Soziales Alltagsphänomen

Über das Warten

Zwei Frauen stehen vor Dixi-Klos, aufgenommen 2013 in Hamburg
Warten zu können ist eine Frage des Individuums und seiner inneren Verfassung - und manchmal auch besonders schwierig. © picture alliance / dpa / Marcus Brandt
Von Andrea und Justin Westhoff · 04.08.2016
Für manche ist das Warten geschenkte Zeit, für andere ein Machtmittel, für viele aber auch eine Qual. Das Warten, Erdulden, Ertragen und Aushalten hat ganz verschiedene soziologische und psychologische Dimensionen.
Das Leben: eine große Warteschleife. Der Mensch: ein "Homo expectans". Jeder wartet, eigentlich fast immer: auf eine kleine Auskunft oder die große Liebe, auf das Ende einer langweiligen Sitzung oder den Start einer aufregenden Karriere. Fans erwarten einen flüchtigen Blick auf ihren Star am Roten Teppich. Flüchtlinge warten auf ihre einzige Chance in endlosen Reihen vor dem Zaun. Wir warten auf bessere Zeiten oder den Weltuntergang, auf einen Geburtstermin oder den Tod.
Estragon: Komm, wir gehen!
Wladimir: Wir können nicht.
Estragon: Warum nicht?
Wladimir: Wir warten auf Godot.
Warten ist eine existentielle und zugleich so alltägliche Erfahrung. Bisweilen gänzlich absurd ...
"Man wartet viel im Leben, auf alles Mögliche."
"Wer wartet denn gerne? Ich kenn nicht so viele Leute, die sagen: Ey geil, ich wart jetzt mal noch ne Stunde."
"Warten kann ja auch Muße bedeuten."
"Es ist langweilig und nervig."
Warten ist das "Erleben von Zeit" – und natürlich abhängig von äußeren Umständen, davon, wie und worauf man wartet, sagt der Soziologe Dr. Andreas Göttlich von der Universität Konstanz:
"Warten, kann man generell sagen, ist ein Phänomen oder eine Verhaltensform, die ganz selten eigentlich wertneutral verläuft. Also Warten ist oftmals emotional aufgeladen, und hoffen und fürchten beschreiben eben solche emotionalen Aufladungen des Wartens, das hängt natürlich davon ab, wie wir das Erwartete dann bewerten."
Vor allem das Warten-Können ist eine Frage des Individuums und seiner inneren, seiner seelischen Verfassung – und seiner Entwicklung im Laufe des Lebens.
Wer Kinder hat, kennt das: Schon nach wenigen Reisekilometern im Auto geht's los:
"Mama, wann sind wir endlich da?" Ob man "bald" sagt oder "in drei Tagen", macht kaum einen Unterschied: Ein paar Minuten Ruhe, schon tönt's wieder vom Rücksitz.
Und Säuglinge können überhaupt noch nicht warten – sie schreien einfach, wenn sie etwas brauchen oder haben wollen. Warten-Können ist eine Frage der Zeitwahrnehmung – die wird etwa ab dem 3. Lebensjahr immer differenzierter. Vor allem aber hängt es ab von der Selbstkontrolle. Auch die entwickeln Kinder erst nach und nach. Manche mehr, manche weniger. Das hat der Psychologe Walter Mischel erstmals in den 1960er Jahren wissenschaftlich gemessen in seinem berühmten "Marshmallow-Test":
"Okay, so here's the deal: There is a marshmallow you can eat or wait, and I bring you back another one, than you have two, or you can eat it now."
"Die Aufgabe sieht so aus, dass die Kinder eine Süßigkeit angeboten bekommen und die Wahl haben, entweder diese Süßigkeit sofort zu naschen oder eben zu warten, bis der Versuchsleiter zurückkommt und dann noch eine zweite zu bekommen", übersetzt Dr. Bettina Lamm, die selbst ähnliche Versuche macht.

Ein Test mit Vorschulkindern

Walter Mischel, ein Österreichischer Jude, dessen Familie vor den Nazis in die USA geflohen war, hatte diesen weltweit bekannten psychologischen Test an der kalifornischen Universität Stanford zwischen 1968 und 1974 in vielen Variationen mit Vorschulkindern durchgeführt:
"What interested me was really to try to understand ... / influence our ability to have control over them rather than be controlled by them."
Mischel wollte eigentlich den freien Willen erforschen, und die Selbstkontrolle, der "Belohnungsaufschub", schien ihm ein gutes Messinstrument dafür. Tatsächlich ist es ein vielschichtiges Warteexperiment geworden, denn es misst nicht nur die Zeit, die jedes einzelne Kind der Verlockung widerstehen konnte, sondern dokumentiert auch ihre Wartestrategien. Maximal 15 Minuten wurden die Kleinen mit der begehrten Süßigkeit allein gelassen und dabei durch einen Einwegspiegel beobachtet:
Jedes Vierte verputzte die Süßigkeit sofort, 30 Prozent schafften die volle Zeit. Alle versuchten, sich irgendwie abzulenken. Einige liefen herum, manche versuchten zu schummeln.
Kinder warten an einem Zaun
Kinder warten an einem Zaun© picture alliance / dpa / Boris Roessler
Mischel geht nicht davon aus, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle – zum Warten – angeboren ist. Sie wird im Wesentlichen erlernt und hängt von vielen Umgebungsbedingungen und Erfahrungen ab. Das war für Bettina Lamm Anlass, 2014 am Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung der Uni Osnabrück einen interkulturellen Marshmallow-Test durchzuführen. Im klassischen Setting wurden 125 deutsche Kinder und 76 aus Kamerun in ihrem Warteverhalten verglichen: "Das Beeindruckende bei unserer Untersuchung war, dass wir bei den deutschen Kindern in etwa das beobachten konnten, was auch Walter Mischel schon in den späten 60er Jahren in den USA beobachtet hat, dass bei den Vierjährigen etwa 30 Prozent es schaffen zu warten auf die zweite Süßigkeit und bei den Kamerunischen Kindern war die Quote etwa umgekehrt: also 70 Prozent haben es geschafft zu warten."
Bettina Lamm erklärt das mit unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen und Erziehungsmodellen:
"Während hier in Deutschland von Anfang an sehr viel Wert darauf gelegt wird, dass die Kinder sich zu Unabhängigkeit, Individualität, Eigenständigkeit entwickeln, dazu gehört ja auch dann eben, seine Präferenzen, seine Emotionen und Bedürfnisse auszudrücken und sich auch dafür einzusetzen, sehen die Ziele in Kamerun ganz anders aus. Hier ist es wichtig, dass die Kinder lernen, sich in der Gruppe einzufügen, ihren Platz in der Hierarchie zu finden, respektvoll und gehorsam gegenüber den Älteren zu reagieren, und das sind natürlich Fähigkeiten, die auch mit dieser Wartezeit im Zusammenhang stehen."
Und welche Rolle spielt Verlässlichkeit für die Wartefähigkeit? Viele andere psychologische Untersuchungen haben gezeigt: Je häufiger jemand Erfahrungen mit der Unzuverlässigkeit seiner Mitmenschen macht, desto schwächer ist seine emotionale Weitsicht, desto weniger kann er darauf vertrauen, dass sich eine Situation zum Positiven wendet. Je mehr Versprechungen gebrochen werden, je mehr Enttäuschungen jemand erlebt, desto schlechter kann er warten. Das war für eine Untersuchung in Afrika eine besondere Hypothek, schildert die Psychologin:
"... weil in Kamerun häufig mit solchen Versprechungen in der Erziehung auch gearbeitet wird, die aber niemals erfüllt werden. Also die Mutter geht zum Markt und verspricht, sie bringt dieses oder jenes mit, wenn das Kind brav zuhause bleibt, und jeder Außenstehende weiß, sie wird das nie mitbringen, weil sie gar nicht die Möglichkeiten hat. Und deswegen hatten wir große Sorge, dass die Kinder eben nicht warten würden auf unseren Marshmallow, weil sie eben häufig diese Erfahrung im Alltag machen, dass diese Versprechen nicht verlässlich sind. Dennoch hat es funktioniert. Offensichtlich scheinen die Kinder immer noch zu hoffen, wir haben allerdings die zweite Süßigkeit schon gezeigt vorher, um diese Verlässlichkeit auszudrücken. Zumindest wusste das Kind, es gibt noch eine zweite davon."

Kinder aus Kamerun können besser warten als deutsche Kinder

Das Ergebnis des interkulturellen Marshmallow-Tests ist also: Afrikanische, Kameruner Kinder können einfach besser warten als deutsche. Und das sieht man auch.
"Die deutschen Kinder sind sehr hibbelig, aktiv, müssen sich ablenken oder versuchen das, indem sie mit ihren Händen spielen oder auf den Tisch trommeln oder sich selbst was vorerzählen, und die Kamerunischen Kinder sitzen ganz ruhig da und warten. Und es scheint gar nicht schwer zu sein für sie oder anstrengend. Und einige Kinder sind dort auch eingeschlafen beim Warten. Die haben sich offensichtlich so gut reguliert und unter Kontrolle, dass sie sogar, ja, ganz ruhig waren."
Das individuelle Warten-Können wird offensichtlich auch beeinflusst von verschiedenen "Zeit-Kulturen". Grundsätzlich unterscheidet man zwei Konzepte. Ein lineares Zeitverständnis in dem sich Zeit kontinuierlich fortentwickelt, von einem Anfang hin zu einem Ende in ferner Zukunft. Man findet es vor allem in den monotheistischen Religionen, während die fernöstlichen Religionen ein zyklisches Zeitverständnis haben, gekennzeichnet durch Wiederholungen einzelner Ereignisse und eine Konzentration auf das Hier und Jetzt.
Aber auch in alltäglichen Zeitvorstellungen gibt es große kulturelle Unterschiede. Eine der wichtigsten Forschungen dazu hat der US-Sozialpsychologe Robert Levine gemacht. In den 1990er Jahren untersuchte er weltweit, in 31 Ländern, wie Menschen Zeit definieren und verstehen, aber auch, wie sie sie nutzen und messen:
"Die öffentlichen Uhren, wie pünktlich die sind oder wie genau die gehen, wie schnell die Leute sich bewegen oder laufen in der Öffentlichkeit, und wie schnell so eine ganz einfache Angelegenheit im Postamt erledigt wird. Und da gab es ganz interessante Beobachtungen oder Ergebnisse, die ein großes Nord-Süd-Gefälle oder eben auch westliche und nichtwestliche Kulturen mit sehr starken Unterschieden und einer eben langsameren Zeit in nicht-westlichen Kulturen beschreiben."
"Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit", heißt ein afrikanisches Sprichwort. Bettina Lamm kann aus Erfahrung in Kamerun bestätigen, dass ein anderes Zeitverständnis ein anderes Verhältnis zum Warten bedeutet:
"Wenn man zum ersten Mal dort ist, hat man das Gefühl, den größten Anteil des Tages dort verbringt man mit Warten. Auf den Bus, der eben nicht fährt, wenn es 8:20 Uhr ist, sondern wenn er voll ist, und auf sonstige Aktivitäten. Und bei uns hat sich dann irgendwie im Team, wir haben ja mit Assistenten vor Ort gearbeitet, so eine Redensart etabliert, wenn wir uns verabredet haben auf eine bestimmte Zeit, wenn wir uns treffen wollten, dann wurde immer nachgefragt 'whiteman-time' or 'blackman-time'? Und whiteman-time war eben ungefähr pünktlich, maximal eine Viertelstunde später, wie wir das hier so kennen, und blackman-time war eigentlich irgendwann an dem Tag."
Die Luft ist stickig im Wartezimmer, kein Sitzplatz frei. Nicht mal in Ruhe lesen kann man, etwa in der Arztpraxis, wo sich zwei Patienten gegenseitig ihre Krankheitsgeschichte erzählen – für die Anderen oft unerquicklich. Ähnlich verlaufe mitunter Gespräche auf irgendeinem Amt: "Ich sitze hier schon zwei Stunden, toll! Warum dauert das denn immer so lange?"
"Der Ablauf des Wartens ist ganz offenkundig dann sozial bestimmt, wenn wir zusammen mit anderen Menschen warten. In der Arztpraxis, am Bahnsteig, an der Bushaltestelle, all das sind gesellschaftliche Warteräume, die sich üblicherweise durch ein hohes Maß an Kontrolle auszeichnen. Also wir fühlen uns an solchen Orten besonders beobachtet und deswegen auch meist recht unwohl, und es gibt in solchen Situationen des gemeinsamen Wartens unausgesprochene Regeln, die aber dennoch sehr wirksam sind."
Der Soziologe Dr. Andreas Göttlich leitet derzeit an der Universität Konstanz das DFG-Projekt: "Warten – Zur Erforschung eines sozialen Alltagsphänomens".
"Zumindest aus meiner Sicht hat sich die Soziologie noch zu wenig mit dem Warten beschäftigt, das betrifft die Tatsache, dass das Warten zwar oftmals in verschiedenen Studien so beiläufig berührt wurde von der Soziologie, man hat es aber sehr selten in den Fokus gerückt."

Bürokratie bedeutet Wartezeit

Zudem erschien Andreas Göttlich die Sicht auf den Forschungsgegenstand zu einseitig. Die Studie ist noch nicht abgeschlossen, klar ist jedoch bereits, dass Warten ein umfassender Marker für gesellschaftliche Verhältnisse ist: Es sagt zum Beispiel viel darüber aus, wie eine Gesellschaft organisiert ist:
"Bereits Walter Benjamin hat Anfang des 20. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass Wartezeiten in der Gesellschaft steigen, mehr werden, je größer der Grad der Bürokratisierung ist, beispielsweise, bürokratische Verfahren bedingen Wartezeit."
Oft gehen dann Bürokratie und Hierarchie Hand in Hand: Viele Verwaltungsakte sind so aufgeteilt, dass man selbst bei geringerem Andrang doch mehrmals anstehen, Zeit opfern muss. Warten und Warten lassen - als sozialer Akt ist es eine Form von Machtausübung: Wer über die Zeit des anderen verfügen kann, demonstriert seine Wichtigkeit oder aber Gleichgültigkeit, vielleicht gar Verachtung für den Wartenden.
"Wir kennen das von Ämtern, Behörden, wenn gesellschaftlich unterprivilegierten Gruppen ihre Ohnmacht vorgeführt wird, indem man sie bewusst warten lässt. Das Warten spielt auch eine wichtige Rolle für die soziale Gerechtigkeit, denn es entscheidet darüber, wann wir soziale Ressourcen zugeteilt bekommen. Dieses Zeitmoment ist umso wichtiger, je bedeutender das Gut ist, auf das wir warten, also zum Beispiel der Student, der auf den Studienplatz wartet, jemand, der auf ein Spenderorgan wartet, oder wenn wir auf die rechtliche Gleichstellung der eigenen Gruppe innerhalb der Gesellschaft warten, all das sind sehr bedeutende Warteprozesse, und wer solche Warteprozesse beeinflussen kann in der Gesellschaft, der besitzt offensichtlich sehr bedeutende soziale Macht."
Historisch hatte warten mit dienen zu tun: der englische Begriff für Kellner zeigt das noch: Waiter und Waitress. Warten gehörte lange auch zum gesellschaftlichen Rollenbild von Frauen, als Manifestation ihrer untergeordneten Stellung. Und doch lassen sich gerade am Warten auch gesellschaftliche Fortschritte erkennen. Das Symbol dafür ist ausgerechnet die "Warteschlange":
"In der Literatur ist man sich eigentlich einig, dass die Warteschlange gewissermaßen in Großbritannien erfunden wurde, und dass sich in der Warteschlange das egalitäre Grundprinzip der englischen Gesellschaft widerspiegelt. Da zählt mein Beruf nicht, da zählt mein Geschlecht nicht, da zählt meine soziale Herkunft nicht, sondern da gibt's einfach das Prinzip: Wer zuerst kommt mahlt zuerst, first come, first served, es gibt hier also keine sozialen Rangunterschiede. Es hat etwas mit der modernen Gleichheitsidee zu tun, das also die Zeit eines jeden Menschen gleich viel wert ist, das war sicherlich etwas, was in früheren Gesellschaften, beispielsweise in Adelsgesellschaften, wenn wir an das frühere Verhältnis von Adel und Dienerschaft denken, so nicht der Fall war."
Es geht vorwärts, Schritt für Schritt. Und Wehe, einer drängelt sich vor an der Supermarkt-Kasse. Gut, wenn jemand behindert ist oder sehr alt. Mütter mit quengelnden Kindern lässt man womöglich auch vor. Oder an der Kinokasse, da kann Angst aufkommen, ob es noch genug Eintrittskarten gibt. Und wo es mehrere Warteschlangen gibt: Warum ist meine immer langsamer?
Das demokratische Prinzip der Warteschlange ist selbstverständlich ein bloßes Ideal. Problematisch wird es zum Beispiel, wenn Güter, für die man ansteht, knapp sind. Und dann gibt es ja noch – sichtbare und unsichtbare – Warteketten, die sich jenseits des demokratischen Prinzips durch die Zeit schlängeln.
"Also je negativer konnotiert das Warten in der Gesellschaft ist, desto mehr kann man dadurch soziales Prestige demonstrieren, wenn man eben nicht warten muss, oder wenn man andere Personen warten lassen kann. Das betrifft dann genau solche Phänomene wie den Privatpatienten beim Arzt, oder der Businessclass-Reisende, der eben in eine schnellere Boardingline kommt am Flughafen. Also da wird soziales Prestige dadurch vermittelt, dass man sich die Wartezeit sparen kann, das hat natürlich auch was mit finanziellen Ressourcen zu tun, und wer es sich leisten kann, andere Personen gezielt auf sich warten zu lassen, der demonstriert natürlich gerade durch diesen Verstoß gegen das egalitäre Grundprinzip, dass er in einer sozial überlegenen Position sich befindet, die soziale Differenz."

Warten als unproduktive Zeit

"Ja man verwartet hier die Zeit, bis der Zug kommt oder bis der Bus kommt."
"Langeweile, Ungeduld, macht keinen Spaß."
"Es kommt ja drauf an, was man währenddessen tut."
"Wahrscheinlich guck ich aufs Handy."
"Eigentlich sehr unnötig, immer zu warten auf alles."
Warten bedeutet Unterbrechungen im Zeitfluss. Daraus entsteht Ungeduld, noch verschärft durch unser strenges Zeit-Nutzungsprinzip – mehr und mehr Symbol der Neuzeit, zurückgehend auf die protestantische Ethik. Benjamin Franklin brachte das Credo des Industriezeitalters mit seinen Fließbändern und Rationalisierungsbestrebungen auf den Punkt.:
"Time is money - Zeit ist Geld"
Erholung, Pausen im Alltag sind kaum noch vorgesehen. Das Warten als unproduktive Zeit abzuschaffen, das scheint ein Ziel unserer Zeit, wenn auch ein fragwürdiges.
Professor Peter Vorderer ist Kommunikationswissenschaftler an der Uni Mannheim und untersucht, wie die neuen Medien unser alltägliches Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen. Vor allem das Smartphone dokumentiert die Schwierigkeiten des modernen Menschen mit dem Warten – und scheint zugleich die Lösung dafür.
"Die Medien geben uns die Möglichkeit, die Zeit, in der wir warten, zu überbrücken, weil in aller Regel wird diese Zeit ja als weniger angenehm erlebt. Denken Sie an eine Zugfahrt beispielsweise, in der es immer weniger Menschen gibt, die einfach mal nach draußen schauen, zwischen dem einen oder anderen Gespräch sucht man immer noch eine Möglichkeit, die Zeit, die ja offensichtlich so unerträglich ist, zu vertreiben, indem man mit dem Smartphone andere Kommunikationen herbeiführt."
Ein weiterer medial-technischer Versuch, mit dem Warten umzugehen: der Fortschrittsbalken am Computer beim Herunterladen eines Programms zum Beispiel. Warten sichtbar machen: Das eröffnet scheinbar neue Möglichkeiten der Kontrolle über die Zeit.
"Wenn Sie so wollen, ist das ja auch nur eine Illusion, mittlerweile weiß jeder, dass diese Fortschrittsbalken eine völlig verzerrte Wiedergabe darstellen der Zeit, die man warten muss, also es ist nichts anderes im Prinzip, als dem Nutzer die Illusion vermitteln: ja es geht voran."
Solche Warte-Hilfen sind inzwischen weit verbreitet: Auf Bahnhöfen werden die Minuten bis zum nächsten Zug angezeigt, Wartenummern in Behörden erscheinen auf großen Displays.
"Denn das Schlimmste, was dem Wartenden passieren kann, ist, dass er merkt, es passiert nichts! Ich komme aus dieser Situation unter Umständen niemals raus. Also willigen wir ein und freuen uns, weil wir das Gefühl haben, irgendwann werd ich am Ziel sein und das Programm ist runtergeladen und ich kann weitermachen. Obwohl ich vielleicht weiß, wenn der Balken zu Ende ist, dann kommt der nächste Balken. Aber es passiert etwas, es ist Fortschritt da."
Kontrolle der Warte-Zeit und Möglichkeiten der Ablenkung, das kann auch etwas Tröstliches haben, etwa wenn ein alter Mensch auf Besucht wartet. Aber im Ganzen verändern die medialen "Wartevermeidungs-Strategien", Kommunikation und soziale Kontakte nicht immer zum Guten, meint Peter Vorderer.
"Wenn wir etwa soziale Medien nutzen, bestimmte Dienste nutzen wie zum Beispiel WhatsApp oder andere, dann sehen wir nicht nur, dass eine Nachricht von uns abgeschickt wurde, wir sehen nicht nur, dass der oder die Empfängerin die Nachricht erhalten hat, sondern wir sehen auch, ob die Nachricht bereits gelesen wurde. Und da entsteht natürlich so etwas wie eine Ungeduld, warum diese Person, da sie die Nachricht ja gelesen hat, noch nicht reagiert hat."

Lernen, wie das Warten geht

Warten auf Antwort, Zuhören, wird immer schwieriger, und das wirkt bis in die persönliche Kommunikation
"Denken Sie etwa an Situationen, in denen Personen zusammensitzen und in regelmäßigen Abständen immer wieder auf ihr Smartphone schauen müssen, weil sie den Eindruck haben, es könnte ja inzwischen eine Nachricht gekommen sein, und auf die muss ich ja sofort reagieren. Und das verändert natürlich auch ein stückweit unsere Bereitschaft, uns auf den uns Gegenübersitzenden einzulassen, ein gewisses Maß an Geduld zu haben, es muss immer und in jedem Moment etwas Neues und Interessantes passieren, dass mitunter Dinge Zeit brauchen, ein Gedanke, eine Überlegung sich entwickeln muss über eine bestimmte Zeit, das ist nach wie vor richtig, dafür gibt es aber zunehmend weniger Gelegenheiten."
Und: Durch die neuen medialen Möglichkeiten scheint auch die Kulturschranke beim Warten zu fallen, meint Peter Vorderer
"Den Asiaten schreiben wir mehr das Kontemplative zu oder die Fähigkeit dazu, das hat sich natürlich in diesen auch sich sehr, sehr schnell verändernden Gesellschaften mit einer extrem hohen Offenheit gegenüber neuen technologischen Entwicklungen binnen sehr kurzer Zeit rasant verändert. Ich bin relativ häufig in China und hab dort mit Kollegen zu tun, mit denen es fast nicht mehr möglich ist ein Gespräch zu führen, ohne dass sie dabei ihr Smartphone in der Hand haben. Also an Kontemplation zumindest im Geschäftsleben, im Berufsleben ist dort immer weiniger festzustellen."
Kein asiatisch-gelassenes Warten mehr – andererseits gibt es auch hier Menschen, die noch wissen wie's geht.
"Beim Thema Warten fällt mir ein, dass man seinen Gedanken nachhängen kann.
"Ich versuche, dass das nicht stressig wird."
"Wenn ich beim Arzt sitze, ist es angenehm – Wartezeit, da kann ich dann immer gut lesen."
"Ich finde Warten ist eine Sache der Einstellung."
Man kann es aushalten, das Warten, man kann es lernen – sollte, muss es vielleicht sogar wieder. Davon jedenfalls sind manche "Warte-Forscher" überzeugt: Zum Beispiel Peter Vorderer, Medien- und Kommunikationswissenschaftler an der Uni Mannheim:
"Also ich würde nicht sagen, dass Warten generell gut ist, denn warten heißt für viele und in sehr vielen Situationen eine unangenehme Erfahrung. Worum es mir geht, ist, dass man bestimmte Situationen nur erleben kann, wenn man sie nicht immer mit einer alternativen Aktivität belegt. Und wenn diese Situationen dadurch verschwinden, dass wir sozusagen sie immer und überall füllen mit dem, was uns das Internet gerade anbieten könnte, dann wird es immer etwas geben, aber es wird uns nicht erlauben, ein stückweit eben auch kontemplativer zu sein, aufmerksamer zu sein, für das, was um uns herum passiert in der Welt da draußen, sondern wir suchen uns diese andere Welt, und haben keine Augen und keine Sinne mehr für das, was gerade in diesem Moment mit uns passiert."
Früher gab es dafür den Begriff "Muße", im Grimmschen Wörterbuch definiert als "Fernsein von Geschäften oder Abhaltungen". Heute würde das, was Peter Vorderer meint, vielleicht unter dem Schlagwort "Achtsamkeit" diskutiert: Warten als eine Zeit verstanden, die man nicht totschlagen muss, als zusätzliche, geschenkte Zeit, die nicht eingetaktet ist in die Verwertungslogik.
Auch der Soziologe Andreas Göttlich von der Uni Konstanz ist überzeugt, dass Warten nicht nur ein Mangel an sozialer Organisation ist, sondern auch eine wichtige Form des Synchronisierens und damit eine soziale Fähigkeit, die positive Funktionen hat. Das steht durchaus im Einklang mit einigen soziologischen Theorien. Ein Beispiel ist der "Gabentausch" – ein klassisches Thema der Sozialanthropologie.

Warten als Vorstufe für "Vertrauen"

"Nur so kann Vertrauen aufgebaut werden, wenn ich jedes Geschenk, was mir gemacht wird, unmittelbar vergüte, dann kommt eigentlich keine soziale Bindung zustande. Insofern wäre das ein Beispiel für eine soziale Beziehungsform, die nur Bestand haben kann, wenn eine gewisse Zeit involviert und wenn die entsprechend in dieser sozialen Aktion engagierten Personen auch warten können", sonst ist es nämlich kein Schenken, sondern einfach ein Geschäft. Und apropos Geschäft: In der Ökonomie und der Politik wird warten zwar häufig als Schwäche ausgelegt und ist nicht selten tatsächlich verantwortlich für krisenhafte Entwicklungen. Andererseits erweist sich "Zug-um-Zug-Handeln" langfristig als oft erfolgversprechender als ein überstürztes, aktionistisches Handeln.
"You eat it now, or you can wait when I'll be back too. Okay?"
"Okay!. Okay, I'll be back."
Einen Zusammenhang zwischen Warten-Können und Erfolg konnte auch die psychologische Forschung nachweisen im Marshmallow-Test. Denn Walter Mischel hat damit nicht nur eine der berühmtesten psychologischen Studien der Welt vorgelegt, sondern auch eine der umfassendsten Längsschnitterhebungen: Er beobachtete die Kinder aus seinen Tests noch mehrmals in den folgenden 40 Jahren und stellte dabei fest: Diejenigen, die warten konnten, waren bessere Schüler geworden, selbstbewusster und sozial kompetenter, später auch erfolgreicher im Beruf, glücklicher, zufriedener, gesünder. Diesen Zusammenhang zwischen Wartefähigkeit und Selbstkontrolle als Faktor findet Bettina Lamm vom Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung der Uni Osnabrück bis heute aktuell:
"Wenn man sich überlegt, dass diese Fähigkeit, ein momentanes Bedürfnis aufzuschieben und der Verlockung zu widerstehen, um an längerfristigen Zielen zu arbeiten, das ist durchaus eine Fähigkeit, die man an vielen Stellen im Leben braucht. Wenn es darum geht, für eine Prüfung zu lernen, statt lieber der Freizeitaktivität nachzugehen oder auch vielleicht Probleme in der Partnerschaft: sich auseinanderzusetzen und nicht gleich auszubrechen aus dieser. Also es hat durchaus eine Plausibilität."
Vielleicht können Forscher dem Warten auch deshalb so viel Positives abgewinnen, weil es eine Tugend ihrer Profession ist. Die Psychologin Bettina Lamm:
"Ich nenne es oft Frustrationstoleranz. Also dass man so sehr lange aushalten muss, bevor man eben Ergebnisse einer Arbeit sieht, dass sie irgendwo veröffentlicht sind oder überhaupt erstmal auch ausgewertet und da sind. Und von daher, ja hat das auch mit Warten zu tun, auf jeden Fall."
Der Soziologe Andreas Göttlich erinnert in diesem Zusammenhang an ein besonders kurioses Experiment:
"Da haben also Physiker versucht, das Tropfverhalten von Pech zu untersuchen, und zwischen den relevanten Ereignissen, also zwischen dem Tropfen des Pechklumpens, der da im Labor beobachtet wurde, vergingen jeweils Jahre."
1927 hatte Thomas Parnell in Australien begonnen, das Tropfverhalten dieses sehr zähen Stoffs zu untersuchen. Er hat keinen einzigen Tropfen fallen gesehen. Er konnte dieses Pechklumpen-Experiment zu Lebzeiten nicht weiterführen, denn bis heute sind gerade 'mal acht Tropfen gefallen. Es gab lediglich einen ironischen Nobelpreis.
Warten ist aber nicht nur bei der Datenerhebung ein wesentlicher Teil des Forschungsprozesses, sagt Andreas Göttlich.
"Und zwar könnte man sagen, dass in vielen Fällen der Forscher abwarten muss, um zu einer korrekten Interpretation seiner Daten zu gelangen. Also man muss das Verstehen der Daten gewissermaßen in sich reifen lassen, man muss die Daten immer wieder hin und her wenden, von verschiedenen Seiten betrachten, bevor man eigentlich wirklich erkennen kann, was das bedeutet. Ich glaube tatsächlich, dass man das wohl für so ziemlich jedwede Form von Forschung behaupten kann, dass Warten eine Rolle spielt."