Soziale Gerechtigkeit
Die erste im Jahr der Wahlen haben wir glücklich hinter uns, sie war kurz und schmerzlos. Aber es kommt unter Garantie schlimmer. Für alle mit Geschmack und Verstand ausgestatteten Menschen sind Wahljahre eine Zumutung.
Da wird auf eine möglichst eingängige Formel gebracht, was als politische Botschaft kaum noch zu erkennen ist, und wer den dabei ausgelegten Fährten folgt, findet sich unversehens in einem Land und unter Leuten wieder, die ihm völlig fremd sind. In einem Land, in dem allenthalben die Armut lauert, die Menschen Angst haben, Rentner frierend vor ihrem Kohleöfchen hocken und Kinder mittags vor den Suppenküchen Schlange stehen.
Alles nur Parolen, sicher. Aber es fällt doch auf, dass nur die FDP noch auf das Wörtchen verzichtet, alle anderen versprechen Gerechtigkeit, als ob hierzulande Willkür und Ausbeutung regierten. Und als ob wir alle Angsthasen wären – allenthalben wiegt man die Menschen in Sicherheit, beruhigt und beschwichtigt: Dein Konto ist sicher. Dein Arbeitsplatz. Die Rente sowieso. Und für all das sorgt Dein Staat mit nie dagewesenem Engagement: Wer zählt die Steuermilliarden, die in diesem oder jenem Konjunkturpaket verdampfen und verdunsten werden?
Natürlich sind die Bundesbürger in toto keine Herde von Bedürftigen und Beschützenswerten, denen ein paar reiche Hanseln gegenüberstehen, denen man nehmen muss, damit man allen anderen geben kann. In Wahlkampfzeiten kommt die Wirklichkeit notorisch zu kurz. Und dennoch möchte man am Beginn eines Jahres der Parolen vorsichtshalber darauf hinweisen: Es gibt auch all die anderen noch, Steuerzahler wie Du und ich, weder richtig arm noch sonderlich reich, Bürger, für sich selbst verantwortlich und dennoch keine dem Gemeinwohl abgewandten Egoisten. Sicher, sie halten sich gern bedeckt, da jedes selbstbewusste Auftrumpfen zu einem wohlbekannten politischen Reflex verführt, den Übermut durch ein paar fiskalische Eingriffe zu beschneiden, während man auf der sicheren Seite ist, wenn man jammert.
In Wahlkampfzeiten indes verschwindet diese schweigende Minderheit völlig. Unter den Politparolen verändert das deutsche Volk seine Zusammensetzung, das Land sein Aussehen, verliert der Bürger seinen Status als freier, selbstverantwortlicher Mensch. Stattdessen wird er Objekt der Zuwendung der großen Mutter Staat – ob er will oder nicht.
Das alles hat natürlich seine Logik. Politik hat schließlich mit der Wirklichkeit oder mit der Lösung drängender Probleme recht wenig zu tun. Politik braucht Mehrheiten und verwirklicht lediglich das Machbare, was wiederum von diesen Mehrheiten abhängt. Und deshalb ist die Minderheit der Steuerzahler nicht interessant.
Denn die Wählermehrheit hat ein anderes Profil: Dort bezieht man entweder Transfereinkommen – also Leistungen wie Renten, Pensionen, Hartz IV, für die keine ökonomische Gegenleistung erbracht werden müssen – oder wird direkt, wie die Beamten, vom Staat alimentiert, was Interessen und Abhängigkeiten definiert. Und solche Interessen muss ein erfolgreicher Wahlkampf bedienen. Interessen, die eher auf Werte wie "soziale Gerechtigkeit" ansprechen als auf Freiheit, eher auf Sicherheit als auf Herausforderung und Risiko.
Doch die Logik der Wählermehrheit hat ihren Preis: Der für sich selbst verantwortliche und sich zugleich für das Gemeinwohl zuständig fühlende Bürger kommt im politischen Diskurs nicht mehr vor. Die Umverteilungsparolen "soziale Gerechtigkeit", "Sicherheit" und "Solidarität" haben das selbstverständliche Gefühl für den notwendigen Gemeinsinn ausgehöhlt. An die Stelle solcher Bürgertugenden tritt der Staat, dabei braucht man gerade in Krisenzeiten das Quäntchen Aufbruchstimmung, das allein aus ihr wieder herausführen kann – eine liberale, risikobewusste und -freudige Sicht der Dinge, eine Auffassung von der Welt, die von ihr nicht nur Stabilität und Sicherheit erhofft, sondern ebenso Herausforderung und Abenteuer. Früher hätte man das einen genuin bürgerlichen Diskurs genannt.
Wer darauf hofft, dem bleibt ein Trost: Auch dieses Wahljahr ist irgendwann vorbei.
Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte", "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".
Alles nur Parolen, sicher. Aber es fällt doch auf, dass nur die FDP noch auf das Wörtchen verzichtet, alle anderen versprechen Gerechtigkeit, als ob hierzulande Willkür und Ausbeutung regierten. Und als ob wir alle Angsthasen wären – allenthalben wiegt man die Menschen in Sicherheit, beruhigt und beschwichtigt: Dein Konto ist sicher. Dein Arbeitsplatz. Die Rente sowieso. Und für all das sorgt Dein Staat mit nie dagewesenem Engagement: Wer zählt die Steuermilliarden, die in diesem oder jenem Konjunkturpaket verdampfen und verdunsten werden?
Natürlich sind die Bundesbürger in toto keine Herde von Bedürftigen und Beschützenswerten, denen ein paar reiche Hanseln gegenüberstehen, denen man nehmen muss, damit man allen anderen geben kann. In Wahlkampfzeiten kommt die Wirklichkeit notorisch zu kurz. Und dennoch möchte man am Beginn eines Jahres der Parolen vorsichtshalber darauf hinweisen: Es gibt auch all die anderen noch, Steuerzahler wie Du und ich, weder richtig arm noch sonderlich reich, Bürger, für sich selbst verantwortlich und dennoch keine dem Gemeinwohl abgewandten Egoisten. Sicher, sie halten sich gern bedeckt, da jedes selbstbewusste Auftrumpfen zu einem wohlbekannten politischen Reflex verführt, den Übermut durch ein paar fiskalische Eingriffe zu beschneiden, während man auf der sicheren Seite ist, wenn man jammert.
In Wahlkampfzeiten indes verschwindet diese schweigende Minderheit völlig. Unter den Politparolen verändert das deutsche Volk seine Zusammensetzung, das Land sein Aussehen, verliert der Bürger seinen Status als freier, selbstverantwortlicher Mensch. Stattdessen wird er Objekt der Zuwendung der großen Mutter Staat – ob er will oder nicht.
Das alles hat natürlich seine Logik. Politik hat schließlich mit der Wirklichkeit oder mit der Lösung drängender Probleme recht wenig zu tun. Politik braucht Mehrheiten und verwirklicht lediglich das Machbare, was wiederum von diesen Mehrheiten abhängt. Und deshalb ist die Minderheit der Steuerzahler nicht interessant.
Denn die Wählermehrheit hat ein anderes Profil: Dort bezieht man entweder Transfereinkommen – also Leistungen wie Renten, Pensionen, Hartz IV, für die keine ökonomische Gegenleistung erbracht werden müssen – oder wird direkt, wie die Beamten, vom Staat alimentiert, was Interessen und Abhängigkeiten definiert. Und solche Interessen muss ein erfolgreicher Wahlkampf bedienen. Interessen, die eher auf Werte wie "soziale Gerechtigkeit" ansprechen als auf Freiheit, eher auf Sicherheit als auf Herausforderung und Risiko.
Doch die Logik der Wählermehrheit hat ihren Preis: Der für sich selbst verantwortliche und sich zugleich für das Gemeinwohl zuständig fühlende Bürger kommt im politischen Diskurs nicht mehr vor. Die Umverteilungsparolen "soziale Gerechtigkeit", "Sicherheit" und "Solidarität" haben das selbstverständliche Gefühl für den notwendigen Gemeinsinn ausgehöhlt. An die Stelle solcher Bürgertugenden tritt der Staat, dabei braucht man gerade in Krisenzeiten das Quäntchen Aufbruchstimmung, das allein aus ihr wieder herausführen kann – eine liberale, risikobewusste und -freudige Sicht der Dinge, eine Auffassung von der Welt, die von ihr nicht nur Stabilität und Sicherheit erhofft, sondern ebenso Herausforderung und Abenteuer. Früher hätte man das einen genuin bürgerlichen Diskurs genannt.
Wer darauf hofft, dem bleibt ein Trost: Auch dieses Wahljahr ist irgendwann vorbei.
Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte", "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".