Soziale Not

Wie man Obdachlosigkeit wirksam bekämpfen könnte

Zwei Obdachlose liegen auf einem Fußweg an einer Hauptstraße im Bezirk Mitte in Berlin am 04.10.2014.
Soziale Realität in Berlin-Mitte: Zwei Obdachlose liegen auf einem Fußweg © dpa / Picture-alliance / Wolfram Steinberg
Von Vera Preiss · 30.10.2017
Vor drei Jahren lebten in Deutschland 335.000 Menschen auf der Straße, so die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. 2018 könnten es schon mehr als 500.000 sein. Dabei wäre es relativ einfach, bei Räumungsklagen zu helfen: Hingehen und klingeln.
Berlin Hohenschönhausen. Wolfgang Nickel führt durch seine Einraumwohnung.
"Ja, also meine Küche, wie du siehst, die ist schön groß, da hab ich mich riesig gefreut. Das ist nicht typisch für solche Neubau also für solche Plattenbauten. Da sind die Küchen ja eigentlich immer sehr klein."
Wolfgang Nickel hat viel Arbeit in die Küche gesteckt.
"Ja und siehst ja, ich hab mir das jetzt so mehr oder weniger halb als Speiseraum eingerichtet und meine Küche das obenrum das hab ich mir alles alleine gebaut, so mit Beleuchtung und so."
Auch einen Teil seiner Wohnzimmermöbel hat er im Laufe seines Lebens selbst gebaut. In der Schlafecke steht am Kopfende seines schmalen Bettes eine kleine Werkbank. Passend dazu trägt der 67-Jährige einen Blaumann.
"Also ich bin wirklich glücklich. Ich freue mich, dass ich diese Wohnung gekriegt habe."
Bis vor vier Monaten lebt Wolfgang in einer Sozialwohnung der Caritas. Davor hat er bei einer Bekannten zur Untermiete gewohnt, musste das Zimmer räumen, weil sie Eigenbedarf anmeldete. Beinahe wäre er auf der Straße gelandet. Wie schon einmal.
"Keine Wohnungsverwaltung nimmt einen, wenn man in die Schufa eingetragen ist. Und schon gar nicht so wie ich, also mit ein paar, weiß gar nicht, 60.000 oder so. Da wissen die ganz genau, da kommt nichts. Wobei das falsch ist. Im Prinzip ist das ja garantiert, dass das Sozialamt die Miete absichert."

Erst selbstständig, dann obdachlos

Wolfgangs Problem sind seine Schulden. Fast sein ganzes Leben hat der gebürtige Berliner gearbeitet. Als Maschinenschlosser, freiberuflicher Grafiker, Autoschlosser, Hausmeister, Galerieausstatter und als Restaurator. Ende der 80er-Jahre wagt er sich in die Selbstständigkeit und übernimmt eine Glaserei. Das Geschäft läuft gut. Bis 1995.
"Ja, aber bin da an die falschen Bauherren rangekommen. Da hatte ich mit einem Mal 60.000 D-Mark Schulden gehabt. Weil die vergessen haben zu bezahlen. Die Bauunternehmer. Die haben dann einfach Konkurs angemeldet, naja dann war man weg. Und da ich nie Kapital hatte, also dann könnte man ja sowas überwinden, ging nicht. Und dann ging das bei mir natürlich ganz schnell bergab. Naja und davon hab ich mich natürlich nie erholt."
Nicht nur wirtschaftlich geht es ihm immer schlechter – auch seine Ehe zerbricht. Dann: der Auszug aus der gemeinsamen Wohnung. Werkstatt und Auto werden gepfändet. So landet er auf der Straße, schläft in Heizungskellern, klaut Lebensmittel und beginnt zu viel zu trinken. Nach einem halben Jahr will er etwas verändern, meldet sich beim Sozialamt, bekommt Wohnung und Job vermittelt. 2009 macht er sich dann wieder selbstständig. Der Erfolg bleibt wieder aus.

Viele trauen sich nicht mehr die Post zu öffnen

Menschen wie Wolfgang Nickel kennt Kai-Gerrit Venske viele. Er ist Fachreferent für Wohnungslosenhilfe bei der Caritas Berlin. Schulden und Trennungen, psychische Probleme oder Drogen- und Alkoholsucht sind häufig die Gründe, die Menschen in die Obdachlosigkeit treiben.
Viele kapitulieren vor dem wachsenden Berg an Mahnbriefen und an der Post von Behörden. Mit Wäschekörben voller ungeöffneter Umschläge stünden die Betroffenen dann teilweise vor der Tür der Hilfseinrichtung. Doch da sei es meist schon zu spät, eine Räumung noch abzuwenden. Kai-Gerrit Venske erklärt, wie man den von Räumung bedrohten Menschen am besten helfen könnte.
"Die sozialen Wohnhilfen bekommen eine Information, wenn eine Räumungsklage ansteht. Und damit machen sie dann in aller Regel Folgendes: Sie schicken dem Betroffenen einen Brief und laden ihn ein in ihre Behörde. Nun sprach ich ja eben von dem Wäschekorb mit ungeöffneter Post, man kann sich vorstellen, wie solche Briefkästen aussehen. Es hat also in der Regel keinen großen Effekt, jemanden in einer solchen Situation anzuschreiben. Was es bräuchte, wäre jemand, der dort hingeht, klingelt, und die Leute aufsucht und Angebote macht. Und damit gibt es sehr gute Erfahrungen in Deutschland schon."

Hilfe anbieten, bevor es zu spät ist

Auf die Eigeninitiative der Betroffenen zu setzen sei illusorisch, sagt Kai-Gerrit Venske. Bisher gibt es aber nur einzelne Modellprojekte solcher aufsuchender Hilfen. Ein anderes Problem sei die Wohnungsnot in Deutschland.
"Das ist bundesweit. In allen größeren Städten über 100.000 Einwohnern oder in den meisten von denen, selbst in manchen ländlichen Gebieten haben wir die Zunahme von Wohnungsnot. Das heißt eben auch, dass immer mehr Menschen wohnungslos werden, untergebracht werden müssen, da wo Mieten nicht mehr bezahlbar sind."
Der ehemalige Obdachlose Wolfgang Nickel hat sich Hilfe geholt und bekommt inzwischen eine kleine Rente und zusätzliche Gelder vom Sozialamt.
"Ich hätte die Wohnung doch gar nicht bekommen, wenn ich nicht mit der Caritas, also wenn die mir nicht geholfen hätten."
(mw)
Mehr zum Thema