Sommerlust
Endlich Weltspitze! Ernährungsberater und Vitaminhersteller empfehlen dem deutschen Verbraucher derart hohe Vitamindosen (besonders C) pro Tag, dass diese die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO in den Schatten stellen und sogar den Vitaminkult der USA ausbremsen.
Die Zufuhrempfehlungen für Vitamine geben die Mindestmenge an, die wir brauchen
Nach einer Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO ist der Bedarf „die kleinste Nährstoffmenge, die zugeführt werden muss, um Mangelerscheinungen zu vermeiden, die durch klinische Zeichen und/oder Messwerte für chemische oder physiologische Funktionen nachgewiesen werden können“. Oder kurz: Bedarf ist das, was Mangelerscheinungen – auch auf subtiler biochemischer Ebene – verhindert.
Mit dieser Definition sollte es möglich sein, den Vitaminbedarf für den Homo sapiens nachvollziehbar zu bestimmen. Ein Blick in die gängigen Nährstoffempfehlungen der Nationalstaaten zeigt aber: Der Bedarf hängt anscheinend weniger von Alter und Geschlecht, von Tätigkeit und Umweltfaktoren als vielmehr vom Pass ab: Beim Vitamin D beispielsweise soll sich ein Kanadier mit 2,5 Mikrogramm pro Tag begnügen, einem Deutschen werden fünf, einem Franzosen gar zehn Mikrogramm anempfohlen. Genauso kunterbunt geht es bei den übrigen Vitaminen zu. Der höchste Wert beträgt gewöhnlich ein Vielfaches des niedrigsten. Offensichtlich hat jeder Staat seine eigenen Vorstellungen, was seinen Bürgern gut tut. Da fragt sich der verwunderte Laie zu Recht: Ja, werden die Zahlen denn mit dem Glücksrad ermittelt?
Weil es unethisch ist, mit Menschen Experimente durchzuführen, die zu einem Mangel führen, ist der tatsächliche Mindestbedarf nur in seltenen Fällen bekannt. Deshalb greift man zu biochemischen Untersuchungen und verfolgt gewöhnlich die Aktivität von Enzymen im Stoffwechsel. Manche von ihnen arbeiten um so schneller, je mehr Vitamin vorhanden ist – zum Beispiel, um es wieder auszuscheiden. Nun lautet die Arbeitshypothese, dass es für die Gesundheit des Menschen umso besser ist, je höher die Aktivität seiner Enzyme. Um ein beliebtes Bild zu verwenden, das den menschlichen Körper mit einem Motor vergleicht: Das würde bedeuten, dass der Motor sogar im Leerlauf in den höchsten Touren drehen sollte. Und natürlich müssen auch die Vitaminspeicher immer randvoll sein – als ob ein Motor nur mit vollem Tank liefe.
Aus solchen Mengenbestimmungen wird mit Sicherheitszuschlägen, die mögliche Ungenauigkeiten, schlechte Bioverfügbarkeit oder einen individuell erhöhten Bedarf ausgleichen sollen, der „Bedarf“ oder eine „Zufuhrempfehlung“ für die tägliche Aufnahme abgeschätzt, die bei jedem Menschen einer Gesellschaft eine ausreichende Versorgung sicherstellen soll. Im Autovergleich hieße das, sicherheitshalber noch einmal 50 Liter Benzin extra in und über das Auto zu gießen, um ja keinen Treibstoffmangel zu erleiden.
Nun gibt es nicht nur die Mindestzufuhr und die höheren Zufuhrempfehlungen, sondern auch noch die so genannte Bevölkerungsreferenzzufuhr (BRZ). Letztere gehört zu den großen Geheimnissen der Branche und wird deshalb meistens nicht beim Namen genannt. Die BRZ ist jene Zahl, die in der Öffentlichkeit fälschlich als „Bedarf“ oder „Nährwertempfehlung“ bezeichnet wird. Was steckt hinter diesen Begriffen? – Ganz einfach: Jeder Mensch isst etwas anderes. Die Folge: Seine Vitaminversorgung weicht von der seines Nachbarn ab. Wenn die Menschen eines Landes im Durchschnitt die empfohlene Dosis verzehren, dann bedeutet das rein statistisch, dass die eine Hälfte der Bürger mehr und die andere Hälfte weniger bekommt. Damit auch die Menschen mit ausgefallenen Ernährungsgewohnheiten ausreichend Vitamine speisen, wird die Meßlatte für den durchschnittlichen Bedarf der Bevölkerung einfach heraufgesetzt. Deshalb sind die Werte für die Bevölkerungsreferenzzufuhr deutlich höher als der individuelle Bedarf.
In versteckter Form wird gewöhnlich im Vorwort oder der Einleitung von Tabellenwerken zu Vitaminen und Nährstoffen darauf hingewiesen, dass die Empfehlungen gerade nicht den Bedarf des einzelnen Menschen beschreiben. So heißt es in den neuesten Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) etwas verschlüsselt: „Mit dem Anspruch der absoluten Richtigkeit ist die Planung einer bedarfsdeckenden Ernährung von Einzelpersonen mit den Referenzwerten nicht möglich, da der individuelle Bedarf nicht bekannt ist. Für die individuelle Ernährungsberatung können die Referenzwerte jedoch als Orientierung verwendet werden.“ Was verschwiegen wird, ist der Tatbestand, dass die Bevölkerungsreferenzwerte deutlich über dem individuellen Bedarf liegen.
Die Empfehlungen des Wissenschaftlichen Lebensmittelausschusses der EU haben auf dieses Versteckspiel verzichtet. Sie trennen strikt zwischen Mindestbedarf, Zufuhrempfehlung und Bevölkerungsreferenzzufuhr (BRZ). Damit wird ausgeschlossen, dass die BRZ als Maßstab für die Ernährungsberatung missbraucht wird. In Deutschland spricht die Fachwelt zwar von „Zufuhrempfehlung“, meint aber die Bevölkerungsreferenzzufuhr. Durch dieses Bäumchen-wechsle-dich-Spiel gelingt es ihr, bei vielen Menschen eine „Mangelversorgung“ zu errechnen. Zusätzlich lassen sich durch Änderung der statistischen Verfahren die vermeintlichen Bedarfswerte schrittweise erhöhen, bis – rein statistisch – alle unter einem Mangel leiden.
Entnommen aus: Pollmer , Warmuth: Lexikon der populären Ernährungsirrtümer. Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Halbwahrheiten von Alkohol bis Zucker. Piper Verlag, München 2004
Nach einer Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO ist der Bedarf „die kleinste Nährstoffmenge, die zugeführt werden muss, um Mangelerscheinungen zu vermeiden, die durch klinische Zeichen und/oder Messwerte für chemische oder physiologische Funktionen nachgewiesen werden können“. Oder kurz: Bedarf ist das, was Mangelerscheinungen – auch auf subtiler biochemischer Ebene – verhindert.
Mit dieser Definition sollte es möglich sein, den Vitaminbedarf für den Homo sapiens nachvollziehbar zu bestimmen. Ein Blick in die gängigen Nährstoffempfehlungen der Nationalstaaten zeigt aber: Der Bedarf hängt anscheinend weniger von Alter und Geschlecht, von Tätigkeit und Umweltfaktoren als vielmehr vom Pass ab: Beim Vitamin D beispielsweise soll sich ein Kanadier mit 2,5 Mikrogramm pro Tag begnügen, einem Deutschen werden fünf, einem Franzosen gar zehn Mikrogramm anempfohlen. Genauso kunterbunt geht es bei den übrigen Vitaminen zu. Der höchste Wert beträgt gewöhnlich ein Vielfaches des niedrigsten. Offensichtlich hat jeder Staat seine eigenen Vorstellungen, was seinen Bürgern gut tut. Da fragt sich der verwunderte Laie zu Recht: Ja, werden die Zahlen denn mit dem Glücksrad ermittelt?
Weil es unethisch ist, mit Menschen Experimente durchzuführen, die zu einem Mangel führen, ist der tatsächliche Mindestbedarf nur in seltenen Fällen bekannt. Deshalb greift man zu biochemischen Untersuchungen und verfolgt gewöhnlich die Aktivität von Enzymen im Stoffwechsel. Manche von ihnen arbeiten um so schneller, je mehr Vitamin vorhanden ist – zum Beispiel, um es wieder auszuscheiden. Nun lautet die Arbeitshypothese, dass es für die Gesundheit des Menschen umso besser ist, je höher die Aktivität seiner Enzyme. Um ein beliebtes Bild zu verwenden, das den menschlichen Körper mit einem Motor vergleicht: Das würde bedeuten, dass der Motor sogar im Leerlauf in den höchsten Touren drehen sollte. Und natürlich müssen auch die Vitaminspeicher immer randvoll sein – als ob ein Motor nur mit vollem Tank liefe.
Aus solchen Mengenbestimmungen wird mit Sicherheitszuschlägen, die mögliche Ungenauigkeiten, schlechte Bioverfügbarkeit oder einen individuell erhöhten Bedarf ausgleichen sollen, der „Bedarf“ oder eine „Zufuhrempfehlung“ für die tägliche Aufnahme abgeschätzt, die bei jedem Menschen einer Gesellschaft eine ausreichende Versorgung sicherstellen soll. Im Autovergleich hieße das, sicherheitshalber noch einmal 50 Liter Benzin extra in und über das Auto zu gießen, um ja keinen Treibstoffmangel zu erleiden.
Nun gibt es nicht nur die Mindestzufuhr und die höheren Zufuhrempfehlungen, sondern auch noch die so genannte Bevölkerungsreferenzzufuhr (BRZ). Letztere gehört zu den großen Geheimnissen der Branche und wird deshalb meistens nicht beim Namen genannt. Die BRZ ist jene Zahl, die in der Öffentlichkeit fälschlich als „Bedarf“ oder „Nährwertempfehlung“ bezeichnet wird. Was steckt hinter diesen Begriffen? – Ganz einfach: Jeder Mensch isst etwas anderes. Die Folge: Seine Vitaminversorgung weicht von der seines Nachbarn ab. Wenn die Menschen eines Landes im Durchschnitt die empfohlene Dosis verzehren, dann bedeutet das rein statistisch, dass die eine Hälfte der Bürger mehr und die andere Hälfte weniger bekommt. Damit auch die Menschen mit ausgefallenen Ernährungsgewohnheiten ausreichend Vitamine speisen, wird die Meßlatte für den durchschnittlichen Bedarf der Bevölkerung einfach heraufgesetzt. Deshalb sind die Werte für die Bevölkerungsreferenzzufuhr deutlich höher als der individuelle Bedarf.
In versteckter Form wird gewöhnlich im Vorwort oder der Einleitung von Tabellenwerken zu Vitaminen und Nährstoffen darauf hingewiesen, dass die Empfehlungen gerade nicht den Bedarf des einzelnen Menschen beschreiben. So heißt es in den neuesten Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) etwas verschlüsselt: „Mit dem Anspruch der absoluten Richtigkeit ist die Planung einer bedarfsdeckenden Ernährung von Einzelpersonen mit den Referenzwerten nicht möglich, da der individuelle Bedarf nicht bekannt ist. Für die individuelle Ernährungsberatung können die Referenzwerte jedoch als Orientierung verwendet werden.“ Was verschwiegen wird, ist der Tatbestand, dass die Bevölkerungsreferenzwerte deutlich über dem individuellen Bedarf liegen.
Die Empfehlungen des Wissenschaftlichen Lebensmittelausschusses der EU haben auf dieses Versteckspiel verzichtet. Sie trennen strikt zwischen Mindestbedarf, Zufuhrempfehlung und Bevölkerungsreferenzzufuhr (BRZ). Damit wird ausgeschlossen, dass die BRZ als Maßstab für die Ernährungsberatung missbraucht wird. In Deutschland spricht die Fachwelt zwar von „Zufuhrempfehlung“, meint aber die Bevölkerungsreferenzzufuhr. Durch dieses Bäumchen-wechsle-dich-Spiel gelingt es ihr, bei vielen Menschen eine „Mangelversorgung“ zu errechnen. Zusätzlich lassen sich durch Änderung der statistischen Verfahren die vermeintlichen Bedarfswerte schrittweise erhöhen, bis – rein statistisch – alle unter einem Mangel leiden.
Entnommen aus: Pollmer , Warmuth: Lexikon der populären Ernährungsirrtümer. Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Halbwahrheiten von Alkohol bis Zucker. Piper Verlag, München 2004