Sozialstaat Dänemark

Wo Pflegenotstand ein Fremdwort ist

Birgit Breman sitzt mit einer Mitarbeiterin des kommunalen Pflegedienstes in ihrer Kopenhagener Wohnung vor den Kaffetassen an einem Tisch.
Kostenfreie Hilfe in den eigenen vier Wänden: Birgit Breman mit einer Mitarbeiterin des kommunalen Pflegedienstes in ihrer Kopenhagener Wohnung © Miriam Arndts
Von Miriam Arndts · 05.11.2018
Nötige Leistungen werden in Dänemark bei Bedarf gratis zugeteilt, damit alte Menschen möglichst lange zu Hause wohnen. Wenn es dann nicht mehr geht, legt bei der Miete im Altersheim der Staat einfach den Rest drauf - sollte die Rente nicht reichen.
Wenn Birgit Breman Kaffee in ihre feine Porzellantasse einschenkt, zittern ihre Hände etwas. Sie ist 83 Jahre alt und wohnt am nordwestlichen Rand Kopenhagens in einer einfachen Zwei-Zimmer-Wohnung. Auf dem Wohnzimmerschrank stehen Fotos von ihren Enkeln und Urenkeln. Weil ihr Herz schwächelt und nicht mehr ausreichend Blut aus ihren Beinen pumpen kann, braucht Birgit Breman Kompressionsstrümpfe.
Die hat die Pflegerin vom kommunalen Pflegedienst ihr heute wie jeden Morgen angezogen. Alle zwei Wochen werden die Fußböden vom Pflegedienst gesaugt und gewischt. Für all das muss Birgit Breman nichts zahlen:
"Natürlich helfen mir meine Kinder mit manchen Dingen, aber es würde mir nicht im Traum einfallen, von ihnen zu verlangen, dass sie mich pflegen. Sie arbeiten ja auch und haben ihre eigenen Familien. Wie sollen sie dafür Zeit haben? Und warum sollten sie die Kosten für meine Pflege übernehmen? Ich habe lange genug Steuern gezahlt, um ordentlich behandelt zu werden, wenn ich alt bin."

Nötige Leistungen werden bei Bedarf gratis zugeteilt

In Dänemark bekommt jeder ab dem Alter von 75 Jahren einen sogenannten "vorbeugenden Besuch" von einem kommunalen Gutachter. Stellt dieser fest, dass die Person Pflege oder praktische Hilfe braucht, bekommt sie die entsprechenden Leistungen gratis zugeteilt.
Tine Rostgaard ist Professorin für Vergleichende Sozialwissenschaften. Am nationalen Forschungs- und Analysezentrum für Sozialwissenschaften, VIVE, beschäftigt sie sich vor allem mit der Finanzierung und Organisation von Altenpflege.
"In den skandinavischen Ländern ist traditionell der Staat – oder in diesem Fall die Kommune – verantwortlich für Serviceleistungen, die nah am Bürger sind. Das gilt vor allem für die Altenpflege, aber auch zum Beispiel für die Kinderbetreuung. Natürlich hilft die Familie auch, aber besonders, wenn es um die persönliche Pflege geht, dann möchten wir gerne, dass die Kommune kommt und uns hilft."
Und die Kommune möchte gerne, dass die Alten so lange wie möglich zu Hause leben.
"Das wurde Ende der 80er-Jahre eingeführt. Wir stellten fest, dass es teuer war mit so vielen im Altersheim, also weiteten wir die mobile Altenpflege aus, damit mehr Menschen zu Hause Hilfe bekommen konnten. Damals führten wir auch das Prinzip ein, dass die Älteren so viel wie möglich selbst bewältigen sollen."

Prinzip der Selbsthilfe gesetzlich festgelegt

Seit 2015 ist das Prinzip der Selbsthilfe in Dänemark gesetzlich festgelegt. Die Kommune muss älteren Personen, die sie für fit genug einschätzt, einen sogenannten Rehabilitationsverlauf anbieten. Etwa 10 bis 12 Wochen lang hilft dann ein Physio- oder Ergotherapeut den Alten, besser im Alltag zurechtzukommen: zum Beispiel selber aus dem Bett zu kommen oder sich selbst Essen zu kochen. In Kopenhagen geht man davon aus, dass 80 Prozent aller, die Pflege beantragen, mit einem Rehabilitationsverlauf besser bedient wären.
Auch Birgit Breman muss ihre Kompressionsstrümpfe abends alleine ausziehen, selbst wenn sie das anstrengend findet. Seit drei Jahren bekommt sie Hilfe vom kommunalen Pflegedienst:
"Und ich möchte am liebsten in meiner Wohnung wohnen bleiben, hier lebe ich schon seit 60 Jahren. Ich habe keine Lust, ins Altersheim zu kommen."
Zita List wohnt im Pflegezentrum Sølund in Kopenhagens Stadtmitte. Die heute 96-Jährige erinnert sich noch gut an die erste Zeit im Altersheim.
"Am Anfang ist es schwierig. Aber wenn man dann anfängt, sich mit den anderen Bewohnern zu unterhalten, wird es besser. Das muss man aber schon selbst machen. Wenn man einfach nur rumsitzt, verliert man den Anschluss."
Von ihrer Ein-Zimmer-Wohnung im dritten Stock aus hat Zita List Aussicht auf den nahegelegenen See. Das kommunal betriebene Pflegezentrum Sølund soll demnächst umgebaut werden und dann, genau wie alle neueren Altersheime in Dänemark, nur noch Zwei-Zimmer-Wohnungen anbieten.
"Das mit Doppelzimmern oder noch schlimmer, das gibt's hier nicht."
Die deutsche Krankenschwester Uschi Lingnau arbeitet seit acht Jahren im Pflegezentrum Sølund.
"Da weiß ich nämlich, dass meine Mutter wahnsinnige Angst hatte, dass sie eventuell in ein Doppelzimmer gesteckt wird. Und das finde ich also sehr entwürdigend für alte Menschen, dass man die in Doppelzimmer steckt. In den 30 Jahren, die ich hier inzwischen in meinem Beruf gearbeitet habe, habe ich noch nie erlebt, dass es keine Einzelzimmer gibt."

Wenn die Rente nicht reicht, legt der Staat den Rest drauf

Was Uschi Lingnau außerdem am dänischen System der Altenpflege schätzt: Dass Geld keine Rolle spielt, wie sie sagt. Die Miete für das Altersheim kann sich fast jeder von seiner Rente leisten. Wenn noch etwas fehlt, legt der Staat den Rest drauf. Professorin Tine Rostgaard hat in mehreren Studien die Altenpflegesysteme verschiedener Länder verglichen. Ihr Ratschlag an die deutsche Politik für eine gute Altenpflege:
"Die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel sind das wichtigste. In Skandinavien haben wir eine großzügigere Altenpflege. Sie wird vom Staat finanziert und wir geben dafür richtig viel Geld aus. Denn wir wissen, dass das der Familie hilft, zum Beispiel können die Frauen so auf dem Arbeitsmarkt bleiben."
Im Pflegezentrum Sølund ist Zita List hinunter ins Erdgeschoss gefahren. Heute steht ein Liedernachmittag auf dem Programm. Es werden Volkslieder und alte Gassenhauer gesungen, begleitet auf dem Klavier von einer Musiktherapeutin.
"Ich liebe es, zu singen. Überhaupt liebe ich Musik, vor allem Jazz. Musik gibt einem Lebensfreude."
Mehr zum Thema