Sophie Hunger: Walzer für Niemand
© KiWi-Verlag Walzer für NiemandKiepenheuer & Witsch, Köln 2025
So erlösend die Nadel auf dem Plattenspieler

192 Seiten
22,00 Euro
Sophie Hunger hat mit „Walzer für Niemand“ einen Künstlerinnen- und Coming-of-Age-Roman geschrieben. Hochpoetisch und assoziativ denkt die Sängerin und Songwriterin darin auch über die Frage nach, wie man die Welt überhaupt erzählen kann.
„Walzer für Niemand“ – so heißt ein Song auf Sophie Hungers erstem Album aus dem Jahr 2008, ebenso wie nun das literarische Debüt der 1983 geborenen Schweizer Sängerin, Musikerin und Songwriterin: Künstlerinnen- und Coming-of-Age-Roman, Geschichte weiblicher Selbstfindung und -behauptung, und zugleich ist „Walzer für Niemand“ der geheimnisvolle Roman einer Freundschaft. Oder doch eher: der Erfahrung einer existentiellen Einsamkeit?
Die Erzählerin ist, wie Sophie Hunger, Tochter von Militärattachés, beständige Ortswechsel bestimmen ihr Aufwachsen. Die Konstanten in diesem Dasein bilden ihr Kindheitsfreund mit dem sprechenden Namen „Niemand“ und die Musik, die die beiden symbiotisch Verbundenen, von denen lange immerzu als „wir“ gesprochen wird, früh für sich entdecken.
Erzählprinzip verwoben mit der Musik
Sophie Hunger erzählt diese Initiation nicht aus einer vermeintlich realistischen Kinderperspektive, sondern als verdichtete und zugleich anmutige Reflexion über das Wahrnehmen und das Erzählen der Welt: Geschichten, heißt es gleich zu Anfang des Romans: „was für eine ekelerregende und erstickende Erfahrung.“
Dem Linearen steht das Zyklische gegenüber: „Erlösend und erhaben hingegen das Spiel der Nadel auf dem Plattenspieler, wenn sie absetzte oder sich federleicht verschieben ließ. Entweder nach innen oder nach außen. Nicht zurück oder vor. Der Nadelstift gleicht einem kleinen Mund, nein, einer Ohrmuschel, nein, einer Pupille, unter allen Umständen aber einer sacht geöffneten Körperstelle, empfindlich wie eine frische Wunde.“
Konsequenterweise machen an Musik angelehnte Kreis- und Klangbewegungen das Erzählprinzip von Hungers Roman aus, der äußerlich den Weg der Erzählerin zur Musikerin erzählt – ein Auftritt im Pariser Bataclan auf einem europäischen Newcomer-Wettbewerb steht am Anfang ebenso wie am Ende von „Walzer für Niemand“.
Niemand verschwindet
Auf diesem in einzelnen Szenen ins Bild gesetzten Weg zur Künstlerin verliert die Erzählerin ihren Freund Niemand sukzessive, während er im Gegensatz dazu in Hungers Beschreibungen zugleich mehr und mehr Gestalt annimmt. In dem Maße, in dem Niemand sich verflüchtigt und verstummt, wird er sinnlich – eine grundpoetische Bewegung. Es ließen sich zahlreiche Verweise dafür anführen, dass Niemand kein realer, sondern ein imaginierter Freund ist, etwa diese:
„Als Reaktion auf eine direkt an Dich gerichtete Frage hast Du hauptsächlich zu Boden geblickt und melancholisch gelächelt. Nur mir schien es gegeben, dieses Lächeln zu deuten. Was im Lauf der Zeit dazu führte, dass die Leute mich ansprachen, wenn sie doch eigentlich Dich ansprechen wollten. Gerade so, als wärst Du gar nicht da.“
Allein schon die lebensweltliche Logik würde verbürgen, dass es sich bei Niemand um eine Externalisierung und einen Umgang mit der kindlichen Einsamkeit handelt, an deren Stelle für die Erzählerin nach und nach das Dasein als Künstlerin tritt: Schließlich ist mehr als unwahrscheinlich, dass die dem Militärattachés-Alltag geschuldeten Umzüge von zwei Familien gemeinsam unternommen werden, wie es das permanente Miteinander von Niemand und Erzählerin, die explizit keine Geschwister sein sollen, voraussetzen würde.
Walser und Walserinnen
Vom Walzer ist es nur eine kleine Verschiebung hin zu Walser – der Schweizer Schriftsteller Robert Walser war ein Virtuose des assoziativen Spiels mit dem Sprachmaterial. Ein Verfechter eines Denkens, das dem grammatischen Sprung folgt.
Und von Walzer und Walser wiederum nur ein Sprung zur Walserin. Notizen über die weiblichen Vertreterinnen des alpinen Urvolks hat Sophie Hunger ihrem Roman eingefügt, typographisch abgesetzt in Schreibmaschinenanmutung, ebenso wie minimalistische Zeichnungen weiblicher Körper, die den Anschein machen sollen, aus einem Skizzenblock hinausgetrennt worden zu sein.
Die wohl ins Fantastische fortgeschriebenen Notizen zu den Walserinnen sollen, so erzählt Sophie Hunger es, Aufzeichnungen von Niemand sein, der sich mehr und mehr in die Geschichte dieses Bergvolks vertiefte. Dass die als beindruckend robust geschilderten Walserinnen zu den Vorfahrinnen von Sophie Hunger, ebenso wie ihrer Erzählerin, zählten, ist dabei natürlich kein Zufall:
„Walzer für Niemand“ erkundet hochpoetisch und auf unterschiedlichen Bild- und Tonspuren Fragen der Herkunft, der Voraussetzungen und des Wegs einer Künstlerin.