Sonne, Mond und Werte

Von Adolf Stock · 18.05.2013
Wenn man Alain de Bottons neues Buch liest, bekommt man den Eindruck, die katholische Kirche höchstpersönlich habe die DIN-Norm erfunden - so begeistert schaut er auf ihre Institutionen, die die Welt sortieren und einordnen. Leben möchte man in seiner Welt aber trotzdem nicht.
Was verbindet McDonald‘s mit der katholischen Kirche? Beide sagen wo’s langgehen soll: McDonald‘s dem Personal in der Frittenbude und die katholische Kirche den Priestern und Katholiken.

"Dem Angestellten wird genauestens vorgeschrieben, wo er sein Namensschildchen tragen muss, mit welchem Lächeln er jeden Kunden beglücken soll und wie viel Gramm Mayonnaise auf jedes Brötchen-Oberteil zu schmieren ist. (…) Ihre Edikte, die im Detail festlegen, welche Weinsorten bei der Heiligen Kommunion verwendet werden sollen und welche Farbe die Schuhe der Priester haben sollen, beweisen, wie penibel die Kirche darüber wachte, dass sich jeder Priester an die vorgegebenen Standards hielt."

Beim Lesen von Alain de Bottons neuestem Buch könnte man meinen, die katholische Kirche habe die DIN-Norm persönlich erfunden.

Alain de Botton ist in einem atheistischen Umfeld großgeworden. Seine Eltern waren säkularisierte Juden, sein Vater war Banker in der Schweiz. Der professionelle Geldverwalter hielt den Glauben an Gott für eine bemitleidenswerte Behinderung. Dagegen hat der Sohn rebelliert. "Wir haben schlecht säkularisiert", lautet de Bottons Credo. Lasst uns mal schauen, was die Religionen den Atheisten zu bieten haben!

Neidvoll schaut Alain de Botton auf ihre Institutionen, die es so gut verstehen, "den Gemeinschaftsgeist zu wecken, moralische Grundsätze aufzustellen, Kunst und Architektur für ihre Zwecke zu nutzen, den Geist zu schulen, Reisen anzuregen und dankbar zu sein".

"Es ist an der Zeit, unsere seelischen Bedürfnisse von der speziellen Färbung zu befreien, in die sie von den Religionen getaucht wurden – auch wenn paradoxerweise genau das Studium der Religionen der Schlüssel zu ihrer Wiederentdeckung und zu einer neuen Beziehung ist."

Alain de Botton glaubt, der doktrinäre Atheismus habe die säkulare Gesellschaft verarmen lassen. Das will er ändern, mit einem gut gemeinten Text, der die gängige Ratgeber-Literatur souverän in den Schatten stellt. Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffen Welten. Das Kapitel über Architektur ist so einfallslos und unbedarft, dass man es kaum glauben mag: Der Protestantismus sei schuld, dass unsere Welt zu einem architektonischen Sündenfall wurde, zu einem tristen Häusermeer, das keine Schönheit mehr kennt.

Alain de Botton schwärmt für den katholischen Barock. Die Faszination für den institutionellen Protz und Prunk ist ein heimliches Epizentrum in seiner Argumentation: Die drögen Protestanten, die nur das Wort und keine Schönheit kennen, die selbstversunkenen Romantiker, die nur einen kleinen, letztlich belanglosen Kosmos bewohnen, die ziellosen Künstler ohne inneren Halt, die Reisenden ohne Ziel und all die seelisch Unbehausten, denen es an atheistischen Tempeln fehlt.

Im Kapitel "Die richtige Perspektive" empfiehlt Alain de Botton uns allen mehr Bescheidenheit. Hiob und Spinoza werden zitiert. Aber etwa Immanuel Kant – der alles schon längst und viel besser gesagt hat – ist im Buch weit und breit nicht zu entdecken. Ein bewusster Blick in den nächtlichen Sternenhimmel soll den Atheisten helfen, sich nicht zu überschätzen und ihre "grundlegende Nichtigkeit einzusehen und anzuerkennen".

"Wir sollten einen Feiertag zu Ehren von VY Canis Majoris in unseren Kalender aufnehmen, einem roten Überriesen, fünftausend Lichtjahre von der Erde entfernt und 2100-mal größer als unsere Sonne. Abends – vielleicht nach der Tagesschau und vor der Promi-Show – könnten wir eine Schweigeminute einlegen und an den Himmel blicken."

So geht es mit unzähligen Vorschlägen weiter, ohne dass klar wird, wohin der Autor letztendlich will. Ganz zum Schluss spricht Alain de Botton von seinem großen Vorbild, dem französischen Religionskritiker Auguste Comté. Der Fehler sei nur gewesen, dass sein diesseitiges Weltkonzept selbst eine Religion sein wollte.

"Ihr Urheber wurde sowohl von Atheisten als auch von Gläubigen angegriffen, von der großen Masse ignoriert und von der Presse verspottet."

Das könnte Alain de Botton auch passieren, zumal er Comté auch darin zustimmt, dass es auf keinen Fall reicht, nur Bücher zu schreiben. Die Gedanken sollen Wirklichkeit werden. Auch deshalb hat er seinem Buch ein Manifest für Atheisten mit "10 Tugenden für das moderne Zeitalter" beigefügt.

Comté hatte ein trauriges Schicksal, erst landete er in der Psychiatrie, später schrieb er unzählige Bettelbriefe an Politiker und an Leute mit Geld, die sein religiöses Anliegen befördern sollten. Comté ist weitgehend gescheitert, auch aufgrund seiner eigenen Hybris. Ich jedenfalls möchte auf gar keinen Fall in Alain de Bottons schöner neuen Welt leben müssen, in einer Welt mit genormten Psychotherapeuten, besserwisserischen Museen und Tempeln für den Frühling und das Weltall.

Alain de Botton:
Religion für Atheisten. Vom Nutzen der Religion für das Leben

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
320 Seiten, 21,99 Euro
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