Sound der Migration

Von Christiane Gerischer · 30.10.2007
Musikalische Schwerpunkte lässt das Programm des JazzFest Berlin nicht erkennen. Eher spiegelt es die Diversität der Szenen. Dabei gibt es kaum eine Band, in der nicht mehrere Nationalitäten vertreten wären. Jazz als Sound der Migration ist eine Klammer für den Leiter Peter Schulze, der betont, in diesem Jahr sei "sehr viel Melodiöses" dabei.
Nach langen Jahren der Trennung finden muslimische und jüdische Musiker wieder zusammen, um Chaabi-Musik zu spielen – Musik, die in Algerien in den 1940er und 50er Jahren populär war.

Überhaupt bekommen Weltmusikfreunde beim diesjährigen JazzFest viel geboten: Am Samstag tritt das derzeit beste Choro-Trio – das "Trio Madeira" – aus Brasilien zusammen mit dem Ausnahmegitarristen Yamandú Costa auf. Auch Choro ist populäre und virtuose Musik, ihre Anfänge liegen schon im 19. Jahrhundert. Oder "Hazmat Modine" eine außergewöhnliche Bluesband aus New York, die viel mit Balkansounds experimentiert.

Damit setzt Peter Schulze, der künstlerische Leiter des Festivals, Akzente, die seine Vorstellung vom Jazz unterstreichen:

"Was den Jazzbegriff angeht, bin ich sehr offen, für mich ist die Jazzgeschichte eine Akkumulation von Stilistiken, die so vielfältig sind, dass man Gemeinsames daraus kaum herausfiltern kann. Was aber gemeinsam ist, ist der improvisatorische Charakter, der urbane und auch der tanzbare, und das gilt sowohl für Choro als auch für Chaabi."

Vor allem sind jedoch europäische Bands beim diesjährigen Jazzfest Berlin zu hören, und da scheint die europäische Gemeinschaftsarbeit schon sehr gut zu funktionieren, denn es gibt kaum eine Band, in der nicht mehrere Nationalitäten vertreten wären. Jazz als transkulturelles Phänomen, Jazz als Sound der Migration, das sind weitere Stichworte für Peter Schulze:

"Mir geht es darum zu zeigen, zu parallelisieren freiwillige und unfreiwillige Migration. (...) In Europa migrieren sehr viele Musiker mittlerweile freiwillig, und sie suchen sich die Szene aus, zu der sie die größte Affinität empfinden."

Erstmalig hat ein Musiker eine Art Carte blanche erhalten: Der in Berlin lebende finnische Gitarrist Kalle Kalima wird an vier Abenden des Jazzfest in jeweils unterschiedlichen Konstellationen auftreten.

Schulze: "Kalle Kalima ist geradezu ein prototypischer Fall eines europäischen Jazzmusikers, der ist sowohl in Finnland bekannt als auch in Deutschland, und er ist wirklich in beiden Szenen zu Hause. Er hat einige finnische Projekte, mit denen er arbeitet, und einige deutsche Projekte, ich dachte, das ist der richtige Typ, um das mal exemplarisch zu zeigen. Ich finde ihn einen wirklich spannenden Musiker, spannenden Gitarristen, spannenden Konzeptionisten. Ich denke das trägt für die vier Tage."

Musikalische Schwerpunkte oder programmatische Schienen lässt das Programm des JazzFest Berlin nicht erkennen. Eher spiegelt es die Diversität der Szenen, es gibt nicht die eindeutigen Trends, deshalb spricht Peter Schulze lieber von Beobachtungen, die sich im Programm niederschlagen: Beispielsweise eine zunehmende Präsenz von Streichern: Die Berliner Pianistin Julia Hülsmann tritt zusammen mit einem Streichquartett auf, und zur Besetzung der Band des jungen dänischen Pianisten Simon Toldam gehören drei Streicher und zwei Sängerinnen.

Schulze: "So tut sich, glaube ich, in Europa eine ganze Menge an Entwicklungen, die man auch nicht so in den Jazzkanon bringen kann, die aber einfach sehr persönlichkeitsgeprägt sind, und das ist das, was natürlich für die ganze Jazzgeschichte gilt. Jazzgeschichte wurde immer von einzelnen Persönlichkeiten gemacht und vielen Leuten, die denen nachgefolgt sind. Heutzutage gibt es viele Musiker die wirklich auch ihre eigene Persönlichkeit (…) äußern musikalisch und wenn da eine prägende Persönlichkeit ist, ist es nicht mehr so, dass sie weltweit stilprägend sein wird, das ist bei der Unüberschaubarkeit gar nicht denkbar, sondern sie wird in bestimmten Bereichen stilprägend sein und diese Personen auf so ein Festival zu bringen, das finde ich eigentlich das Spannende."

Aus dem Mutterland des Jazz den USA kommen vor allem bekannte Acts, wie der Posaunist Ray Anderson mit seinem Trio "BassDrumBone", in dem er strukturelle Strenge mit Entertainment verbindet, oder der Pianist und Keyboarder Wayne Horwitz mit seinem, von einer schönen alten Welt träumenden "Gravitas Quartett". Auch der europäische Jazz wartet mit großartigen Melodikern auf, wie dem Bassisten Henri Texier oder dem Klarinette-Piano-Akkordeon Trio Rießler – Levy – Matinier. Fast könnte man meinen, die wilden Seiten des Jazz werden dieses Jahr dem parallel stattfindenden Total Music Meeting der freiimprovisierten Musik überlassen. Peter Schulze sieht das in seinem letzten Jahr als künstlerischer Leiter des JazzFest Berlin eher positiv:

"Es ist sehr viel Melodiöses dabei, das stimmt, das ist aber auch eine heimliche Liebe von mir, denn ich finde, dass sehr häufig melodische Konzeptionen im Jazz zu kurz kommen - das ist in diesem Jahr nicht der Fall."
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