Sozialpsychologe Andreas Zick

"Wir brauchen eine neue Erinnerungskultur"

07:17 Minuten
Matilde Dieumegard (l) aus Frankreich, Teilnehmerin des Internationalen Sommer-Workcamp in der Gedenkstätte Sachsenhausen, erklärt Brandenburgs Kulturministerin Martina Münch (l, SPD) am 26.07.2017 in Oranienburg (Brandenburg) die Ausstellung im Kommandantenhaus des Lagers. Derzeit beschäftigen sich Jugendliche aus Spanien, Niederlande, Mexiko, Russland, Armenien, Griechenland, Frankreich und Serbien während ihres dreiwöchigen Aufenthalts mit der Geschichte von Sachsenhausen.
Der Arbeit der Gedenkstätten kommt in der Erinnerungskultur eine zentrale Rolle zu, sagt der Sozialpsychologe Andreas Zick. © Soeren Stache/dpa/picture-alliance
Moderation: Stephan Karkowsky  · 16.10.2019
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Die Reaktionen nach Anschlägen folgen Ritualen, die sich verbrauchen, sagt Sozialpsychologe Andreas Zick. Es würden neue Formate benötigt, die emotionale Lücken füllen könnten. Die Gedenkstätten spielten dabei eine zentrale Rolle.
Stephan Karkowsky: Eine Woche ist der Anschlag in Halle jetzt her und seitdem wird in Deutschland wieder diskutiert darüber, ob wir genug tun gegen neue antisemitische Strömungen, ob unser "Nie wieder!" noch stark genug ist. Morgen will der Bundestag über den Anschlag diskutieren und über mögliche Konsequenzen, und das könnte unappetitlich werden, zumal viele der anderen Parteien der AfD eine Mitschuld geben am veränderten Klima in Deutschland, zuletzt auch Vizekanzler Scholz. Ob diesmal mehr auf dem Spiel steht als sonst, das frage ich Andreas Zick. Der Sozialpsychologe leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.
Sie haben das Verhältnis der Deutschen erforscht zu unserer Erinnerungskultur. Die zeigt sich auf offizieller Ebene in den immer gleichen Ritualen: Besuche am Tatort, Solidaritätsdemonstrationen, Mahnwachen, öffentlich geäußerte Betroffenheit. Reicht das heute noch immer?
Andreas Zick: Nein, das reicht heute nicht. Zunächst ist die Erinnerungskultur ja sehr wichtig, das ist unser Ritual, das ist die Tradition, das verbindet uns mit der Geschichte. Es soll aber hier in dem Fall uns auch verbinden mit den Jüdinnen und Juden in Deutschland, denn das ist das wichtigste Zeichen. Es ist nicht nur ein Erinnerungszeichen, sondern es ist jetzt auch ein Toleranzzeichen. Es muss heute bedeuten: Wir stehen vor euch.
Karkowsky: Je öfter man natürlich diese Rituale erlebt, desto mehr nutzen sie sich ab wie alles, was man immer wieder sieht.
Zick: Ja.

Neue Herausforderungen

Karkowsky: Brauchen wir da vielleicht mal was Neues, eine neue Erinnerungskultur, eine andere, emotionalere Form des Erinnerns?
Zick: Ja, ich glaube, dass wir die tatsächlich brauchen. Wir haben große Studien durchgeführt, jetzt zwei große repräsentative Umfragen, 2018, 2019, haben dazu befragt, und wir sehen in den Studien das Täter-Opfer-Bild: Dass Menschen erinnern, unter ihren Vorfahren waren auch Täter, da sagen aktuell nur 20 Prozent "Ja, unter meinen Vorfahren gab es Täter", Opfer erinnern aber viel mehr, Mitschuld wird weniger erinnert.
Wir haben junge Menschen befragt, junge Menschen sagen, ich möchte mich erinnern, aber am besten mit Zeitzeugen. Zeitzeugen gibt es nicht mehr, also suche ich im Internet, und das Internet halten sie nicht für vertrauenswürdig.
Und da sehen wir: Wir brauchen so eine neue digitale Kultur für die jungen Menschen, wir müssen die Unmittelbarkeit irgendwie wieder herstellen, wenn Zeitzeugen fehlen, müssen wir das anders wieder herstellen. Wir sehen viele Lücken in der Erinnerungskultur, und die werden von Populisten, von Extremisten gefüllt.
Und das ist die Herausforderung jetzt. Und da reicht eine rituelle, staatliche Erinnerungskultur von oben oder nur das Abschieben auf Schule: "Geht mal schön in die Schule, da lernt ihr das." Das sagen 84 Prozent, die Schulen sollen beibringen, "Nie wieder!", aber wenn wir nicht wissen, wie das "Nie wieder!" geht, dann wird das alles nicht reichen.

Verlust von Kontakt zu Zeitzeugen

Karkowsky: Nun hat die aktuelle Shell-Jugendstudie ergeben, dass Jugendliche zwar auf der einen Seite sehr engagiert sind, wenn sie aus guten Verhältnissen kommen, aus gesicherten Verhältnissen, andererseits aber auch sehr anfällig sind für rechtspopulistische Slogans. Viele interessieren sich auch vielleicht gar nicht mehr für die eigene Geschichte. Es war neulich einer der, sage ich mal, Vertreter der Jugend, der Rapper Sido in einer neuen ARD-Talkshow, und da hat er zu Günther Jauch gesagt:

Sido: Was ist das Problem damit, dass jemand das nicht weiß, wenn er sich dafür gar nicht interessiert wahrscheinlich, und man zwingt ihn jetzt, das wissen zu müssen.

Günther Jauch: Ja, gut, zwingen lässt sich sowieso keiner mehr. Ich finde, wenn Sie sozusagen geschichtslos aufwachsen oder wenn Sie zum Beispiel gar nicht mehr ermessen können, was bedeutet Freiheit für einen Menschen, was bedeutet Demokratie, was bedeutet Gewaltenteilung etc., wenn ich sage, ist mir alles irgendwie egal und ich gucke jetzt im Katalog, wo ich als nächstes hin verreise.

Sido: Also sollen wir die Leute doch zwingen.

Karkowsky: Ja, doch zwingen, Herr Zick, wäre das das Richtige?

Zick: Nein, natürlich überhaupt nicht, und so ist ja unser Lernen nicht. Wir haben in der Studie festgestellt: Es gibt auf der einen Seite gerade bei den jungen Menschen zunehmend Verlust von Kontakt zu Zeitzeugen, in der Familie wird zu wenig geredet. Die Wenigen die sagen, in der Schule habe ich etwas gelernt. Jetzt kommt es drauf an: Was kann ich da überhaupt lernen? Da müssen auch wahrscheinlich die Bildungsformate sich ändern. Denn es gibt zwei Bewegungen: Auf der einen Seite haben die Gedenkstätten in Deutschland einen irrsinnigen Zulauf, Gedenkstätten sind die Orte, wo Erinnerungskultur stattfindet, und dann muss man an den Stellen abholen.
Was Sido da sagt, die Geschichte, die Erinnerung loswerden, da könnte man den Spieß umdrehen und sagen, warum will er eigentlich die Geschichte loswerden, warum will er die Erinnerung loswerden? Da muss man ansetzen. Also wir müssen beim Lernen immer darauf achten, dass ich selber als junger Mensch fähig bin, zu sagen, uns zu sagen: Warum ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass Systeme, Menschen fähig sind, andere Menschen systematisch zu vernichten? Und das ist ein Grundbedürfnis von vielen, das sehen wir in der Studie, sich daran zu erinnern. Nur: Ich muss es eben in einer angemessenen Art und Weise. Und Erinnerungsgedenkstätten machen einen guten Job, das kommt in der Studie raus, wenn man dort einmal ist, dann hinterlässt das auch langfristige Spuren. Das Problem ist nur, wir suchen oft an den falschen Orten.

Weiterbildung für Lehrpersonal nötig

Karkowsky: Aber wie kriegt man denn die Jugendlichen da hin? Sind es dann nicht doch wieder Pflichtbesuche, die man verbindlich machen muss in den Schulen, in KZ-Gedenkstätten?
Zick: Das wäre ja zu diskutieren. Wir würden sagen, wir leben in einer modernen Gesellschaft und Wissen kann man nicht einprügeln und Wissen kann man nicht erzwingen. Aber man kann Menschen helfen, an den Ort zu kommen. Viele in der Studie sagen: Wenn ich denn einmal da bin, dann sind sie überrascht. Das macht ja Schule, die Gelegenheit schaffen, den Gedenkort aufzusuchen, das zu organisieren.
Und was wir auch sehen, ist: Lehrerinnen und Lehrer müssen auch selber noch mal weitergebildet werden, nachgeschult werden, denn es reicht ja nicht nur, zum Gedenkort zu fahren und da gelangweilt herumzustehen. Da haben wir auch Studien durchgeführt, das kann nach hinten losgehen, man schickt die jungen Menschen durch eine Ausstellung zum Antisemitismus und hinten kommen Schülerinnen und Schüler raus, die wissen alles über Stereotype und Vorurteile, aber nicht, was es macht, so ein Vorurteil, so eine menschenfeindliche Einstellung.
Das heißt, es muss zusammengehen. Und da müssen wir systematisch dran, und wir müssen auch – und das sehen wir in der Studie, das ist auch ein Wunsch der Befragten –, wir müssen dafür Zeit und Raum schaffen. Es reicht nicht, eine Unterrichtseinheit, die macht man dann, die ist nur historisch aufgeladen, das heißt, es war etwas, was früher mal war, das darf nie wieder, sondern da braucht es ein ganz anderes Format und es braucht ein längeres Format.
Wir müssen das erinnern, verbinden mit der Fähigkeit, jetzt Toleranz und Zivilcourage einzuüben. Das heißt, auch selbst kompetent zu sein, warum es wichtig ist, "Nie wieder!", und warum es interessant sein kann, an Geschichte zu erinnern, um eine Gesellschaft jetzt besser zu gestalten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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