"Sonderbewusstsein eines katholischen Bischofs"

23.04.2010
Wolfgang Thierse, Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, sieht das Ansehen der Kirche durch das Verhalten des Bischofs Mixa beschädigt. Er hätte sich ein ehrlicheres Verhalten gewünscht, sagte der Bundestagsvizepräsident.
Hanns Ostermann: "Es reicht!" Nicht wenige ziehen in diesen Tagen enttäuschte Konsequenzen und treten aus der katholischen Kirche aus. Das Fass zum Überlaufen gebracht haben dürfte der Augsburger Bischof Walter Mixa. Erst leugnete er, Kinder geschlagen zu haben. "Ich habe ein reines Herz", meinte er wörtlich. Später gab er dann die eine oder andere Watschen zu.

Als der Druck zu groß wurde, als ihm auch die Bischofskonferenz eine Auszeit empfahl, erst dann reichte er sein Rücktrittsgesuch ein. Warum so spät? Und welche Probleme bleiben der katholischen Kirche? Darüber möchte ich mit Wolfgang Thierse sprechen. Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages ist auch Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Guten Morgen, Herr Thierse.

Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Ostermann.

Ostermann: Die Wahrheit nur scheibchenweise zuzugeben, das kennen wir bislang aus der Politik. Hätten Sie von der Kirche, zumal einem Bischof ein ehrlicheres Verhalten gewünscht?

Thierse: Ja!

Ostermann: Und erwartet? Warum hat er es nicht geschafft?

Thierse: Ich kann das nicht recht beurteilen. Ich kenne Bischof Mixa nicht persönlich. Aber es ist offensichtlich eine Art Sonderbewusstsein eines katholischen Bischofs gewesen, der meinte, durch Amt, durch Weihe sei er etwas anderes als andere Menschen.

Im Übrigen: Ein Verhalten wie das von Bischof Mixa gibt es ja nun wahrlich auch in Politik, in vielen Bereichen des öffentlichen oder privaten Lebens, so spät wie möglich nur etwas zugeben, erst unter Druck etwas zugeben und Konsequenzen ziehen. Das ist uns doch vertraut aus vielen Bereichen.

Ostermann: Einverstanden. Aber von einem Bischof, von einem Würdenträger einer großen Kirche erwarte ich eine andere Haltung.

Thierse: Das habe ich ja gerade gesagt.

Ostermann: Wie groß ist der Vertrauensverlust für die Amtskirche, Herr Thierse? Wie groß ist der Schaden?

Thierse: Der Schaden ist erheblich, denn das eine sind die Taten, die begangen worden sind, zum größten Teil Jahrzehnte zurück, und das andere, was für die Institution genauso schlimm, wenn nicht noch schlimmer ist, ist das jahrzehntelange Vertuschen und Verschweigen und Zudecken, und das ist das Unerträgliche.

Ostermann: Also darf man davon ausgehen, dass es weitere Kirchenaustritte geben wird? Rechnen Sie damit?

Thierse: Wir erleben ja gerade, dass es viele Kirchenaustritte gibt. Es mag sein, dass das für nicht wenige nur ein Anlass war, ihr distanziertes Verhältnis zur Kirche nun auch öffentlich zu dokumentieren, aber eine Kirche, die einen solchen moralischen Anspruch hat, die ist dadurch tief, tief betroffen. Die Gläubigen, die Mitglieder der Kirche sind tief betroffen über das, was sie jetzt erfahren, und ich wünsche mir, dass meine Kirche die Erschütterung, in der sie sich jetzt befindet, nicht zu schnell zudeckt.

Wir brauchen eine Phase der Selbsterforschung, der Selbstkritik, des Fragens danach, was liegt an der Institution selber, was liegt an der Theologie, was liegt am Selbstverständnis der Priester. Ich glaube, dass die Amtskirche, die Klerikerkirche so nicht weitermachen kann wie bisher, denn man muss ja wissen: Es waren Geweihte, die sich an dem kostbarsten vergangen haben, was wir haben, nämlich an Kindern. Es waren Geweihte, die gewissermaßen in den Opfern sexueller Gewalt Jesus Christus noch einmal ans Kreuz geschlagen haben.

Ostermann: Die Frage ist ja nur, wie lernfähig sind die Bischöfe? Wenn jetzt Erzbischof Zollitsch beispielsweise zwei, drei Wochen nach den Ereignissen, nach den Vorwürfen zu dem Ergebnis kommt, dass sich Walter Mixa eine Auszeit nehmen sollte, dann dauerte dieser Prozess zwei bis drei Wochen. Ist das ein Zeichen von Lernfähigkeit, oder nicht doch Ausdruck einer gewissen Schwerfälligkeit an der Spitze?

Thierse: Wissen Sie, solche Ereignisse, wenn die nicht zur Erschütterung führen, wenn man darauf nicht erst mal betroffen reagiert und nicht schlaumeierisch gewissermaßen einen Tag später schon genau weiß, woran es liegt, was man zu tun hat, das ist mir eher sympathisch als diejenigen, die immer sofort alles ganz schnell wissen. Bei denen geht die Erschütterung dann nicht wirklich tief.

Dass die Kirche, eine 2000 Jahre alte Institution, Zeit braucht, um die richtigen Konsequenzen zu ziehen, das macht sie mir nicht unsympathisch, und dass die katholische Kirche dabei ist, die Konsequenzen zu ziehen, das ist sichtbar. Ich glaube, die Regeln, wie wir damit umzugehen haben, werden verschärft.

Wir haben eine Hotline in der katholischen Kirche eingerichtet, Beauftragte, die Ansprechpartner sind. All das ist notwendig. Die Kirchen beteiligen sich richtigerweise am großen Runden Tisch. Also da ist viel im Gange. Ich wünsche mir, dass meine Kirche der Gesellschaft ein Beispiel gibt, wie man mit einem so furchtbaren Ereignis, einer solchen Ereigniskette aufklärerisch, konsequenzenreich, ehrlich umgeht.

Ostermann: Was lässt Sie persönlich, Herr Thierse, eigentlich nicht resignieren, denn immer wieder steckte einmal die Katholische Kirche, die Kirche generell in einer tiefen Krise, immer wieder äußerten sich engagierte Laien, und trotzdem reagierte die Amtskirche sehr behäbig? Also: Warum resignieren Sie selbst eigentlich nicht?

Thierse: Erstens, weil ich weiß, dass diese katholische Kirche überhaupt nur noch nach 2000 Jahren existiert, weil sie sich immer als reformfähig erwiesen hat. Aber zugleich ist klar, dass eine solche Kirche nie ganz schnell reagiert, sondern immer auch Zeit braucht, darauf zu antworten.

Und zweitens eine allgemeine Weisheit: Nur weil es, wie wir wissen, Kindesmissbrauch massenhaft in Familien gibt, ist das kein Argument gegen Familien. Es gibt das in Schulen; das ist kein Argument gegen Schulen. Man muss Regeln ändern, man muss Transparenz schaffen, man muss aufklären, das gesellschaftliche Bewusstsein für die Gefährdung von Kindern muss sich verändern, wir brauchen eine neue Diskussion, was das wirklich ist, selbstbestimmte, selbstverantwortete Sexualität, wir müssen auch über die gesellschaftlichen Verhältnisse, über die gesellschaftliche Atmosphäre reden, in denen das passiert, wir müssen neu reden über die Geschichte der Pädagogik, denn was da in der Kirche passiert ist, ist ja Teil einer allgemeinen Geschichte, einer autoritären, einer schwarzen Pädagogik.

Ostermann: Wolfgang Thierse war das, Vizepräsident des Deutschen Bundestages und Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Herr Thierse, danke für das Gespräch heute früh.

Thierse: Auf Wiederhören!

Ostermann: Auf Wiederhören.