Sound-Pionier

Ein Revolutionär der Musikgeschichte

Von Tobias Feld |
Aus Hitler-Deutschland flieht Gustav Ksinski nach Palästina, lebt glücklich im Kibbuz und zieht 1964 nach New York, wo er als Gershon Kingsley zu einem Pionier des Synthesizer-Sounds wird. Mit seiner elektronischen Musik macht er sich im Pop wie in der Klassik einen Namen.
"Meine Eltern betrieben einen großen Teppichladen am Kurfürstendamm, jener vornehmen Flaniermeile im Westen Berlins. Jahre zuvor kam mein Vater auf einer seiner Geschäftsreisen nach Essen, wo meine Mutter zusammen mit ihrer Schwester ein Lokal führte, in dem Weine zum Verkosten angeboten wurden. Mein Vater saß dort an der Pianobar und spielte als begnadeter Pianist Klavier. Sie sah ihn und er sah sie; kurze Zeit später war meine Mutter schwanger. Meine glückliche Kindheit dann wurde überschattet durch das Aufkommen der Nazis. Heute weiß ich: Ihre Machtergreifung prägte meine Kindheit mehr, als meine Eltern es taten. Während der Pogrome zerstörten die Nazis unser Schaufenster und schrieben: 'Kauft nicht beim Juden!' an die Fassade. Danach hatten wir nur noch ein Ziel: Das Land verlassen."
Dabei war die Entzückung über Hitler so gewaltig, dass zu seiner Machtübernahme im Jahre 1933 gar der Jude Max Ksinski Gedichte über den neuen Reichskanzler verfasst. Wie so viele sieht auch Götz Gustav Ksinskis Vater in ihm zunächst eine Heilsfigur, die in Zeiten der Weltwirtschaftskrise die Erlösung bringen soll.
Hitlers vernichtende Ideologie nahm Ksinski zunächst nicht wahr. Schließlich waren Juden bisher ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft; allein rund 100.000 dienten während des Ersten Weltkrieges als Soldaten des Deutschen Heeres. Doch dann werden 1935 die Nürnberger Rassengesetze zur "Reinhaltung des deutschen Blutes" verkündet. Zusehends werden auch die Mitglieder der Familie Ksinski entrechtet und verfolgt im eigenen Land. Im Jahr 1938 flieht der 15-jährige Götz Gustav ins Gelobte Land Palästina – und entkommt so dem Massenmord der Nazis.
"Einige Wochen später folgten meine Eltern, die über Kuba mittels eines Visums versuchten in die Vereinigten Staaten von Amerika zu gelangen. Mein Bruder und meine Eltern brachten mich damals zum Zug. Ich sehe heute noch meine Mutter weinen. Dann kam die Polizei, um den Zug zu versiegeln, sodass keiner mehr heraus gelangen konnte. Besonders die erste Etappe dann von Berlin nach Genua ist mir heute noch in schöner Erinnerung. Im Kibbuz waren wir alle sehr glücklich. Denn wir waren in Palästina. Es war so eine wundervolle Erfahrung, quasi in unserem eigenen Land zu sein. Morgens arbeiteten wir auf den Feldern, nachmittags wurden wir in Landwirtschaft unterrichtet. Die Hälfte von uns waren Jungs, die andere Hälfte Mädchen. Wir waren verliebt, wir sprachen, wir tanzten; wir waren frei und die Nazis waren weit weg. Es war wie in einer Oase. Es war so eine wundervolle, wundervolle, wundervolle Zeit."
Aus Gustav Ksinski wird 1964 Gershon Kingsley
Rund drei Jahrzehnte sollten vergehen, ehe mit einem gewissen Jean-Jaques Perry sein Leben im Jahre 1964 erneut eine nachhaltige Wendung erfährt. Inzwischen folgte Götz Gustav Ksinski seinen Eltern nach New York, nennt sich fortan Gershon Kingsley und verdiente sich am Theater seine ersten Sporen. Doch mit Perry, dem einstigen Medizinstudenten und Handelsreisenden in Sachen Ondioline – einem Vorläufer des Synthesizers – kommt der Erfolg.
Mit Schlips und Anzug touren Perry und Kingsley in einer Mischung aus Kabarett und Konzert umjubelt durch amerikanische Fernsehanstalten. 1966 dann erscheint ihr gemeinsames Werk, das heute als Inbegriff humoristischer Popmusik gilt. Mit “In Sound From Way Out!”, das sich aus unzähligen aneinander geklebten Tonbandschnippsel zusammensetzt, nehmen die beiden die Technik des Samplings vorweg. Doch zur Legende wurde Kingsley mit dem von Bob Moog im Jahre 1964 konstruierten, ersten kommerziell erfolgreichen elektronischen Synthesizer, der die Popmusik revolutionieren sollte.
"This Synthesizer is nothing but a new step in the evolution of musical instruments"
sagt Kingsley bei einer Vorführung dieser neuen Wunderkiste.
"Ich war immer an Klangerzeugung interessiert. 1969 dann begegnete mir zum ersten Mal Bob Moog. Ich fragte ihn: 'Wieviel soll so ein Moog denn kosten?' '3.500 Doller' antwortete Bob Moog. Heute wären das etwa 35 000 Dollar. Ich beratschlagte mich mit meiner Frau. Und die sagte: 'Dann nimm ihn'. Es war übrigens mein letztes Geld."
Der Rest ist Musikgeschichte. Gershon Kingsley improvisiert zu Beethoven und Mozart – und komponiert 1969 mit “Popcorn” das erste Stück elektronische Musik, welches in der Version von Hot Butter im Jahre 1972 zu einem Welthit geriet. Heute existieren Hunderte Coverversionen und Remixe dieses Stückes, das sich weltweit millionenfach verkaufte.
Als Hommage an seine jüdischen Wurzeln erscheint 1969 zugleich sein Album “Shabbat For Today”, das in der jüdischen Reformgemeinde “Rodeph Sholom” in Manhatten zur Uraufführung gelangt. Unterdessen schloss Kingsley Frieden mit seinem Heimatland. Seine erste Tournee mit seinem First Moog Quartet führt den bereits 55-Jährigen nach einem Auftritt in der New Yorker Carnegie Hall nach Köln und München, wo er mit den Orchestern des Westdeutschen Rundfunks und des Bayerischen Rundfunks auch in Deutschland Musikgeschichte schreibt.