"Soziale Marktwirtschaft muss bedeuten, die Armut zu bekämpfen"

Moderation: Katrin Heise · 18.06.2008
73 Prozent der Deutschen haben laut einer Bertelsmann-Studie das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft verloren. Die als ungerecht empfundene Schere zwischen Hartz IV und überbordendem Reichtum in Deutschland ist dafür die Ursache, meint der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge von der Universität Köln.
Katrin Heise: Am Freitag jährt sich die Währungsreform zum 60. Mal. Aus diesem Anlass wollte die Bertelsmann-Stiftung von den Deutschen wissen, was sie eigentlich von den wirtschaftlichen Verhältnissen und der sozialen Marktwirtschaft halten. Es ergibt sich ein ziemlich düsteres Stimmungsbild. Die soziale Marktwirtschaft verliert an Vertrauen und Akzeptanz und fast drei Viertel der Bevölkerung sehen Ungerechtigkeit in Deutschland vorherrschen. Noch 1995 waren das nur 43 Prozent. Ich begrüße den Sozial- und Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, Professor an der Universität Köln. Schönen guten Tag!

Prof. Christoph Butterwegge: Ja, guten Tag, Frau Heise!

Heise: Graben wir erst mal die Wurzeln aus. Wofür steht die soziale Marktwirtschaft?

Prof. Butterwegge: Na, ursprünglich ist das ein Konzept, den Kapitalismus sozial zu gestalten, Wohlstand für alle zu ermöglichen, wie es Ludwig Erhard, der ja als Vater dieser sozialen Marktwirtschaft gilt, ausgedrückt hat. Und das ist für mich das Modell des rheinischen Kapitalismus, nämlich darauf zu setzen, das im Grunde alle partizipieren, niemanden zurückzulassen, sondern alle teilhaben zu lassen. Und ich glaube, dass diese Ursprungsidee sehr, sehr positiv zu bewerten ist.

Heise: Oder zu bewerten war. Denn wenn das Vertrauen und die Akzeptanz in die soziale Marktwirtschaft schwinden, heißt das doch, dass die Bürger kein Vertauen mehr in den Staat und seine Regelungen haben?

Prof. Butterwegge: Ja, sicherlich ist einmal der Staat betroffen, der politisch einwirkt auf die Rahmenbedingungen, nach denen die Wirtschaft funktioniert. Auf der anderen Seite glaube ich, dass hier auch sehr, sehr stark die Wirtschaft gemeint ist. Mit Ungerechtigkeit assoziiert man ja nicht nur den Staat, sondern, ich glaube auch, ein Wirtschaftsmodell, in dem mehr und mehr die einen sehr reich werden, nicht nur Manager, sondern noch viel mehr Großaktionäre und Kapitalanleger. Auf der anderen Seite aber auch immer mehr Menschen in einem Niedriglohnsektor arbeiten, wie in den USA und kaum Geld zum Leben haben, um sich und ihre Familie zu ernähren.

Heise: Managergehälter bzw. Aktionäre auf der einen Seite, Hartz IV auf der anderen Seite. Das erscheint mir als Erklärung aber trotzdem doch sehr einfach. Warum halten tatsächlich 73 Prozent der Menschen in Deutschland die wirtschaftlichen Verhältnisse für ungerecht?

Prof. Butterwegge: Ja, weil sie in den letzten Jahren erleben, dass Arm und Reich immer mehr auseinanderklaffen in unserer Gesellschaft. Ich glaube, das ist ein Phänomen, das es so tiefgreifend jedenfalls zu Zeiten von Ludwig Erhard eben nicht gegeben hat, sondern da war das Versprechen "Wohlstand für alle". Und heute begnügt sich die Bundeskanzlerin mit dem Versprechen, anknüpfend an Ludwig Erhard, "Bildung für alle", was auch sehr richtig und wichtig wäre, aber was natürlich schon die Rücknahme des früheren Versprechens ist, wo es nicht nur um Bildung und Kultur ging, sondern darüber hinaus eben auch Verteilungsgerechtigkeit eine Rolle spielte. Und in letzter Zeit, denke ich, sind Reformen im Sozialstaat vorgenommen worden, die eben weniger Verteilungsgerechtigkeit gebracht haben und mit Hartz IV als Beispiel natürlich deutlich auch Armut in der Gesellschaft verankert haben und die Angst vor dem sozialen Abstieg und vor der Armut. Das ist, glaube ich, für mich jedenfalls die Triebkraft, unsere Gesellschaft mehr und mehr für ungerecht zu halten.

Heise: Und was bedeutet denn so eine hohe Unzufriedenheit für eine Gesellschaft, für ihren Zusammenhalt?

Prof. Butterwegge: Ja, das bedeutet u.a., dass möglicherweise rechtsextreme oder rechtspopulistische Strömungen und Bestrebungen größeren Erfolg haben könnten. Denn wenn man darauf hinweist, dass die Gesellschaft ihrem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht wird und der Staat nicht als eine Institution gilt, die für solche Gerechtigkeit sorgt, dann ist etwa das Versprechen, wir können es besser, wir würden etwa mit einem Führer oder mit einer autoritären Politik es besser machen als die Demokratie. Dann ist natürlich mit solchen Versprechen der Nährboden für den Rechtsextremismus bereitet, und das ist zumindest meine Hauptsorge.

Heise: Mieses Stimmungsbild in Deutschland. Drei viertel der Bevölkerung empfinden die wirtschaftlichen Verhältnisse als ungerecht, dazu der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge im "Radiofeuilleton". Herr Butterwegge, was muss man, ja, nicht nur der Politik, sondern überhaupt der Gesellschaft dann als Rat geben?

Prof. Butterwegge: Ja, man müsste ihr den Rat geben, dass man wieder stärker auf das Soziale setzt. Denn in dem Versprechen soziale Marktwirtschaft zu praktizieren, ist ja dieser Begriff des Sozialen zentral. Und auch in unserem Grundgesetz, in der Verfassung ist angelegt das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes. Und ich habe in letzter Zeit den Eindruck, dass das Soziale mehr und mehr dem Ökonomischen untergeordnet wird. Das müsste man ändern, andere Reformen müssten her, nicht die Modernisierung der Gesellschaft in neoliberaler Form, sondern stattdessen in sozialer Form, human gestaltet von den Menschen, auch vielleicht mehr mitbestimmt. Und dann wird sicherlich auch wieder mehr Gerechtigkeit einkehren.

Heise: Das würde aber auch bedeuten, wieder mehr Eingriff der Politik in die Gesellschaft?

Prof. Butterwegge: Ja, wenn sich der Staat zurückzieht und den Menschen sagt, seid eigenverantwortlich, kümmert euch um euch selber, dann wird er natürlich den Aufgaben und den Problemen der heutigen Zeit nicht gerecht. Denn die sind ja so groß, die Probleme, etwa durch Globalisierung oder durch den demografischen Wandel, sagt man, dass der Staat ganz offensichtlich nicht in der Lage dazu ist. Dann aber den Bürgern selbst die Verantwortung zuzuschieben, das kann es nicht sein. Sondern ich finde, dass man die Politik und den Staat in der Tat wieder stärker dann auch in die Verantwortung nehmen müsste, genauso wie übrigens auch die Wohlhabenden und Reichen in dieser Gesellschaft.

Heise: Die Bertelsmann-Stiftung zusammen mit der Heinz-Nixdorf-Stiftung und der Ludwig-Erhard-Stiftung, die haben 350 Bürger über drei Monate hinweg ihr Konzept einer zukunftsfähigen sozialen Marktwirtschaft erarbeiten und in Bürgerforen diskutieren lassen. Die detaillierten Ergebnisse sollen jetzt zum 60. Jahrestag der Währungsreform vorgestellt werden. Eine zentrale Forderung ist mehr Geld in die Bildung als Schlüssel zur Chancengerechtigkeit. Da widerspricht ja erst mal kein Politiker, das schreibt ja Angela Merkel eben, wie Sie auch schon erwähnten, auf ihre Fahnen.

Prof. Butterwegge: Ja, mehr Bildung ist sicher richtig, aber man darf auch nicht so tun, als wäre die Bildung eine politische Wunderwaffe etwa im Kampf gegen die Armut, weil wenn alle besser gebildet sind, konkurrieren die Jugendlichen wohlmöglich auf einem höheren Bildungsniveau um die nicht vorhandenen Lehrstellen und Arbeitsplätze. Bildung ja, aber auch eben Umverteilung des Reichtums dieser Gesellschaft. Denn die Gesellschaft war ja noch nie so reich wie heute, viel reicher ist sie heute als zu Ludwig Erhards Zeiten. Und nur noch über Bildung zu sprechen und nicht mehr über das Geld und dessen gerechtere Verteilung, kann es, denke ich, auch nicht sein. Und man muss denjenigen, die arm sind, auch die Ressourcen geben, die nötig sind, um sich zu bilden, um teilzuhaben an kulturellen Prozessen. Wenn zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter nicht Geld hat, um Nachhilfestunden für ihr Kind zu bezahlen, dann wird dieses Kind höchstwahrscheinlich auch Nachteile erleiden im Bildungsbereich. Und das heißt, mehr Bildung, mehr Kultur ist ein richtiger Ansatz, aber es geht nicht, ohne auch ein Mehr an Verteilungsgerechtigkeit.

Heise: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann kommen Sie immer wieder auf Umverteilung, auf Umverteilung der Gelder, auf Umverteilung des Reichtums zu sprechen. Mit wem wollen Sie das in unserem Staat machen?

Prof. Butterwegge: Ja, mit den denjenigen vor allen Dingen, die ein Interesse daran haben, dass sie nicht immer abgehängt werden.

Heise: Die Wirtschaft aber hat das ja vielleicht nicht.

Prof. Butterwegge: Ja, das ist richtig.

Heise: Sie müssten aber umverteilen.

Prof. Butterwegge: Aber die Wirtschaft alleine kann doch nicht darüber bestimmen, wohin sich die Gesellschaft entwickelt. Wenn die Wirtschaft alleine darüber entscheidet, und in der Tat gibt es ja so eine Tendenz dahin, dann wird das Gefühl doch von Ungerechtigkeit in der Gesellschaft wachsen, weil man selber, die vielen Millionen Menschen, die nun nicht zu den Privilegierten in der Wirtschaft gehören, weil die nicht teilhaben an diesem wachsenden Reichtum. Und wenn Sie sehen auf der einen Seite, die beiden reichsten Männer der Bundesrepublik haben ein Privatvermögen von 50 Milliarden US-Dollar, das sind die Gebrüder Albrecht, Eigentümer der Aldi-Ketten Nord und Süd, und auf der anderen Seite haben Sie gut 2,5, 2,8 Millionen arme Kinder, die auf oder unter dem Sozialhilfeniveau leben, dann zeigt das doch deutlich, wie tief die Kluft ist. Und wenn man die nicht schließt, dann kann doch das Bewusstsein, wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft nie wieder entstehen, sondern soziale Marktwirtschaft hieß doch mal ursprünglich, eine Marktwirtschaft zwar, ich würde sie lieber deutlicher Kapitalismus nennen, wie man dann das in den USA ganz selbstverständlich tut. Bei uns hat man eher einen Kosenamen gewählt. Aber soziale Marktwirtschaft muss doch bedeuten, die Armut zu bekämpfen, wirksam, und alle teilhaben zu lassen an diesem wachsenden Reichtum. Das heißt nicht, den Reichen ihre Milliarden wegzunehmen, aber stärker zu besteuern und nicht immer die Spitzensteuersätze herabzuziehen und die Unternehmenssteuern zu senken, sondern vielleicht stattdessen eher auch mal dafür zu sorgen, dass diejenigen weniger Steuern zahlen, die dazu viel weniger in der Lage sind, weil sie nur sehr wenig verdienen.

Heise: Jetzt ist die Bertelsmann-Stiftung mit diesen Ergebnissen an die Öffentlichkeit gegangen. Ist Ihrer Meinung nach eine Meinungsumfrage tatsächlich in der Lage, ein differenziertes und den gesellschaftlichen Erfordernissen gerecht werdendes Bild tatsächlich auch zu entwerfen?

Prof. Butterwegge: Na, solche Umfragen sind sicher immer Momentaufnahmen. Man müsste auch gucken, wie ist gefragt worden, ist es methodisch korrekt gemacht worden. Das unterstelle ich jetzt mal. Auf der anderen Seite, die Bertelsmann-Stiftung beklagt diese fehlende Akzeptanz unserer Wirtschaftsordnung. Und sie hat natürlich solche Reform wie Hartz IV selbst mit angestoßen und aus meiner Sicht mit dazu beigetragen, dass es solche Ergebnisse gibt. Ich würde das Ergebnis nicht anzweifeln, sondern ich habe auch den Eindruck, dass immer mehr Menschen unzufrieden mit ihrer sozialen Situation sind auf der einen Seite und sehen, dass andere in der Gesellschaft in einer sehr viel besseren Situation sind und daraus schlussfolgern, also werde ich ungerecht behandelt. Und dieses subjektive Gefühl basiert auf objektiven Entwicklungen, die es in den letzten Jahren und Jahrzehnten in der Politik der Bundesrepublik gegeben hat.

Heise: Prof. Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und Sozialwissenschaftler an der Universität Köln. Herr Butterwegge, ich danke Ihnen recht herzlich für das Gespräch!

Prof. Butterwegge: Ja bitte, Frau Heise!

Das Gespräch mit Professor Christoph Butterwegge zum Thema soziale Marktwirtschaft können Sie bis mindestens 18.11.2008 als Audio-on-demand abrufen.