Digital Streetwork

Wenn Sozialarbeiter von der Straße ins Netz gehen

07:06 Minuten
Ein junger Mann sitzt vor einem Computerbildschirm und spielt ein Online-Spiel.
Gaming gehört zur Lebensrealität junger Menschen. Sozialarbeiter können mit ihnen online ins Gespräch kommen - eine Form von "Digital Streetwork". © IMAGO / Zoonar II / Kasper Ravlo
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Gaming und Chatten als soziale Arbeit: Statt Jugendliche auf der Straße aufzusuchen, müssen Streetworker heute auch im Internet präsent sein. Dort, wo sich eventuell einsame und hilfsbedürftige Jugendliche aufhalten. Wie geht Jugendarbeit online?
Bislang wenden sich Streetworker an schwer erreichbare Jugendliche vor allem auf der Straße und bieten ihnen Hilfe an. Doch junge Menschen verbringen heutzutage viel Zeit im Internet: bei Online-Spielen oder auf Social Media. Dort tauschen sie sich aus und besprechen auch ihre Probleme. Sozialarbeiterinnen und -arbeiter reagieren darauf, indem auch sie online aktiv werden.
Das geht über das Angebot hinaus, dass sie mittlerweile auch per WhatsApp erreichbar sind – was manche Beratungsstellen ebenfalls unter „Digital Streetwork“ verbuchen. Wie funktioniert Jugendarbeit im Netz? Und mit welchen Problemen hat sie es zu tun?

Was ist „Digital Streetwork“?

„Digital Streetwork“ ist eine Weiterentwicklung und Ergänzung der klassischen Straßensozialarbeit. In den 1970er-Jahren bildete sich Streetwork in Deutschland als selbstständiger Zweig der Sozialarbeit heraus: An Bahnhöfen oder in Parks begannen Streetworker die Jugendlichen aufzusuchen, die zum Beispiel wegen Drogenproblemen offizielle Beratungsstellen mieden.
Auch bei der digitalen Variante geht es darum, junge Menschen in ihrer Lebenswelt abzuholen: in Internet-Foren, auf Plattformen wie TikTok, beim Gaming. Im Jahr 2023 verbrachten Jugendliche laut der JIM-Studie durchschnittlich 224 Minuten täglich online. Als „Internetpolizei“ verstehen sich Sozialarbeiter aber nicht. Aufsuchende Arbeit, ein akzeptierender Ansatz und zusätzliche Hilfsangebote in der analogen Welt kennzeichnen „digitale Straßenarbeit“.

Wie kommen die Streetworker an die Jugendlichen heran?

Schlagworte wie „Einsamkeit“, „Angst“ oder „Missbrauch“ in Foren filtern: Das gehört zur Routine von Sozialarbeit im Netz. Bis zu 1.000 Suchergebnisse kommen etwa bei der Plattform Reddit zusammen – täglich. Dort teilen Hunderttausende Menschen Inhalte. Streetworker schauen sich die Beiträge an und kontaktieren User, bei denen sie davon ausgehen, dass sie Hilfe gebrauchen könnten. Die Angebote sind vertraulich, niemand muss sie annehmen. Und: Es herrscht eine Schweigepflicht aufseiten der Sozialarbeiter.
So handhabt es „Digital Streetwork“ in Bayern. Seit der Gründung 2021 hat die Initiative mehr als 7.000 Kontakte gezählt. Die Sozialarbeiter des Modellprojekts nutzen auch ein Streaming-Studio, in dem sie sich live beim Gamen filmen. Sie steigen in virtuelle Spiele-Welten ein und sprechen nebenbei mit Jugendlichen. Auch so können sie von möglichen Problemen erfahren und Unterstützung anbieten.
Mit „pre:bunk“ setzt die Amadeu Antonio Stiftung auch eine präventive Variante digitaler Jugendarbeit um: Informative Videos auf TikTok sollen junge Menschen befähigen, Desinformation frühzeitig zu erkennen. Es gibt auch Livestream-Sprechstunden. Die Sozialarbeiter wollen „auf Augenhöhe“ mit jungen Menschen in den Austausch kommen und Diskriminierung vorbeugen.

Bei welchen Problemen brauchen Jugendliche besonders oft Hilfe?

Verschuldung, Mobbing, Liebeskummer, Drogenprobleme, Stress mit der Familie oder in der Schule – all diese Themen begegnen digitalen Streetworkern. Am meisten haben sie es mit Einsamkeit, Depressionen und überhaupt Fragen zur psychischen Gesundheit Jugendlicher zu tun.
Jerome Trebing von der Amadeu Antonio Stiftung berichtet über häufige Fälle von Hass im Netz und digitaler Gewalt. Oft handele es sich um gezielte Kampagnen: Jugendliche würden monatelang zum Beispiel im Klassenchat von Mitschülern „fertiggemacht“.
Für eine Unterstützung gebe es kein Patentrezept, so Trebing. Man könne zu einer Anzeige raten oder versuchen, die „psychosozialen Effekte“ abzufedern, den Betroffenen zur Seite stehen und „Offline“-Angebote vermitteln, die vor Ort unterstützen können.
Gerade infolge von Konflikten wie dem zwischen Israel und der Hamas seien Jugendliche online mit „schlimmsten Kriegsinhalten“ konfrontiert. Es werde auch unreflektiert Propaganda geteilt. „Wir verurteilen das nicht, sondern wir arbeiten daran, dass Reflexionsprozesse entstehen“, betont Trebing. Demokratie und Menschenrechte sichtbar zu machen und auch im Internet zu verteidigen, sei das Ziel. 
Laut der JIM-Studie 2023 war gut jeder Zweite der befragten Jugendlichen schon mit beleidigenden Kommentaren konfrontiert. Zwei von fünf hatten Kontakt mit extremen politischen Ansichten, Verschwörungstheorien oder Hassbotschaften.

Welche positiven Erfahrungen gibt es bei dieser Form der Sozialarbeit?

Bei „Digital Streetwork“ gibt es nicht unbedingt kurzfristige Erfolge. Doch Jerome Trebing von der Amadeu Antonio Stiftung hat die Erfahrung gemacht, dass man mit dieser Form der Sozialarbeit Menschen erreicht und sich „Impulse im digitalen Raum“ setzen lassen.
Oft können digitale Streetworker Jugendliche an lokale soziale oder therapeutische Angebote vermitteln. Das bayerische Modellprojekt „Digital Streetwork“ berichtete 2023 von mehr als 430 derartigen Fällen binnen zwei Jahren. Und dort, wo es kaum solche Anlaufstellen gibt wie etwa auf dem Land, lassen sich gerade mit dieser Form der Sozialarbeit junge Menschen erreichen.
Für ein weiteres derartiges Projekt für Jugendliche mit Suchtproblemen - ConAction in München - stellte eine begleitende Studie fest: „In einer zunehmend digital geprägten Welt erweist sich Online-Streetwork als zukunftsweisende Methode, um junge Menschen niedrigschwellig zu erreichen und ihnen in ihrer Lebenswelt Unterstützung anzubieten.“
Digitale Streetworker erleben immer wieder, dass Jugendliche sich online überhaupt zum ersten Mal trauen, über ihre Probleme zu sprechen.

Wie verbreitet ist „Digital Streetwork“ in Deutschland?

Es gibt mehrere Projekte mit „Digital Streetwork“ in Deutschland. Die soziale Arbeit hatte das Feld bis vor wenigen Jahren noch nicht erschlossen, berichtet der Sozialpädagoge Andreas Knecht. Er gehört zu den Gründern des bayerischen Modellprojekts. Jerome Trebing von der Amadeu Antonio Stiftung sagt, die Sensibilität dafür, dass Sozialarbeit im Netz wichtig sei, habe nach Corona wieder abgenommen.
Ein Problem in Deutschland ist auch, dass Jugendarbeit grundsätzlich kommunal finanziert wird. Doch das Netz ist grenzenlos. „Wenn ich offline Streetwork betreibe und mit Jugendlichen in Kontakt trete, dann kontrolliere ich auch nicht zuerst die Pässe und sage: Du kommst nicht aus meinem Bundesland, du kriegst keine Beratung“, so Trebing. „Aber online werden immer noch so harte Grenzen gesetzt, als müsste man Bundesländer online voneinander abgrenzen.“
Im Bereich der Prävention ist aber auch bundesweit einiges möglich. So widmet sich die Initiative streetwork@online der Vorbeugung von religiös begründetem Extremismus in Online-Netzwerken und Messenger-Diensten. Streetworker sind zum Beispiel auf Instagram, TikTok, Telegram, Facebook und Discord aktiv, um den „Dialog mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu fördern, die mit extremistischen Inhalten konfrontiert“ sind.
bth
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