Sommerserie Stadt-Land-Karte

Wie Karten unsere Weltsicht verändern

Weltkarte, auf der Deutschland und China in ihren Landesfarben herausgehoben wurden
Wo ist hier die Mitte? So sah die Weltkarte auf der Buchmesse in Frankfurt aus, als China Gastland war © picture alliance / dpa / Boris Roessler
Sebastian Lentz im Gespräch mit Dieter Kassel · 22.08.2016
Auch heute sind Karten noch wichtig: Wir nutzen sie als Navigationssystem und bekommen von den Medien Ereignisse oft in Kartenform vermittelt. Der Geograf Sebastian Lentz rät aber dazu, Karten nicht als objektives Abbild der Wirklichkeit zu begreifen.
Wir nutzen sie täglich, in immer neuen Zusammenhängen, und glauben zu oft, dass sie objektiv die Realität zeigen: Karten. Oft stimmt das aber nicht: So verrieten Karten beispielsweise auch immer etwas über den eigenen "Standpunkt", sagte Sebastian Lentz, Professor für Regionale Geografie Europas an der Universität Leipzig, im Deutschlandradio Kultur.
So sind wir daran gewöhnt, dass Europa bei Weltkarten immer in der Mitte ist. Bei den Chinesen liegt China allerdings in der Mitte – und Peking sein dann die "Mitte der Mitte", so Lentz.
Dass Karten keineswegs objektiv sind, kann Lentz auch an anderen Beispielen zeigen. Schon das italienische Restaurant, das auf einer Karte im Internet besonders groß eingezeichnet ist, muss nicht besser sein als die Konkurrenz, sondern einfach nur mehr gezahlt haben.
"Damit machen Kartenmacher von heute ihr Geld – dass wir glauben, gewohnt sind, so sozialisiert sind, dass Karten wirklich ein objektives Abbild der Wirklichkeit sind", sagte Lentz. In der Zukunft müsse man Karten und Kartenmachern kritischer gegenübertreten, betonte der Geograf.

In unserer Sommerreihe "Stadt Land Karte" widmen wir uns der Bedeutung der Kartographie heutzutage.



Das Gespräch im Wortlaut:

Dieter Kassel: Vielleicht erstaunt Sie ja schon diese Grundannahme unserer neuen Serie "Stadt Land Karte" ein wenig, nämlich dass es einen Boom der Kartografie gebe in unserer modernen Welt. Das war deshalb auch Thema in einem Gespräch, das ich vor dieser Sendung mit Sebastian Lentz geführt habe. Er ist Professor für regionale Geografie Europas an der Universität Leipzig und Direktor des Leibniz-Instituts für Länderkunde. Und wie sich das für einen solchen Menschen gehört, ist er immer viel unterwegs. Er kam gerade aus Kirgisien zurück und fliegt heute nach Peking. Deshalb hab ich, wie gesagt, schon vor der Sendung mit ihm gesprochen und ihn als Erstes genau das gefragt: ob man tatsächlich behaupten kann, dass kartografische Darstellungen in unserem Alltag noch niemals so präsent waren wie heute.
Sebastian Lentz: Würde ich uneingeschränkt ja sagen. Allerdings würde ich mich fragen, nehmen wir alle diese Karten als Karten wahr, oder sind die vielleicht beiläufige Illustrationen, die wir gar nicht unbedingt als Karten lesen.

Karten vermitteln Inhalte einfacher als Text

Wenn wir auf einen Stadtplan schauen, ist uns das bewusst, dass da eine Karte ist, vielleicht ist die Hintergrundkarte zum jeweiligen Thema der "Tagesschau" schon wieder etwas, was wir weit weniger sehen. In unserer Tageszeitung tauchen mehr und mehr Karten auf, weil sie einfacher zu machen sind, weil Infografiker das sehr viel schneller heute erstellen können aufgrund der Software und der digitalen Printtechnik.
Und natürlich spielen sie in unserem Alltag eine Rolle, wenn wir uns mehr und mehr über digitale Karten orientieren, wenn wir jegliche Information, die wir irgendwo nachschlagen, nicht nur in Wikipedia nachgucken, sondern auch gleich noch danach fragen, wo ist denn dieses Ding eigentlich, ganz gleich, ob es ein Hotel ist oder irgendeine fremde Stadt in der Welt.
Ein Navigationsgerät
Der eigene Standort als Mittelpunkt der Welt: Navigationsgeräte sind aus dem Leben von vielen Autofahrern kaum noch wegzudenken© Deutschlandradio / Ellen Wilke
Kassel: Nun glauben wir ja leicht, das, was die Karte uns zeigt, ist ein Abbild der Wirklichkeit. aber nehmen wir doch mal ein simples Beispiel: Leute wie ich, sagen wir mal privat, beruflich, da wissen Sie ja mehr, auch Sie sind ja so aufgewachsen, dass eine Weltkarte immer so aussieht: Europa ist in der Mitte, links ist Amerika, rechts ist Asien. Das sind natürlich Leute, die in Kanada oder Japan aufgewachsen sind, ganz anders gewöhnt. Ist es nicht so, dass eine Karte auch immer sehr viel sagt über unseren eigenen Standpunkt?
Lentz: Ganz klar. Wir zeichnen dieses Interview auf, weil ich übermorgen nach Peking aufbreche, und Peking ist eine wunderbare Stadt, um das zu erklären. Nicht nur, dass eben China sich selbst als das Reich der Mitte bezeichnet, sondern die Mitte der Mitte ist dann wieder die verbotene Stadt in China, in Peking.

Zentrum und Peripherie

Und so würde ich auch sagen, Karten sind schöne Objekte, um zu zeigen, wo das Zentrum der Welt ist und wo die Peripherie ist. Nationale Atlanten, Schulatlanten sind auch entsprechend ausgerichtet, dass man lernt, das eigene Land sei in der Mitte der Welt, und man beschäftigt sich von da aus ausgehend mit den Nachbarn und dann irgendwann mit der ganzen Welt.
Wenn das in bestimmten Ländern nicht so ist, dann ist das eher für uns ein interessanter Fall, mit dem Schülern zum Beispiel beigebracht wird, dass man keineswegs die Mitte der Welt ist.
Kassel: Aber gerade das ist doch eine interessante Frage, ist man, also bin ich die Mitte der Welt? Wenn ich heutzutage eine digitale Karte benutze, ist das ja oft so, das würde ja auch anders keinen Sinn machen. Wenn ich zum Beispiel ein Navigationssystem nehme, dann ist die Mitte des Kartenausschnitts immer der Ort, wo ich mich befinde.
Lentz: Durchaus richtig, aber neben der Zentrierung der eigenen Ortung gibt es natürlich ein System, was beispielsweise Raum und Zeit reguliert, und dieses weltweit gültige System hat irgendwann sich als europäisches System durchgesetzt, nach dem der Nullmeridian in Greenwich ist. Und die Kartografen fanden es immer sehr praktisch, dann auch ungefähr London oder Europa in die Mitte zu setzen, um den Schülern beizubringen, jawohl, die Welt dehnt sich von dort aus nach rechts und nach links, nach Osten und nach Westen aus.
Kassel: Aber verändert das nicht trotzdem unsere Wahrnehmung, wenn wir ja jederzeit beschließen können, das, was ich sehen will, beginnt hier. Ich meine, ich hab manchmal das Gefühl, wenn Leute mithilfe eines Navigationssystems von A nach B fahren, kommen sie in der Regel an, wenn das Ding vernünftig funktioniert, aber ihnen ist ja nicht wirklich bewusst manchmal, in welchem Teil einer möglicherweise fremden Stadt sie sich gerade befinden.

Den Ausschnitt der Wirklichkeit wählen wir selbst

Lentz: Klar, den Ausschnitt der Wirklichkeit wählen wir heute selbst, ziemlich autonom und stufenlos regelbar in den meisten Anwendungen, aber trotzdem hängt das noch mal davon ab, wie wir die Karte benutzen.
Wenn wir tatsächlich uns orten wollen, wenn wir uns Wege aufzeigen wollen für uns selbst, dann würde ich sagen, stimme ich Ihnen völlig zu, und erst recht dann, wenn wir die Karte so ausrichten, dass unsere Bewegungsrichtung immer oben ist – dann leistet die Karte Informationen, aber keine Orientierung.
Ein bisschen anders ist es, wenn wir auf neue digitale Anwendungen schauen. Es gibt viele neue Anwendungen und neue Nutzergruppen, die Karten nicht mehr nur als passive Orientierung und Information benutzen, sondern selber mit Karten arbeiten, die Karten nutzen, um Ereignisse in diesen Karten einzuzeichnen oder um sich mit anderen Individuen, mit Gruppen zu koordinieren.
Das gilt zum Beispiel für Anwendungen in der sogenannten OpenStreetMap, aber auch Google Maps bietet so etwas an – indem Gruppen, beispielsweise bei Flutkatastrophen, schlichtweg das bürgerliche Engagement koordinieren: Wo müssen Sandsäcke gestapelt werden, wo werden Leute gebraucht? Und genau da fängt das aktive Nutzen von Karten an. Wir gehen so weit, zu sagen, es gibt nicht mehr nur die zwei Gruppen der Kartennutzer, die "Consumer", die Kartenmacher, also die Kartografen, das wären die "Producer", sondern es gibt eine neue Gruppe, die beides macht, das sind "Prosumer".
Kassel: Das funktioniert beim – Sie haben es ja schon erwähnt – Angebot wie OpenStreetMap ganz gut, es gibt auch noch andere weniger bekannte Beispiele, aber da, wo ein kommerzieller Konzern die Fäden in der Hand hält, da kontrolliert der natürlich am Ende, was wirklich drinsteht auf der Karte. Ist ganz simpel, das wissen wir alle. Ein italienisches Restaurant, das bei Google Maps gelistet ist, wird wahrscheinlich mehr Kunden haben als eins, das nicht gelistet ist, auch wenn vielleicht das andere die bessere Pizza backt.
Das ist, glaube ich, auch nichts Neues, das war in der vordigitalen Welt auch so. Ich meine, es gab ein fast Stadtplanmonopol eines gewissen Anbieters früher, der immer gefaltet hat, und wir dachten immer, eine richtig große Stadt muss man falten können. Aber dennoch, ganz im Ernst, ist es nicht so, dass der, der die Karten herstellt, eigentlich auch entscheidet, wie wir die Welt sehen?

Karten können leicht gefälscht werden

Lentz: Ja, vor allem dann, wenn es um die thematischen Inhalte geht. Es fängt an bei einer ganz klassischen Karte, in der militärische Sperrgebiete überhaupt nicht differenziert dargestellt wurden, sondern einfach nur grau gemacht wurden, je nachdem, in welchem Land man sich befunden hat, auch mit einem gewissen Umfeld, was schon nicht mehr richtig dargestellt war, oder dass Karten schlichtweg gefälscht wurden, damit die falschen Nutzer nicht die richtigen Schlüsse daraus ziehen können.
Weltkarte mit dem Klimaschutz-Index 2016.
Karte mit politischem Inhalt: Was drauf ist, bestimmt der Kartenmachen© pa/dpa
Wenn Sie jetzt auf die Art der Nutzung der Karten anspielen, also beispielsweise die Frage, welchen Italiener empfiehlt mir denn die Karte, so übernehmen Karten selbst heute die Funktion dessen, was mal Mund-zu-Mund-Propaganda war. Der Italiener, der uns vielleicht beim letzten Mal ganz besonders gut bedient hat, den empfehlen wir auch im Freundeskreis weiter.
Der Italiener, der bei Google entsprechend zahlt, der bekommt eben auch seinen Eintrag vielleicht schon in einem Maßstab, der größer ist, während der, der nicht so viel zahlt, nur in einem ganz kleinen Maßstabsbereich gezeigt wird. Ich glaube, an der Stelle sollten wir uns klarmachen, dass Karten für uns so etwas sind wie ein angeblich objektives Bild der Realität.

Wie die Kartenmacher ihr Geld verdienen

Damit machen Kartenmacher von heute ihr Geld – dass wir glauben, gewohnt sind, so sozialisiert sind, dass Karten wirklich ein objektives Abbild der Wirklichkeit sind. Und da wird in der Zukunft, so würde ich sagen, auf jeden Fall eine größere Kritikfähigkeit Karten gegenüber, den Kartenmachern gegenüber nicht nur notwendig sein, sondern auch Einzug halten.
Kassel: Sagt Professor Sebastian Lentz, der Direktor des Leibniz-Instituts für Länderkunde. Sein Institut bietet übrigens ungefähr 2.500 thematische Karten an, die man da abrufen kann im Internet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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