Sonaten im Strahlengebiet

Matthias Moosdorf im Gespräch mit Ulrike Timm · 30.06.2011
Während andere Orchester aus Angst vor Strahlung ihre Japan-Tourneen absagten, hat sich das Leipziger Streichorchester bewusst die japanischen Katastrophengebiete für seine jüngste Konzertreise ausgesucht. "Man hat wirklich gemerkt, dass wie ein Ventil gelöst war", sagt Ensemblemitglied Matthias Moosdorf über die Reaktionen vor Ort.
Ulrike Timm: Viele Benefizkonzerte für Japan hat es gegeben, überall auf der Welt, bloß nicht in Japan. Rund 70 Prozent aller Konzerte sind dort seit der Dreifachkatastrophe von Erdbeben, Tsunami und atomarem Unfall abgesagt worden, anfangs klar, weil man das bisschen Infrastruktur, was man wieder schaffen konnte, natürlich zur Versorgung der Menschen brauchte.

Aber inzwischen kann man in Japan wieder so einigermaßen reisen, und die jüngste Gastspielreise der New Yorker Met im sicheren Tokio geriet auch deshalb zum Politikum, weil die Musiker der Dresdner Philharmonie eben nicht kamen, und auch zahlreiche Mitglieder der bayrischen Staatsoper jetzt bei einem geplanten Gastspiel nicht dabei sein wollen, aus Angst vor Strahlen.

Die vier Herren des weltbekannten Leipziger Streichquartetts ließen sich nicht abhalten. Sie spielten nicht in Tokyo, sie spielten im Erdbebengebiet, sie spielten auch in Fukushima. Gerade sind sie zurück von einer Konzertreise in Japan, bei der fast alles anders war als üblich. Und ich begrüße sehr herzlich Matthias Moosdorf, den Cellisten des Leipziger Streichquartetts, schönen guten Morgen!

Matthias Moosdorf: Guten Morgen nach Berlin!

Timm: Wie gibt man denn, und wo gibt man an Orten, wo kein Stein mehr auf dem anderen steht, Konzerte?

Moosdorf: Ja, das war für uns auch am Anfang eine berechtigte Frage, und mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes und natürlich unserer japanischen Partner haben wir dann in den Präfekturen – so heißt das dort, diese Regierungsbezirke – nachgefragt, wo die Konzerte denn stattfinden könnten. Und am Ende waren das meistens Turnhallen, es waren Säle von Hotels, die stehen geblieben waren, und sogar auch buddhistische Tempel.

Timm: Und auch in solchen Auffanglagern haben Sie gespielt, wo die Leute ja immer noch kampieren, oder?

Moosdorf: Na, die Auffanglager selbst geben natürlich keine Räumlichkeiten her für Konzerte. Aber diese Auffanglager sind meist auf etwas erhöhten geografischen Punkten gebaut, und dort in diesen erhöhten Punkten sind natürlich auch einige andere Gebäude stehen geblieben wie zum Beispiel Sporteinrichtungen, und die lassen sich dann natürlich auch nutzen und schnell zu so einer Art Konzertsaal umbauen, wenngleich auch die Bedingungen natürlich sehr kompliziert sind, weil zurzeit ist halt Regenzeit in Japan, und es sind dann mit tausend Leuten in diesen Turnhallen ungefähr fast 40 Grad bei 98 Prozent Luftfeuchtigkeit.

Timm: Und es sind Menschen, die jeden Abend noch zu vielen Hundert in Sälen, glaube ich, schlafen müssen, zum Teil, und die eine Infrastruktur nach wie vor nicht haben und jeden Tag die Erdbebentrümmer vor Augen. Was ist das für eine Atmosphäre, wenn man dort ein Konzert spielt?

Moosdorf: Also, zunächst mal geschieht ja dieser Eintritt in dieses Gebiet völlig übergangslos, also man biegt von noch intakten Straßen ab, und dann geht es um die nächste Ecke, und was dann dort einen erwartet, das kann man nicht wirklich vorbereiten, auch nicht, indem man sich im Internet oder in Zeitungen darüber vorher informiert.

Wenn ich es jetzt beschreiben müsste, würde mich das am Ehesten an Bilder erinnern, die man so aus Hiroshima kennt, nach dem Zweiten Weltkrieg – also über weite Strecken entweder völlig flaches Land, was teilweise sogar einen Meter mit Sand bespült wurde, wo also gar nichts mehr steht, außer vielleicht noch ein paar Betontrümmer, aber dann auch in Ecken, die sich ergeben, tausende von Autos, teilweise so groß wie ein Traktorreifen, alle übereinander gestapelt, Stahlträger, die so dick sind wie zwei Eisenbahnschienen und trotzdem verdreht wie Büroklammern, unglaublich viel Unrat, aufgetürmt zu fast zehn, fünfzehn, 20 Meter hohen Bergen.

Und dazwischen sind immer wieder auch Leute unterwegs, die versuchen, wahrscheinlich auf den Rudimenten ihrer ehemaligen Straßen, wo sie gewohnt haben, Dinge zu entdecken, die vielleicht noch mit ihrer Herkunft zu tun haben könnten, dazwischen Bagger, schweres Gerät, was immer noch am Aufräumen ist. Und das alles wie gesagt auf einer Entfernung, nicht etwa zwei, drei Kilometer, sondern, wie man uns gesagt hat, auf einer Entfernung von ungefähr 380 bis 450 Kilometer Küstenstreifen, unterschiedlich tief ins Landesinnere. Meistens hat erst die Schwelle der Mittelgebirge dort dann die Welle wirklich gestoppt.

Das, was hier kaum bekannt ist, ist die Tatsache, dass die Welle in einigen Orten die Höhe von über 40 Metern erreicht hat. Es gibt Eisenbahnbrücken, da steht auf über 35 Metern mitten auf dieser Brücke ein Haus, was dort nicht hingehört, oder sind Neubauten, wo die unteren vier Stockwerke oder fünf Stockwerke völlig zerstört sind, und auf dem Dach befinden sich dann Autos, die auf dieses Gebäude gespült worden sind – also alles Dinge, die ähnlich der Apokalypse sind, aber ich habe so was noch nirgendwo gesehen!

Timm: Und Sie haben für die Menschen, die dort überlebt haben, Musik gemacht. Nun gilt das japanische Publikum generell als besonders klassische Musik wertschätzend, besonders stilles, besonders leises Publikum. Aber wie waren die Reaktionen bei diesen Konzerten? Hat die Stille unter diesen Umständen noch anders geklungen?

Moosdorf: Zunächst mal haben wir ja angefangen, für die Kleinsten zu spielen. Die ersten Konzerte waren für Kinder an Mittel-, Grundschulen und Gymnasien, und in den Turnhallen, was ich am Eingang schon gesagt hatte, befanden sich dann am Ende 1.000 Kinder – wir hatten das dann verteilt auf zwei Konzerte an einem Nachmittag, also wir haben dann 2.000 Kinder bei uns zu Gast gehabt – wenn man ungefähr den Geräuschpegel im Auge und Ohr hat, der in Deutschland in solchen Ansammlungen von Schülern vorhanden ist, dann hat uns das schon auch fast ängstlich gemacht, wie leise das war.

Und man kann an den Bildern, die wir gemacht haben, auch sehen, dass diese Kinder so viel gesehen haben, dass deren Ernsthaftigkeit – ich möchte jetzt nicht unbedingt von Traurigkeit sprechen – aber deren Ernsthaftigkeit war so vordergründig, dass wir sie eben auch nicht durch Überreichung von Geschenken oder von Zuspruch wirklich zum Lächeln bekommen haben.

Aber natürlich haben die diese Musik unglaublich genossen. Wir wurden dann überrascht mit Dingen, die dann schnell einstudiert waren von der anderen Seite, und die Atmosphäre war unglaublich herzlich, und man hat wirklich gemerkt, dass wie ein Ventil gelöst war, dass sich endlich jemand vom Ausland erbarmt, der dort hinkommt und nicht aus der sicheren Distanz sich der Sache annimmt, sondern eben wirklich mit eigenen Füßen, Augen und Sinnen, das eben erleben kann.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Wir sprechen mit dem Cellisten des Leipziger Streichquartetts, mit Matthias Moosdorf. Alle vier Musiker arbeiten als Gastprofessoren an japanischen Musikhochschulen, haben also persönliche Bindungen auch an die Katastrophenregionen, und sind gerade von einer Konzertreise in den Raum Fukushima zurück.

Herr Moosdorf, viele Konzerte nach Japan sind abgesagt worden, die bayerische Staatsoper steht gerade in den Schlagzeilen, weil doch eine ganze Reihe dort lieber unbezahlten Urlaub nehmen, statt nach Japan zu fahren, aus Angst vor Strahlung. Wie wirken denn solche Absagen auf Sie, wenn Musikerkollegen die Reise nach Japan verweigern?

Moosdorf: Ich will mich da in Diskussionen ja gar nicht so wahnsinnig einmischen. Es ist am Ende wie immer jedem seine eigene Gewissensendscheidung. Aber natürlich gibt es da auch noch eine andere Komponente: Wir alle stehen als Musiker und vielleicht als im Rampenlicht stehende Künstler in Verantwortung – auch in menschlicher Verantwortung –, und wir alle sollten uns genau überlegen, dass die Dinge, die wir tun – ob wir das aus egozentrischen Erwägungen tun, oder ob wir das aus begründbaren wissenschaftlichen Annahmen tun –, dass die natürlich in einem komplexen Zusammenhang stehen von Konsequenzen, auch von Wahrnehmungen von Außen.

Ehrlich gesagt ist mir eine Absage von Anna Netrebko lieber, die sagt, ja, das kann ja alles stimmen, aber mein persönliches Gefühl sagt mir, ich habe Angst, und ich möchte mit dieser Angst nicht umgehen, als wenn dann ganze Orchestervorstände unglaubliche Verrenkungen begehen, um am Ende irgendwas zu finden, was da nicht hingehört.

Wir haben auf eingangs veröffentlichte Printmedienberichte Zuschriften bekommen, und ich möchte Ihnen mal ein Zitat bringen von offensichtlich einem Orchestervorstand, was heißt: "Lassen wir doch diese Japaner erst wieder ihre atomaren Hausaufgaben erledigen, bevor sie sich mit deutschen Spitzenorchestern schmücken können!"

Timm: Ups!

Moosdorf: Also – ups! – da ist nicht nur Zynismus im Spiel, das ist menschenverachtend, und da muss man sagen: Stop! Da ist der Rahmen von Political Correctness weit, weit ausgedehnt und überschritten.

Timm: Herr Moosdorf, bei aller Solidarität, ein mulmiges Gefühl hatten Sie sicher auch, in einer Erdbebenregion zu spielen, wo gerade ein Atomkraftwerk hochgegangen ist. Gab es bei Ihnen eigentlich einen Plan B, irgendwelche Überlegungen: Was machen wir, wenn was passiert? Denn so ganz über Bord schmeißen kann man die Angst auch nicht, wenn einem das eine Herzensangelegenheit ist, dort zu spielen.

Moosdorf: Na, nun ist es mal so: Jeder, der oft in der Welt unterwegs ist, wird feststellen, dass es diese Sicherheit, die wir in Deutschland kennen und schätzen, dass es die überall so nicht gibt.

Timm: Logisch, aber Erdbeben haben wir ja nicht!

Moosdorf: Das ist richtig, aber man muss immer abwägen, was tue ich, was nehme ich dafür in Kauf. Das war vielleicht sogar das bestimmendste Elementarerlebnis, was wir in dieser Woche jetzt hatten. Wir sind in Ichinoseki früh aufgewacht – sechs Uhr 42 –, ich habe dann gleich auf meinen Rechner geguckt, weil ich mein Cello gerade noch am Fallen hindern konnte, und das war ein Erdbeben der Stärke 6,7, das ist schon relativ viel für europäische Bauarchitektur wäre das schon grenzwertig, ob die Häuser dann stehen bleiben oder nicht. In Japan ist das zwar nicht alltäglich, aber doch vollkommen im Rahmen des Normalen.

Also, das Einzige, was dann passierte: Es kam jemand hoch und sagte, wir mögen doch bitte eine Stunde lang den Fahrstuhl nicht benutzen, aber danach wäre alles wieder in Ordnung. Und das macht einem dann schon auch klar, dass da völlig unterschiedliche Denkansätze vorhanden sind, selbstverständlich gab es einen Plan B für den Fall, dass dort irgendwas passiert wäre.

Im Übrigen möchte ich Sie korrigieren: Das Atomkraftwerk ist ja, Gott sei Dank, nicht hochgegangen, denn der Unterschied zu Tschernobyl ist eben gewesen, dass in Tschernobyl eben ein Kraftwerk aus voller Leistung wirklich auch hochgegangen war, und hier war es eben eine Sache, die eigentlich ja schon in dem heruntergefahrenen, abgeschalteten Zustand passiert ist.

Timm: Na ja, aber trotzdem ist die Situation natürlich unglaublich gefährlich gewesen. Matthias Moosdorf, ich danke Ihnen sehr! Matthias Moosdorf, der Cellist des Leipziger Streichquartetts, vorgestern zurückgekommen von Konzerten im Erdbebengebiet bei Fukushima. Ich danke Ihnen!