neuen Emotionskultur, die sich in der Spätmoderne entwickelt hat, in der authentische Selbstverwirklichung ins Zentrum unserer Lebensform gerückt ist. Und diese Selbstverwirklichung ist gerichtet auf positive Gefühle, die auf ihrer Rückseite viele negative Emotionen mit sich bringt.

Emotionsregulierung als öffentliche Aufgabe

Für Ambivalenzen, so Reckwitz, "hat die spätmoderne Kultur eigentlich immer weniger einen legitimen Raum. Alles soll positiv sein und wenn es negativ ist, dann sollte es möglichst verschwinden." Gerade im Blick auf die aufgeheizten öffentlichen Debatten gelte es, nach einer Abpufferung der überschießenden Emotionalität zu suchen. "Es wäre ja durchaus möglich", so Andreas Reckwitz, "dass sich jetzt auch Gegenkulturen herausbilden, die zum Beispiel eine alternative Emotionskultur versuchen. Das ist natürlich erst mal gegen den Mainstream und auch gegen das System, wenn man so will, aber ausgeschlossen ist es ja nicht." Unterstützt werden könnte das erst einmal über eine stärkere Regulierung der Hass- und Shitstormkultur. "Wenn es um bestimmte mediale Räume geht, ganz konkret soziale Medien, kann man bestimmte Kontrollinstanzen oder Regelungsinstanzen durchsetzen, um klarzumachen, was geht und was nicht geht. Also, damit wird man die Affekte nicht eliminieren. Das sollte man auch gar nicht, aber dort stärker eine Regulierung reinzubringen, ist schon auch, denke ich, eine öffentliche Aufgabe."

Das Gespräch im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Ist das emotionale Dauerfeuer in öffentlichen Debatten eher ein Zufall oder mittlerweile ganz normal geworden?
Reckwitz: Also, ich denke nicht, dass es ein Zufall ist. Ich meine, natürlich ist es so, dass man sagen kann, dass die sozialen Medien in vieler Hinsicht natürlich Emotionen in besonderer Weise auch hervorbringen, sowohl negative als auch positive Emotionen, dass die auf diese Art und Weise auch kommuniziert werden, dass man das auch in vieler Hinsicht quasi medientheoretisch erklären kann.
Aber ich denke eigentlich, dass die Ursachen doch noch einmal tiefer liegen und dass man sich das nochmal etwas genauer anschauen muss, nämlich dass wir eigentlich in der spätmodernen Kultur in den letzten Jahrzehnten in vieler Hinsicht einen grundsätzlichen Wandel unserer Emotionskultur haben, also der Kultur der Gefühle, der Affekte usw., und dass diese Emotionskultur mittlerweile eigentlich eine sehr interessante, aber auch manchmal verhängnisvolle paradoxe Struktur erhält, nämlich eine Paradoxie von positiven und negativen Emotionen, die auf eine merkwürdige Art und weise eigentlich miteinander verkoppelt sind.

Kultur der Selbstverwirklichung

Deutschlandfunk Kultur: Aber wie kann es denn dazu kommen, dass die Emotionen so ins Zentrum dieser – wie Sie es gesagt haben – "spätmodernen Kultur", also unserer Kultur gerückt sind? Denn in den 1950er bis 70er Jahren, in der Industriemoderne hatten die Emotionen ja einen ganz anderen Stellenwert. Die wurden eigentlich eher distant wahrgenommen. Es gibt ja so ein berühmtes Buch. Das heißt "American cool", wo gesagt wird, "na ja, die Emotionen sind das, was wir eher außen vor lassen. Produktivität, Leistungsbereitschaft, was wir heute auch noch kennen, spielen eine größere Rolle, Probleme lösen und so weiter – im Grunde genommen Rationalität.
Reckwitz: Genau. Ich denke, das ist wirklich genau der entscheidende, der interessante Punkt, dass wir da eigentliche eine Transformation der Emotionskultur ungefähr seit den 1970er, 80er Jahren haben, dass gewissermaßen überhaupt Emotionen nicht nur legitim werden, sondern dass sie in vieler Hinsicht auch gesellschaftlich als das Zentrum eines gelingenden Lebens dargestellt werden, also die Lebendigkeit der Emotion, die Lebendigkeit der Intensitäten, des positiven Erlebens usw. Das war vorher überhaupt nicht so.
Wenn man sich das anschaut, selbst in der Geschichte, wenn man länger zurückschaut in die Kulturgeschichte, gerade in der Philosophie hat es immer eine große Skepsis gegenüber den Emotionen gegeben. Also, überhaupt sich den Emotionen hinzugeben, erschien gewissermaßen verhängnisvoll. Gerade die Distanz zu den Emotionen wurde doch häufig gepflegt – ob es in der Antike war oder im Christentum oder im Rationalismus.
Und tatsächlich, auch wenn wir uns die klassische Industriegesellschaft, die industrielle Moderne der 50er, 60er, vielleicht auch noch 70er Jahre anschauen, da haben wir tatsächlich eine sehr stark kontrollierte Emotionskultur. Norbert Elias sprach ja mal von der Affektkontrolle, die ja auch charakteristisch ist für die Moderne. Affekte werden quasi "zurückgezüchtet", sodass sie gerade nicht nach außen gezeigt werden, weil das eher auch ein Zeichen von Schwäche ist oder eben auch etwas, was das soziale Leben stören könnte. Das hat sich seit den 70er Jahren, ich würde sagen, noch intensiviert seit den 90er Jahren, doch komplett umgedreht. Warum? Da gibt es sicherlich verschiedene Faktoren, die eine Rolle spielen.

Die Dominanz positiver Gefühle

Ein wichtiger Faktor ist, würde ich sagen, wirklich, dass die Kultur des Selbst sich verändert hat und, das ist sicher auch ein treibender Faktor, auch die Psychologie. Die Psychologie ist ja nicht nur eine Humanwissenschaft, sondern sie ist ja auch etwas, was via Psychologisierung ganz stark in unser Alltagsleben eingedrungen ist. Also, man braucht nur irgendwelche Magazine zu lesen oder Erziehungsratgeber. Da erleben wir den Siegeszug der sogenannten "positiven Psychologie", die auch eine interessante Geschichte hat, sodass diese Vorstellung, dass das Subjekt eigentlich dazu da ist, nicht einfach nur seine Pflichten zu erfüllen oder nach Status zu streben, sondern sich wirklich als authentisches Selbst zu entfalten und dabei auch ein reichhaltiges emotionales Leben zu entfalten.
Das ist eine Vorstellung, die aus der positiven Psychologie stammt und die dann auch zum Beispiel über die 68er oder auch über die Bildungsexpansion der 70er Jahre sehr stark in die Kultur eingesickert ist. Also, Selbstverwirklichung, positive Emotionen ins Leben einzubauen in allen Bereichen, das ist auf jeden Fall ein Faktor, der wichtig ist, damit diese Emotionskultur so transformiert werden konnte.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben das eben an den 68ern deutlich gemacht. Das ist natürlich mittlerweile in die Gesellschaft eingesickert. Aber wie konnte es denn genau dazu kommen? Denn man muss ja sagen, dass die 68er eigentlich im Grunde genommen eher dissidentisch unterwegs waren, also als Gegenkultur zur bürgerlichen Kultur, die sie umgeben hat.
Insofern ist die Selbstverwirklichung eigentlich über die 70er, 80er, vor allem 80er Jahre, so habe ich das wahrgenommen, immer stärker geworden. Aber wie konnte es dazu kommen, dass das dann auch noch mit diesen positiven Emotionen so stark geworden ist, dass man jetzt sagen kann, "die Emotionalität und Selbstverwirklichung stehen im Zentrum unserer Kultur"?
Reckwitz: Also, natürlich, die 68er waren erst mal eine Subkultur. Es war auch eine Gegenkultur. Aber das ist ja ohnehin dieser interessante Prozess in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, dass – etwas überpointiert gesagt – gewissermaßen die Gegenkultur zum Mainstream geworden ist, natürlich nicht 1:1, sondern nur bestimmte Elemente. Ein wichtiger Faktor ist da natürlich die Bildungsexpansion. Positive Psychologie ist da eingesickert über verschiedene Kanäle, auch zum Beispiel über die Erziehungsratgeber. Auch Kinder und Jugendliche werden anders erzogen. Sie werden nicht mehr erzogen gewissermaßen zur Unterdrückung ihrer Emotionen. Sie werden eher dazu erzogen, auch auf sich selber zu schauen, was eigentlich ihre Gefühle sind, wie sie sich dabei fühlen, wie sie auch ihr Selbst entfalten können. Das ist auf jeden Fall ein wichtiger Strang, also die Bildungsexpansion, und damit ja auch der Aufstieg einer neuen Mittelklasse, also einer akademisch gebildeten hoch qualifizierten Mittelklasse, gerade auch in den Metropolregionen, die in vieler Hinsicht ja auch Träger neuen Selbstverwirklichungskultur sind und damit auch der positiven Emotionskultur. Das ist ein Faktor.

Kultureller Kapitalismus

Es kommt aber auch natürlich ein ganz starker ökonomischer Faktor dazu. Auch der Kapitalismus der letzten Jahrzehnte ist ja einer, der weniger ein Industriekapitalismus ist, als ein kultureller Kapitalismus, auch, wie es dann in der Literatur teilweise heißt, ein "Expierience Economy", also eine Ökonomie des Erlebens. Wir werden ja ständig auch über die Angebote der Ökonomie eigentlich dazu verführt, nach positivem Erleben zu suchen. Es geht ja nicht einfach darum, bestimmte Güter zu besitzen.
Deutschlandfunk Kultur: Man kauft sich keine Turnschuhe, sondern ein Lebensgefühl.
Reckwitz: Genau, ein Lebensgefühl. Da haben wir ja wieder den Gefühlsbegriff. Also, es geht um die Vermittlung von natürlich positiven Lebensgefühlen, von attraktiven Lebensgefühlen, von authentischen Gefühlen im Zusammenhang auch mit dem Konsum. Also, Authentizität und Attraktivität sind hier auch zwei Leitwerte, könnte man sagen, dieser positiven Emotionskultur. Das wird auch über die Ökonomie transportiert.
Und dann könnte man sagen: Das letzte Element, das wir ja schon erwähnt hatten, die Digitalisierung, ist dann auch wiederum eines, das eigentlich dazu führt, dass jedenfalls die Darstellung von Emotion, also das, was im Inneren abläuft, lässt sich natürlich nicht darstellen, aber auf jeden Fall die Darstellung nach außen von positiven Emotionen, schauen wir Instagram an und so weiter, also, wo es dann immer um Authentizität und Attraktivität geht. Und dieses positive Lebensgefühl, das wird natürlich jetzt über die sozialen Medien noch mal sichtbarer und auch für andere sichtbar, sodass wir hier also nicht nur eine Selbstentfaltung haben, sondern auch eine – man könnte sagen – "performative" Selbstentfaltung. Also, das spätmoderne Subjekt will nicht nur sich selbst verwirklichen, sondern es will das anderen gegenüber auch zeigen, dass es ein authentisches Leben führt, ein attraktives Leben. Und andere sollen das eben auch sehen.
Deutschlandfunk Kultur: Sie sprechen da von "doppelter Buchführung". Selbstverwirklichung nach innen, also, ich muss mehr authentisch sein und diese ganzen positiven Emotionen haben, und auf der anderen Seite eben die Wirkung nach außen, die authentische Wirkung nach außen über die Darstellung dessen.
Aber erzeugt das nicht auch einen besonderen Druck auf das Haben von positiven Emotionen? Also, um das leisten zu können, diese Performanz nach außen, muss man sie erst mal haben, diese authentischen tollen Gefühle.

Heute müssen Gefühle sichtbar sein

Reckwitz: Genau. Also, erst mal ist natürlich diese doppelte Buchführung wirklich das aus soziologischer Sicht Interessante, aber für die Betroffenen natürlich auch das Vertrackte an der spätmodernen Subjektkultur. Das ist ja auch ganz anders als, sagen wir mal, Gegenkultur in den 70ern, wo es darum ging: Man will sich selber authentisch fühlen. Die anderen sind einem egal. Aber jetzt ist es überhaupt nicht so, sondern jetzt ist es ja so: Man soll sich und will sich selber authentisch fühlen, zum Beispiel im beruflichen Bereich, in der Partnerschaft, im Freizeitbereich. Und für andere soll das eben auch sichtbar sein.
Da haben wir aber natürlich auch schon eine erste mögliche, man könnte sagen, "Frustrationszone", dass nämlich diese beiden Teile oder diese beiden Ebenen auseinanderfallen können. Es ist ja sehr gut möglich, man fühlt selber eigentlich, man hat ein positives Erleben, aber für die anderen ist das überhaupt nicht sichtbar zu machen. Oder andere erkennen das überhaupt nicht an. Also, der soziale Status leidet vielleicht sogar darunter. Das ist nicht gut. Und umgekehrt kann es natürlich auch sein, dass man anderen gegenüber etwas Fantastisches, Außergewöhnliches darstellt. Man bekommt von außen auch Anerkennung. Aber man selber fühlt sich dabei gar nicht entsprechend.
Das sind solche, man könnte sagen, Diskrepanzen in der Emotionskultur, die natürlich auch Enttäuschung in vieler Hinsicht charakteristisch werden lassen.
Deutschlandfunk Kultur: Bevor ich jetzt noch auf die Enttäuschungen gleich zu sprechen komme, wollte ich Sie nochmal genau nach dem Status dieser Äußerungen, also dieses Zeigens von positiven Emotionen nach außen, der Kontrolle auch des eigenen Selbstbildes nach außen fragen.
Ein Beispiel: Ich hatte das eben schon angesprochen. Luisa Neubauer von Fridays for Future wurde von dem Siemens-Chef Joe Kaeser eingeladen, um mit ihm zu sprechen. Und da kam es dann zu diesem Angebot des Aufsichtsratsposten. Das hat sie natürlich ausgeschlagen, weil, das würde in ihrer Community überhaupt nicht gut ankommen. Aber sie hat sich auch nicht mit ihm fotografieren lassen am Ende, weil sie sozusagen die Kontrolle ihrer Performance aufrechterhalten wollte. So deute ich das jetzt in dem, was Sie sagen.
Wie wichtig ist dieses "Außenwerbungsmarketing" mittlerweile in unserer Kultur geworden, bei der man ja sagen kann, dass das nicht mehr selbstverständlich ist, was nach außen geht, sondern dass das natürlich in gewisser Weise kuratiert, gepflegt usw. wird?
Reckwitz: Das ist tatsächlich eine Neuentwicklung. Ich denke natürlich vor allem an die Digitalisierung in den sozialen Medien in den letzten zehn Jahren, wo wir auch noch gar nicht so genau wissen, in welche Richtung das noch weitergehen wird. Man könnte sagen, dass natürlich Individuen, auch Erving Goffman hat ja mal vom "dramaturgischen Selbst" gesprochen, dass sie natürlich immer nach außen hin auch etwas darstellen. Das ist ja nichts Neues. Da gehört ja eigentlich zum sozialen Leben immer schon dazu. Also, das soziale Leben hat immer auch einen Inszenierungsaspekt, wenn man so will. Aber dieser Inszenierungsaspekt wird jetzt natürlich durch die Digitalisierung auf die Spitze getrieben, weil natürlich jetzt im Extrem fast auch der eigene Alltag lückenlos dokumentiert wird oder sogar dann am Ende eine Erwartung entsteht, ihn lückenlos zu dokumentieren, also, bis in die Details des Alltagslebens hinein, so dass das Essen fotografiert wird oder mit wem man sich gerade aufhält.
Das ist natürlich interessant insofern, dass man sagen kann, dass hier auch natürlich ein sehr stark rationalisierendes Element eigentlich hinein kommt in die Subjektkultur. Die Subjekte wollen einerseits authentisch sein. Sie wollen attraktiv sein. Aber sie müssen auch sehr stark das Ganze mittlerweile rationalisieren. Sie müssen sich auch selber sehr stark unter Kontrolle haben, was natürlich auch, könnte man sagen, einen Widerspruch entstehen lässt, also diese Stärke der Emotion, aber auch die Notwendigkeit einer sehr minutiösen und auch klugen Selbstkontrolle.

Synthese von Bürgerlichkeit und Romantik

Deutschlandfunk Kultur: Heißt das, dass diese Art von Lebensform eine innere Spannung, Sie haben den Widerspruch eben diagnostiziert, ein Paradox hat, indem man sagt: Selbstverwirklichung ist das eine, aber eben nicht "hippieesk", sondern Erfolg ist die andere Seite davon?
Reckwitz: Genau. Also, wir haben jetzt hier, ich würde sagen, eine Kopplung von Innenorientierung und Außenorientierung. David Riesman, also der Soziologe, der in den 40er, 50er Jahren ja einmal "The lonely crowd" geschrieben hat, also über die Subjektkultur der Nachkriegszeit, hat ja mal "innenorientierte und außenorientierte Charaktere" unterschieden. Man könnte sagen, dieses "spreadment" eines Subjektes, innenorientiert und außenorientiert, heute zugleich stattfinden muss. Also, es will und soll auch innenorientiert sein. Es schaut auch immer auf die eigenen Gefühle. Wir können gar nicht mehr anders, als immer auf die eigene Gefühlswelt zu schauen, wie sie sich entwickelt, wie da gerade wieder der Stand ist.
Und gleichzeitig haben wir aber eben auch diesen Zwang zur Außenorientierung. Man könnte auch sagen, soziologisch gesprochen, fast so eine Koppelung von Romantik und Bürgerlichkeit. Also, die Romantik war ja die Kultur in der Moderne, die ja die Selbstverwirklichung und Individualitätsorientierung nach innen hin eigentlich erst erfunden hat um 1800. Die bürgerliche Kultur war ja eigentlich immer genau der Antipode zur Romantik. Also, Bürgerlichkeit bedeutet ja Statusorientierung, Erfolgsorientierung, Leistungsorientierung, auch gerade zu schauen, wie die anderen einen wahrnehmen.
Jetzt haben wir aber eigentlich in der spätmodernen Kultur, gerade in der neuen Mittelklasse, eine Art paradoxe Synthese von Bürgerlichkeit und Romantik, von Außenorientierung und Innenorientierung.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Reckwitz, als ich mich heute Morgen auf unser Gespräch vorbereitet habe, war ich im Café und habe ein Gespräch von zwei jungen Frauen gehört. Das Ganze ging damit los, dass sie sich über ihr ethisch korrektes Mobiltelefon verständigten, um dann das ganze Fass dessen aufzumachen, dem sie ausgeliefert sind: ethisch korrekt essen, ethisch korrekt sprechen, ethisch korrekt reisen und so weiter.
Und dann sagten die: "Ich weiß gar nicht, wie ich das noch aushalten soll. Andauernd muss ich mich richtig verhalten in meinem Leben." – Ist das eine Kennzeichnung, dass das, was wir eben beschrieben haben, Wirkung nach innen, Wirkung nach außen, zu einer Überforderung führt, unter dem die Subjekte dann auch womöglich leiden können oder auf eine Weise mit negativen Gefühlen reagieren?

Ethische Überforderungen?

Reckwitz: Ja. Also, man könnte natürlich von Überforderung reden, aber auch noch mal etwas genauer hinschauen: Was ist eigentlich die Ursache für diese Überforderung? Gerade, wenn wir jetzt dieses Beispiel nehmen, dann könnte man natürlich sagen: "Das, was ja fürs spätmoderne Selbst auch sehr charakteristisch ist, ist eben eine extreme Sensibilisierung." Und Sensibilisierung heißt ja auch erst mal auch Ausbildung eines Differenzierungsvermögens. Man kann Dinge unterscheiden, die man vorher vielleicht gar nicht unterschieden hat. Diese Dinge, die man da sensibel beobachtet und wahrnimmt, sind dann eben immer auch irgendwie mit Gefühlen verbunden.
Das haben wir ja auch im ästhetischen Bereich. Also, ob die Dinge jetzt schön oder hässlich sind, ob sie zusammen passen usw.. Da sind wir ja auch mittlerweile sehr stark sensibilisiert, wenn man sich Fotos ansieht aus den 50er, 60er Jahren, wo einem auf einmal alles so stillos vorkommt, weil wir mittlerweile ja ein ganz anderes Differenzierungsvermögen haben. Das haben wir aber mittlerweile auch im Ethischen, was Sie gerade angesprochen haben.
Das heißt, dass man auch hier jetzt auf eine Weise sensibilisiert ist zum Beispiel auch für die ethischen Konsequenzen bestimmter Waren oder bestimmter Lebensformen, bestimmter Aktivitäten, was so vorher nicht der Fall war.
Also, ich denke, dass diese sehr starke Sensibilisierung ja auch zusammenhängt mit dieser Zentrierung auf die Emotionskultur, von der wir ja gesprochen haben. Und diese Sensibilisierung hat natürlich Licht- und Schattenseiten. Also, man kann sagen: "auch wieder im Positiven". Wenn man sensibilisiert ist, kann man ja auch intensiver Momente erleben in einer Weise, in der das vorher gar nicht der Fall war. Also, man denke an, was weiß ich, wenn man verreist und wenn man dann sensibilisiert ist für alles, was einem da passieren kann, dann wird das Ganze ja auch sehr viel intensiver. Das ist ja jetzt eigentlich sehr positiv. Aber Sensibilisierung bedeutet natürlich auch, dass man jetzt auf einmal für problematische Dinge mehr sensibilisiert ist, auch für negative Konsequenzen. Oder man denke auch an die Ernährung. Das ist ja auch ein sehr gutes Beispiel. Es gibt auch Überempfindlichkeiten in der Ernährung, viel stärker als vorher, wobei man sich auch fragt: Hängt das auch mit einer sehr starken Sensibilisierung des Subjekts zusammen? Sensibilisierung heißt eben auch, dass man für Ambivalentes, für Schwieriges, auch für Negatives eben auch stärker sensibel geworden ist. Das kann natürlich auch wieder zu einer Belastung für die Subjekte werden.
Deutschlandfunk Kultur: Und auch die Störung des eigenen positiven Lebensgefühls durch andere, also wenn jemand nicht politisch korrekt spricht, sich nicht angemessen kleidet oder verhält, dann wird das ja automatisch als Störung verstanden und kann zu dann eben Wutausbrüchen führen – zum Beispiel im Netz.

Die Logik negativer Gefühle

Reckwitz: Ja. Aber ist ja auch wirklich das Interessante. Insofern kann man jetzt sagen, dass auch diese positive Emotionskultur muss – also, ich würde nicht sagen – "uns sehenden Auges ins Unglück stürzt", aber dass sie uns doch auch eigentlich auf eine falsche Fährte lenkt. Der Punkt ist natürlich in dem Moment: Wenn sich Menschen so stark sensibilisieren für ihre Emotionen, dann ist es unweigerlich so, dass eben nicht nur die positiven, sondern auch die negativen Emotionen damit spürbarer werden. Also, man ist auch sensibel geworden für Störungen – für Störungen in der Partnerschaft, im Arbeitsbereich, auch im öffentlichen Raum beispielsweise.
Und es gibt ja auch häufig ambivalente Gefühle. Das muss gar nicht jetzt eindeutig negativ sein, aber es ist nicht so ganz eindeutig. Ist das jetzt positiv oder negativ? Es gibt ja auch so was "Angstlust". Das kennt man ja alles schon seit Langem aus der Literatur, gerade diese Kopplung von positiven und negativen Gefühlen aneinander.
Dafür – könnte man aber sagen – hat spätmoderne Kultur eigentlich immer weniger einen legitimen Raum. Also, entweder es soll positiv sein. Das ist ja das Ideal. Und wenn es negativ ist, dann sollte es möglichst verschwinden. Aber gerade dieser Raum des Ambivalenten, das wurde ja häufig beklagt, auch diese Frage nach Ambiguitätstoleranz, ob das eigentlich schwindet in der spätmodernen Kultur, Thomas Bauer hatte ja da ein Buch zu geschrieben. Und das kann man tatsächlich auch mit dieser sehr stark intensivierten Emotionskultur in Zusammenhang bringen.
Deutschlandfunk Kultur: Bei dieser starken Sensibilisierung frage ich mich noch mal nach dem Status von Moral oder Ethik. Also, wenn man – jetzt gerade mal einen Blick noch mal auf Fridays for Future – auf diese Protestbewegung schaut, dann würde man ja nicht sagen, die negativen Gefühle, die da artikuliert werden, sind nicht Wut oder Hass oder so was, sondern es sind Empörungsäußerungen. Und Empörung ist, in meinem Verständnis jedenfalls, eine moralische Empfindung oder ein ethisches Gefühl, wenn man so möchte.
Kann man denn sagen, dass unsere Kultur ein Übermaß an Moralität mittlerweile mit sich bringt? Man hat das Gefühl, man ist andauernd von irgendwelchen Imperativen umstellt. Oder, wenn man jetzt eine sehr feine Differenzierung aufmacht zwischen Ethik und Moral, also "ethisch" das persönliche gute Leben meint und Moral das allgemeine "richtige" Leben, dann könnte man sagen: "Ja, vielleicht haben wir zu viel Ethik und zu wenig Moral."
Reckwitz: Ja. Also, das ist ja tatsächlich, würde ich sagen, eine relativ neue Entwicklung. Man hat ja, auch in der Soziologie zum Beispiel, lange Zeit eher von einer "Ästhetisierung" der Lebensstile gesprochen. Auch auf die 80er, 90er Jahre bezogen, also, dass die Lebensformen immer mehr für die sinnliche Wahrnehmung, für das Schöne in der sinnlichen Wahrnehmung sich sensibilisieren. Das spielt ja auch weiterhin eine Rolle, diese Ästhetisierung.
Und jetzt haben wir aber auch noch mal stärker, würde ich sagen, als vorher eben eine Ethisierung der Lebensstile. Und man spricht ja auch in der Konsum-Soziologie mittlerweile vom "ethischen" Konsum, also, dass man auch über den Konsum ethische Kriterien in einer Weise heranzieht, wie das vorher gar nicht der Fall war, also zum Beispiel, wenn es um die Ernährung geht, aber selbst, wenn es um Energie geht usw. Also, es werden ethische Kriterien angewandt. Ich würde sagen, auch das ist ja eigentlich sogar eine sehr alte, auch bürgerliche Tradition, dass man also auf Ethik und Moral schaut, also dass das über das Subjekt aussagt, ob es sich ethisch verhält.
Aber dieses Ethische ist eben wirklich etwas, würde ich sagen, das auch sehr stark in diese alltägliche Lebensform eingebaut wird, wo es auch um eine Ethik des Selbst geht, während die Frage nach einer allgemeinen Moral ja schon sehr viel schwieriger ist. Also, da müsste man sich ja auch gesellschaftlich darüber verständigen. Das fällt ja offenbar immer schwerer. Also, es ist teilweise, könnte man sagen, eher so eine Verlagerung eigentlich von der allgemeinen Moral in die Privatheit der ethischen Lebensführung. Und das wird dann aber auch für die Subjekte gerade im Alltag besonders virulent.

Auswege aus der Emotionsspirale

Deutschlandfunk Kultur: Wie kommen wir denn raus aus so einer Emotionalisierungsspirale, könnten geradezu fragen? Oder ist das überhaupt nötig?
Reckwitz: Also, nötig ist es dann, wenn man sich anschaut, ob diese Emotionalisierungsspirale doch durchaus ein gewisses Leiden hervorruft in den Subjekten. Da würde ich sagen, dass das mittlerweile so ist, also, dass wir eben auch diese Schattenseiten in der intensiven Emotionalisierung wahrnehmen.
Wir sind ja jetzt auf einige Gründe dafür eingegangen. Ich meine, andere Gründe wären ja zum Beispiel auch, dass hier die spätmoderne Gesellschaft sehr stark ökonomisiert ist, sehr stark mit Wettbewerbskonstellationen arbeitet in verschiedensten Bereichen und diese Wettbewerbe ja auch immer Gewinner und Verlierer hervorbringen und uns in vielen Bereichen auch zu Verlierern machen. Aber dieses Verlieren ist selber auch wieder mit negativen Emotionen verbunden.
Das Problem ist auch, dass wir hier in der spätmodernen Emotionskultur ganz wenige, könnte man sagen, kulturelle Instrumente haben, um mit negativen Erfahrungen, auch mit dem, was man vielleicht "Unverfügbarkeit" oder "Unkontrollierbarkeit" nennen könnte, umzugehen. Also, ob das jetzt Unkontrollierbarkeiten im Bereich des Berufs sind oder der Partnerschaft oder der eigenen Gesundheit usw., da gibt es sehr viele Dinge, die sich überhaupt der Kontrolle und der Steuerung auch entziehen. Die werden aber auch negative Emotionen zur Folge haben. Irgendwie fehlt uns da ein Instrument. Es geht immer darum, dieses Negative wieder zu überwinden und wieder ins Positive überzugehen.
Was wäre jetzt also eine Alternative? Das ist natürlich sehr schwierig, zumal es ja auch nicht einfach sich so politisch lösen lässt. Man kann natürlich immer fragen: "Gibt es auch bestimmte politische Rahmenbedingungen, die sich verändern lassen?"
Interessant ist es, wenn man sich zum Beispiel bestimmte Ratgeberliteratur anschaut, die auch mittlerweile versucht, mit diesen Problemen umzugehen. Und man kann fragen: "Warum eigentlich diese Fixierung auf die Emotion?" Ist nicht überhaupt ein Leben, das so stark sich danach richtet, wie man es erlebt, ob jetzt positiv oder negativ. Ist das nicht etwas, was man auch in mancher Hinsicht wieder zurückfahren könnte? Also, sollte es nicht darum gehen, überhaupt ein distanzierteres Verhältnis zu Emotionen insgesamt zu gewinnen? Natürlich erst mal zu den negativen Emotionen, das ist ja auch etwas, was Sie teilweise in der Ratgeberliteratur finden: "Also, Emotionen kommen und gehen. Man sollte sich nicht darauf fixieren." Aber die Kehrseite wäre natürlich, dass man dann auch die positiven Emotionen nicht mehr so intensiv wahrnimmt. Auf diesen Deal, auf den müsste man sich einlassen. Das wird sicherlich häufig nicht so leicht fallen – die Distanz sowohl zu den negativen als auch zu den positiven Emotionen.
Also, man könnte da auch zum Beispiel an die alte antike Tradition des Stoizismus denken, wo es ja darum geht, Emotionen, könnte man sagen, "abzupuffern". Ob diese Abpufferung der Emotionen, jedenfalls eine relative Abpufferung, uns nicht in vieler Hinsicht guttun würde, das wäre die Frage.

Neue Sachlichkeit

Deutschlandfunk Kultur: Also, ich bin sicher, dass sie uns guttun würde, Sie plädieren ja in gewisser Weise jetzt gerade dafür, vor allem im Blick auf die öffentlichen Diskurse und die Aushandlung dessen, was uns wirklich betrifft – also, politisch, ökonomisch usw. usf.
Die Frage ist nur: Wie kann eine solche Abpufferung gelingen? Wie kann man ein distanteres Verhältnis zu seinen Gefühlen bekommen, nicht nur persönlich, sondern gesellschaftlich, wenn wir, Sie haben es vorhin erwähnt, in einem kapitalistischen System leben, in dem die Güter sich ja radikal verändert haben, aufgeladen sind mit kulturellen, ethischen, spielerischen Werten u.s.w., wenn jeder einzelne Konsum, der auf auch eine Besonderung des eigenen Lebensstils, des Stilbewusstseins zielt, mit Emotionen aufgeladen ist, jedes einzelne Gut?
Reckwitz: Das ist sicher so, aber man muss sich ja immer klarmachen, auch wenn man einen etwas größeren zeitlichen Horizont in den Blick nimmt: Auch die Geschichte der Moderne lebt ja von Wahrnehmungsprozessen. Und es hat immer Gegenkulturen, wir sprachen ja vorhin selber von einer Gegenkultur noch der 60er, 70er Jahre, gegeben. Es wäre ja durchaus möglich, dass sich jetzt auch Gegenkulturen herausbilden, die zum Beispiel eine alternative Emotionskultur versuchen. Das ist natürlich erstmal gegen den Mainstream und auch gegen das System, wenn man so will, aber ausgeschlossen ist es ja nicht.
Also, das wäre einmal eine Frage auch, man könnte sagen, mit Foucault gesprochen, der "Technologien des Selbst", also, dass das Selbst selber sich auch versucht zu transformieren, auch vielleicht gegen Widerstände von außen, aber das ist ja nicht ausgeschlossen. Aber es wäre andererseits, um das dann doch auf eine gesellschaftliche Ebene zu bringen, natürlich durchaus auch die Frage, ob nicht auch im öffentlichen Raum eine stärkere Emotions- oder Affekt-Kontrolle durchaus wieder eingefordert werden kann.
Das wäre ja schon auch eine Frage von Normen, die durchgesetzt werden. Ist jeder Ausdruck von Emotion wirklich legitim oder muss man da nicht auch nochmal deutlicher Grenzen ziehen? Da wären wir wieder bei dem alten klassischen Thema der Affektkontrolle, aber vielleicht gewinnt das ja wieder eine neue Aktualität.
Deutschlandfunk Kultur: Ja, aber einerseits in einer gesellschaftlichen Situation, in der ein Kampf um die richtige Kultur stattfindet, Sie haben das in Ihrem Buch beschrieben als "Kampf innerhalb der Kultur um die Kultur des kosmopolitischen Lebensstils der neuen Mittelklasse gegen die, die nicht daran teilhaben", die auf eine Gemeinschaft zielen, kommunitaristische Präferenzen verfolgen und sozusagen selber wiederum eine Art von Identität ausbilden, die hoch emotional aufgeladen ist.

Emotionsregulierung als politische Aufgabe

Reckwitz: In einem gewissen Umfang muss man natürlich dann auch diese explodierenden Effekte aushalten. Das ist natürlich im Moment so. Wenn wir eine gesellschaftliche Situation haben, die wieder konfliktreicher geworden ist. Und die ist ja ohne Zweifel konfliktreicher geworden. Also, wir haben ja immer wieder gesellschaftliche Phasen, die – man könnte sagen – relativ konsensual sind, wo es auch wenig politisch-gesellschaftlich heftige Auseinandersetzungen, Antoganismen gibt, sondern eher das Klein-Klein des Tagesgeschäfts. Das war ja zum Beispiel, ich würde sagen, auch in den 90er und Nullerjahren erst mal der Fall, aber das ist natürlich erst mal nur eine bestimmte Phase.
Dann gibt’s wieder Phasen, in der wieder auch bestimmte kulturelle Konflikte ausbrechen, jetzt auch immer ein Kampf um Hegemonien stattfindet. Das haben wir jetzt, denke ich, wieder. Natürlich spielen da auch Affekte eine größere Rolle. Das muss man auch einfach tolerieren. Aber ich denke trotzdem, ob man nicht zum Beispiel, wenn es um bestimmte mediale Räume geht, ganz konkret soziale Medien, bestimmte Kontrollinstanzen oder Regelungsinstanzen einfach auch eindeutiger durchgesetzen muss, um klarzumachen, was geht und was nicht geht.
Also, damit wird man die Affekte nicht eliminieren. Das sollte man auch gar nicht, aber dort stärker eine Regulierung reinzubringen, ist schon auch, denke ich, eine öffentliche Aufgabe.
Deutschlandfunk Kultur: Aber bevor die Regeln befolgt werden, müsste es erstmal in den Köpfen sein. Und wie es in die Köpfe, in das Mindset kommt, da bin ich irgendwie ratlos.
Reckwitz: Na ja, es gibt ja zwei Möglichkeiten, wie sich Normen gesellschaftlich ausdrücken, also, entweder über Fremdkontrolle oder über Selbstkontrolle. Die Selbstkontrolle ist vielleicht erst mal im Moment schwach. Da muss man eben erst mal über Fremdkontrolle durchgehen, also Normen, die von außen gesetzt werden und durchgesetzt werden. Und dann kann sich auch im Laufe der Zeit wieder vielleicht eine neue Selbstkontrolle ausbilden.
Deutschlandfunk Kultur: Wird die Emotionskontrolle zu einem politischen Geschäft?
Reckwitz: Also, das ist ja auch teilweise schon der Fall. Wenn wir jetzt die Diskussion, die wir ja schon seit einigen Jahren haben, auch über die Kontrolle in den sozialen Medien, das ist ja ein Politikum auch großen Ausmaßes, da gibt’s ja auch wiederum heftige Auseinandersetzungen, also dass man auch – natürlich wieder zu stark und dass es in die andere Richtung geht, es soll ja nicht um Zensur, sondern um eine gewisse Moderierung gehen. Aber das ist ja mittlerweile auch selber zu einem politischen Thema geworden.
Deutschlandfunk Kultur: Aber in den sozialen Medien selbst nicht!
Reckwitz: Nein. Aber das ist ja auch an Politik, solche allgemeinen Regeln zumindest zu diskutieren.
Deutschlandfunk Kultur: Regulierung im Internet oder auch in den sozialen Medien ist das eine. Aber für mich ist die Frage der Ökonomie da noch entscheidend. Also, gerade nochmal an diesem Beispiel, dass Fridays for Future einen Konzern wie Siemens vor sich her treibt und im Grunde genommen etwas macht, was eigentlich vorher unvorstellbar war, nämlich die Bewertung eines Produkts, das eigentlich mit dem Konsummarkt gar nichts zu tun hat. Also, in Australien geht es darum, dass Siemens eine Kohlemine mit einem Signalsystem für eine Eisenbahnstrecke ausstatten will. Das wird jetzt also, weil es ein Kohleabbaurevier ist, so indiziert, dass die Ökonomie und die Bewertung, also diese symbolische Bewertung, die emotionale Bewertung, auch auf Produkte ausgedehnt wird und auf ganze Konzerne, die eigentlich fast gar nichts mehr mit dem normalen Konsummarkt und dem eigenen Lebensstil zu tun haben.
Also, ich glaube, dass da die Ökonomie eine so starke Rolle spielen wird in Zukunft, dass man gar nicht diese Emotionskontrolle wieder einfangen kann. Man sieht es ja an der Reaktion, Luise Neubauer einen Aufsichtsratsposten bei Siemens Energy anzubieten.

Emotional abgepufferte Ethik

Reckwitz: Ich meine, das ist immer schwer, das zu prognostizieren. Ich würde jetzt aber auch die, ethische Bewertung von ökonomischen Gütern nicht gleichsetzen mit einer heftigen Emotionalisierung. Es ist ja auch nicht so überraschend, dass sich auch Bewertungskriterien in Bezug auf ökonomische Güter verändern. Also, wir hatten gewissermaßen eher Bewertungskriterien wie Funktionalität, Preis usw. Und jetzt kommt eben auch so was wie Nachhaltigkeit hinzu. Dagegen ist ja erst mal überhaupt nichts zu sagen. Also, auch da müssen diese ethischen Kriterien nicht unbedingt heftig emotionalisiert sein. Das ist, denke ich, erst mal offen.
Es kann auch daran liegen, dass dieses Thema der Nachhaltigkeit, auch im Zusammenhang mit dem Klimawandel, noch so neu ist. Und weil dieses neue Thema erst mal häufig heftige Emotionen hervorruft – auf beiden Seiten übrigens – kann es doch sein, dass man dann, wenn sich das innerhalb einiger Jahre eingebürgert hat, darauf achtet, dass man auch auf negative Konsequenzen von Produkten in Bezug auf Klimawandel achtet, und dass dann auch diese Emotionalisierung zurückgefahren wird, aber ethische Kriterien weiterhin gelten, die aber relativ nüchtern und sachlich angewandt werden.
Also das haben wir ja in vielen Bereichen: Wenn ein Thema neu ist, heften sich heftige Emotionen daran, sowohl positive als auch negative. Irgendwann aber hat es sich normalisiert. Denken Sie auch noch mal an solche gesellschaftlichen Konflikte, die wir ja auch in der Vergangenheit hatten, wie zum Beispiel in den 70er Jahren die Gegenkultur gegen das Establishment, welche heftigen Emotionen da auch erst mal mit verbunden waren.
Das haben wir ja vielleicht auch in anderen Bereichen. Also, da wäre ich jetzt nicht so pessimistisch, dass nicht durchaus auch eine gewisse Entemotionalisierung stattfinden kann.
Lektüretipp:

Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen - Politik, Ökonmie und Kultur in der Spätmoderne
Suhrkamp Verlag (2019), 306 Seiten, 18 Euro

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