Sorgerechts-Debatte

"Kein Fortschritt für die Kinder"

Ein Zusatzschild eines Verkehrsschildes zeigt in Berlin eine Familie mit Kinderwagen.
Die klassische Familie ist immer noch der Normalfall - für die anderen hat das novellierte Sorgerecht neue Konflikte gebracht © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Familienrechtsanwältin Jutta Wagner im Gespräch mit Nana Brink |
Die seit 2013 geltende Sorgerechtsregelung, die ein Sorgerecht für unverheiratete Väter gegen den Willen der Mütter ermöglicht, ist eine "Fehlkonstruktion", findet die Juristin Jutta Wagner. Menschen, die zutiefst zerstritten sind, seien wenig geeignet für ein verantwortungsvolles Projekt wie ein gemeinsames Kind.
Seit 2013 können unverheiratete Väter auch gegen den Willen der Mutter das Sorgerecht für ein gemeinsames Kind bekommen. Die frühere Präsidentin des Juristinnenbundes, Jutta Wagner, hält das für eine "Fehlkonstruktion", die allerdings nur in Einzelfällen dramatische Folgen hat.
Menschen, die zutiefst zerstritten seien oder die nie eine Beziehung zueinander hatten, seien wenig geeignet, ein so verantwortungsvolles Projekt wie ein gemeinsames Kind über einen Zeitraum von 18 Jahren zu betreuen, sagt Wagner.
"Aus meiner Sicht war das kein guter Schritt und kein Fortschritt, vor allem für die Kinder."
Ein starkes Anliegen der früheren Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger
Die Gesetzesnovelle habe sich nicht zwingend aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ergeben, sondern sei vor allem "ein starkes Anliegen" des damaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gewesen, kritisiert Wagner, die von 2005 bis 2011 Präsidentin des Juristinnenbundes war.
"Der Europäische Gerichtshof hat nur gesagt: Es muss einen Rechtsweg für die Väter geben."
Er habe nicht gesagt, dass Väter das Sorgerecht nahezu automatisch bekommen sollten.
8000 "hochstreitige" Sorgerechtsverfahren
In der Praxis führe die Neuregelung allerdings nur in Einzelfällen zu dramatischen Konflikten, sagt die Anwältin. So seien beispielsweise 2013 lediglich 8000 "hochstreitige" Sorgerechtsverfahren anhängig gewesen. Diese Problemfälle könne man am besten lösen, wenn man frühzeitig die beteiligten Eltern berate.
"Insofern hat sich bei uns auch eigentlich eine ganz gute Praxis bei den Familiengerichten entwickelt, dass man zunächst mal die streitigen Fälle immer versucht, in die Beratung oder in eine sogenannte Mediation zu bringen", so Wagner. "In vielen Fällen hilft das tatsächlich."


Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Das Sorgerecht, wie es geregelt ist im Bürgerlichen Gesetzbuch, 2013 reformiert, hat also die Wellen hoch schlagen lassen, sehr viel emotionale Reaktion, wie man ja verstehen kann. Die Anwältin Jutta Wagner, von 2005 bis 2011 Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, hat schon in den 80er-Jahren für das gemeinsame Sorgerecht auch unverheirateter Paare gestritten. Guten Morgen, Frau Wagner!
Jutta Wagner: Guten Morgen!
Brink: Ist denn die Situation Ihrer Erfahrung nach wirklich so dramatisch, wie sie beschrieben worden ist?
Wagner: Die Situation ist in Einzelfällen so dramatisch. Man muss das Ganze wirklich einmal in der Relation sehen, und dann nimmt es eine etwas andere Bedeutung ein, als sich das so vermuten lässt. Wir haben zum Glück wirklich keine Massen entrechteter Väter und keine Massen gequälter Mütter und die damit verbundenen auch Unmassen leidender Kinder.
Also wenn man mal genau hinguckt, dann ist die Zahlenrelation doch etwa so, dass immer noch der Großteil von ungefähr zwölf Millionen Kindern, das sind jetzt Zahlen von 2013, mit beiden Elternteilen zusammenlebt. Die Zahl der Kinder, die unverheiratet bei einem Elternteil leben, sind etwas über zwei Millionen, und auch das sind glücklicherweise nicht alles von furchtbarem Streit betroffene Fälle.
Nur relativ wenige dramatische Fälle
Man kann es so ein bisschen ablesen an der Zahl der Gerichtsverfahren, die um Sorgerecht und um Umgangsregelungen geführt werden: Die hochstreitigen Fälle, die von der ersten in die zweite Instanz gehen, das waren zum Beispiel im Jahr 2013 etwa 8.000 Fälle in ganz Deutschland. Das ist verglichen damit, dass bei den Familiengerichten in dem Jahr in der ersten Instanz ungefähr insgesamt 650.000 Fälle, also alles in allem, angefangen haben, doch im Grunde eine relativ kleine Zahl. Also 8.000 Kinder von etwas über einer Million, die bei einem Elternteil leben – das hört sich dann doch schon ein bisschen anders an.
Brink: Auch das ist aber schlimm. Kann man diese Problemfälle lösen? Sie sagen ja, es sind Einzelfälle.
Wagner: Also ich habe in meiner Praxis die Erfahrung gemacht, dass man diese Problemfälle am besten lösen kann, wenn man relativ frühzeitig Gelegenheit hat, die beteiligten Eltern zu beraten. Insofern hat sich bei uns auch eigentlich eine ganz gute Praxis bei den Familiengerichten entwickelt, dass man zunächst mal die streitigen Fälle immer versucht, in die Beratung oder in eine sogenannte Mediation zu bringen, also zu einer außergerichtlichen Konfliktlösung, und in vielen Fällen hilft das tatsächlich.
Zerstrittene Paare "wenig geeignet" für ein gemeinsames Projekt
Brink: Ich möchte trotzdem noch mal auf das gemeinsame Sorgerecht, also auf die Regelung, die wir ja seit 2013 haben, abheben.
Wagner: Ja.
Brink: Löst die nicht auch dauernden Streit aus, also wenn man das gemeinsame Sorgerecht gegen den Willen der Mutter durchsetzt?
Wagner: Also aus meiner Sicht ist das tatsächlich eine Fehlkonstruktion. Das leuchtet doch eigentlich jedem ein, dass Menschen, die zutiefst zerstritten sind oder überhaupt nie irgendeine Beziehung zueinander hatten und auch keine haben wollten, wenig geeignet sind, irgendein gemeinsames Projekt, geschweige denn so ein diffiziles und verantwortungsvolles Projekt wie ein gemeinsames Kind über einen Zeitraum von 18 Jahren immerhin, bis zur Volljährigkeit, zu betreuen, zu entwickeln, erfolgreich zu fördern. Das kann man sich doch eigentlich überhaupt nicht vorstellen. Aus meiner Sicht war das kein guter Schritt und kein Fortschritt, vor allem für die Kinder.
Brink: Aber war das nicht ein Fortschritt für die Väter, also gerade die nicht-ehelichen Väter, die ja wenig Rechte hatten vorher?
Wagner: Die nicht-ehelichen Väter konnten ja schon seit einiger Zeit in Deutschland mit Zustimmung der Mutter das Sorgerecht gemeinsam mit der Mutter ausüben.
Der Europäische Gerichtshof hat lediglich Option eines Rechtswegs für Väter verlangt
Brink: Aber wenn sie es verweigert hat?
Wagner: Wenn sie es verweigert hat, dann ging das in der Tat nicht, und das war dann vielleicht auch für alle Beteiligten besser so. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nicht zwingend die Lösung gefordert, die wir dann bekommen haben. Der Europäische Gerichtshof hat nur gesagt: Es muss einen Rechtsweg für die Väter geben, prüfen zu lassen, ob es vielleicht doch in ihrem Fall gut sein könnte, wenn sie auch gegen den Willen der Mutter das Sorgerecht haben können – was ja im Einzelfall, wenn man das genau prüft, vielleicht auch mal so sein könnte. Aber der Europäische Gerichtshof hat nicht gesagt, dass die Väter auf einem sehr verkürzten und, ja, schwierig abzuwendenden Weg das Sorgerecht nahezu automatisch bekommen sollen. Das war schon damals ein starkes Anliegen unserer FDP-Justizministerin.
Brink: Das zu lösen, trotzdem hat man sich anders entschieden. Herzlichen Dank, die Anwältin Jutta Wagner, vielen Dank!
Wagner: Gerne!
Brink: Und wir sprechen über das Thema Sorgerecht, das ist geändert worden 2013, dazu gab es viele Reaktionen, auch bei uns hier im Programm, und bitte beteiligen Sie sich doch: Was sagen Sie zu diesem Thema? Diskutieren Sie doch mit bei uns auf Facebook oder Twitter.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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