Somnambule Zustände der Erinnerung

Arvid, ein Schriftsteller von dreiundvierzig Jahren, trudelt im Kielwasser einer Katastrophe. Bei einem Fährunglück, wie es von Zeit zu Zeit mit vielen Toten Schlagzeilen macht, hat er seine Eltern und zwei jüngere Brüder verloren. Er selbst hatte eine Ausrede vorgeschützt, um nicht teilzunehmen an der Überfahrt nach Dänemark.
Das ist sechs Jahre her; die Höllenbilder eines Videos haben sich seitdem in sein Hirn gebrannt: ein Gang im Inneren des Unglücksschiffs, mit aneinander gedrängten, erstickten und verbrannten Menschen.

Nicht leicht, mit jemandem über die Katastrophe zu sprechen: "Alle erinnern sich an den Brand, alle nicken und werden still ..." So spricht er eben nicht darüber. Aber ohne dass vom Schuldgefühl des Überlebenden, von Schmerz und Trauer viel die Rede wäre – in Arvids verstörtem, schroffem Verhalten ist das alles sehr gegenwärtig.

Als er mit seinem älteren Bruder, der die Katastrophe ebenfalls überlebt hat, vor dem in den nächsten Hafen geschleppten Schiff steht, einem Kadaver mit schwarzen Rauchflecken um die Bullaugen, und ein Polizist ihnen den Zugang dorthin versperrt, heißt es: "Da fing ich an zu weinen und wollte mich auf den Polizisten stürzen." In diesem kleinen Satz hat man Arvids Charakterprofil: sentimentalisch und impulsiv, zu körperlichen Attacken neigend. Und zu einer Selbstzerstörung, deren Mittel bis auf weiteres Alkohol und Tabak sind.

Solch ein Schmerzensmann ist für die Umgebung nicht leicht zu ertragen. Seine Frau hat ihn mit den Töchtern verlassen. Allein lebt er nun im Wohnblock einer unwirtlichen Stadtrandsiedlung, aus der schnellstens wieder wegzieht, wer es sich leisten kann. In seinem alten Mazda fährt er quer durch Norwegen, holt seine Tochter für eine Stunde einvernehmlichen "Kidnappings" von der Schule ab (das Besuchsrecht wurde ihm entzogen), besichtigt Schauplätze seiner Vergangenheit, gerät in somnambule Zustände der Erinnerung und schweift mit den Gedanken immer wieder zur Gestalt des Vaters.

Denn wie Pettersons jüngster Roman "Pferde stehlen", der im vergangenen Jahr internationale Preise erhielt und auch hierzulande begeisterte Leser fand, ist "Im Kielwasser" ein Vaterbuch. Durchaus nicht im Sinn kritischer Abrechnung, sondern in dem der Verehrung. Arvids Vater, wie er aus dem Gedächtnis überlebensgroß ersteht, ist ein Naturbursche und Alleskönner, in seiner Jugend olympiareifer Boxer und bis ins Alter ein Ausbund an Sportsgeist und Fitness.

Auch wenn er nie über den Status des Arbeiters in der Fabrik für rahmengenähte norwegische Qualitätsschuhe hinauskommt – dieser Vater ist ein Traum von Stärke, was die Erfahrung der Schwäche an ihm um so beklemmender macht: wenn er nach einem Skiunfall im Schnee liegt wie ein "verendetes Tier", wenn er sich, als betrunkener Alter auf einem Familienfest, blutende Wunden schlägt, wenn er schließlich an Krebs erkrankt. Nicht weniger irritierend, dass der Vater Seiten und Erlebnismöglichkeiten hatte, von denen der Sohn erst postum erfährt.

Pettersons Figuren sind verschwiegene, den Worten misstrauende Zeitgenossen. Die herzlichsten Szenen des Romans spielen sich nicht zufällig zwischen Arvid und seinem kurdischen Nachbarn Naim Hajo ab – einem Flüchtling, der gerade drei Worte Norwegisch versteht. Die Kommunikation der beiden nähert sich dem Slapstick an, aber worauf es ankommt, ist auch mit Händen und Füßen gesagt.

Pettersons Sprache ist unaufwendig, präzise und poetisch. Wenn Arvid über einen Schriftsteller sagt: "Ich mag seine Erzählungen, sie sind voller Landschaft und Luft und riechen schon von weitem nach Tannengrün und Heidekraut" – so gilt das auch für dieses Buch. Der Lyrismus ist wie bei Hamsun mit trockenem Humor gut vereinbar. Dank der Übersetzung von Ina Kronenberger hat man das Gefühl, ein Original zu lesen. Die existentielle Wucht des Buches erklärt sich wohl nicht zuletzt daraus, dass Per Petterson beim Brand der "Scandinavian Star" 1990 selbst Eltern und Bruder verlor.

Haarscharf schrammt Arvid schließlich selbst am Tod vorbei, als er einmal im Schnee einschläft. Gerade noch rechtzeitig wird er von einem tief fliegenden Hubschrauber geweckt. Und dann leuchtet ihm ein Licht in der Winternacht. Es kommt aus der Wohnung von Frau Grinde im Block gegenüber. Die Krankenschwester lässt den bis in die Seele verfrorenen Mann hinein, und er erzählt ihr vom krebskranken Vater, vom Moment, als er ihn in einer Haltung unverkennbaren Schmerzes erblickte, weinend. Damals konnte er keine Worte finden und verdrückte sich. Jetzt spricht er davon, und als er fertig ist, hat er für diese Nacht Frau Grinde und ein warmes Bett gewonnen: "Wieder einmal wird mir klar, was eine Geschichte auslösen kann."

So entwickeln sich Gegenkräfte zur Verzweiflung. Dazu gehören auch die großartigen Epiphanien der symbolisch aufgeladenen Natur: Pferde, die reglos im Regen stehen, ein für tot gehaltener Elch, der sich unter Schneegestöber mächtig wieder aufrichtet. Oder die Kohlmeisen: "Sie knallen gegen das Fenster. Manchmal fliegen sie nach dem Zusammenprall wie benommen davon, dann wieder fallen sie in den Neuschnee und mühen sich ab, bevor sie erneut auf die Flügel kommen."

Vier Jahre hat Per Petterson an den knapp zweihundert Seiten gearbeitet. Man merkt es ihnen an. "Im Kielwasser" ist rahmengenähte Qualitätsarbeit, Stich für Stich.

Rezensiert von Wolfgang Schneider


Per Petterson: Im Kielwasser
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Hanser Verlag, München 2007, 189 Seiten, 19,90 Euro