Sommerloch

Von Rainer Burchardt |
Da ist es wieder. Das Loch Ness der Politik. Das so genannte Sommerloch. Unvermeidlich, unausweichlich, unsäglich. Denn die dazugehörenden Monster, die Scheinthemen des Medienbetriebs, werden, wenn auch noch nur schemenhaft, schon sicht- und hörbar.
Ob Sterbehilfe oder Klimaschutz, Präsidentenwahl oder Kernkraft, keine Frage, die Dauerbrenner des öffentlichen Politikbetriebs müssen mal wieder herhalten, um die so genannte Saure-Gurken-Zeit in den Medien auszufüllen. Dass daneben aktuelle Themen wie Ölpreis, Inflation und SPD-Krise auf der täglichen Agenda stehen, wirkt fast schon störend. Zumindest für parlamentarische Hinterbänkler, die sonst so gern und oft gerade in dieser Zeit ihre Chance gekommen sahen, mit mal mehr mal weniger kuriosen Themen in die Schlagzeilen zu geraten. Sollte das Sommerloch selbst inzwischen zum Phänomen verkommen sein?

Waren das noch goldene Zeiten, als, wie etwa vor zwei Jahren, die Kaugummisteuer oder Rauchverbot beim Autofahren von sehr bedeutsamen Politikern ins Gespräch gebracht und tagelang heftig öffentlich diskutiert wurden.

Konkreter wurde im vergangenen Jahr schon Bundesinnenminister Schäuble, der mit seiner fordernden Formel vom finalen Rettungsschuss die Nation in Wallung brachte. War dann wohl alles doch nicht so ernst gemeint, denn nach der Sommerpause, als alle Akteure wieder an Deck des politischen Parketts waren, war dieses Thema erledigt. Kann aber natürlich jederzeit, wie eben jenes Ungeheuer von Loch Ness, wieder auftauchen.

Und vergessen wir doch keinesfalls die bedeutende bayerische Landrätin Gabriele Pauli, die, gewissermaßen aus dem Nichts, die Ehe auf Zeit für sieben Jahre vorschlug. Gewiss eine realistische Reminiszenz an das "verflixte siebte Jahr", doch so viel Realismus war in der Politik offenbar nicht erwünscht. Sollte der Vorschlag indessen klammheimlich der großen Koalition, auch Berliner Krisenbündnis genannt, gegolten haben, so mag manch einer ein unterdrücktes "Bloß das nicht" gebetet haben.

Ja, ja - das Sommerloch, ein Kuriositätenkabinett der res publica. Schon fallen auch politische Bemerkungen der Parteien-Prominenz inzwischen unter ein Evaluationsgebot: Wenn etwa die CSU-Giganten Beckstein und Huber wacker die Pendlerpauschale herbeireden wollen und gewissermaßen als Kollateralschaden der Kanzlerin Realitätsferne bescheinigen; wenn Peter Struck sich aber so was wie voll solidarisch hinter Kurt Beck aufrichtet, während die Restgenossenschaft schon Frank Walter Steinmeier als Kanzlerkandidaten in Position bringt, obwohl dies Thema erst für die Jahreswende annonciert war; wenn die Linkspartei mehr Rechte für die Unterdrückten dieser Welt fordert; wenn die FDP endlich mehr Steuersenkungen verlangt; oder wenn die Grünen nicht aufhören, sich öffentlich über die auch von ihnen mitinitiierten hohen Ölpreise aufzuregen; dann, ja dann sind wir mitten im Sommerloch, das ja eigentlich gar nicht mehr existent sein soll.

Zwar sind die meisten Spitzenpolitiker in Urlaub und aus begründetem Anlass zumeist weit weg von hier, doch im Zeitalter von Internet, Handy und Digitalisierung bleiben alle stets am Ball, oder versuchen es wenigstens. Auch die Medien. Das Fernsehen mit den unvermeidlichen Sommerinterviews, die Zeitungen mit den heiß erwarteten Reportagen über die Freizeitgewohnheiten der Politprominenz.

Wir wollten doch schon immer wissen, ob die Kanzlerin wenigstens im Urlaub ausschlafen kann und anschließend mit ihrem Mann spazieren gehen darf, ob Kurt Beck vielleicht doch seinen kleidsamen Bart noch länger wachsen lässt, in welchen Biergärten bayerischer Landtagswahlkampf probiert wird und so weiter.

Aber vielleicht wird dies alles noch übertroffen von der angeblich wachsenden Existenzangst aller Deutschen vor der Inflation. Uns allen ist doch die Krise von 1923 noch lebhaft in Erinnerung oder die Währungsreform von 1948 - nein, das darf man nicht unterschätzen. In Deutschland scheint schon die Panik auszubrechen. Darüber muss verantwortungsvoll öffentlich geschwafelt, pardon diskutiert werden. Nicht nur in Talkshows.

Zuletzt schreckte uns alle die Schlagzeile, SPD hat Angst vor dem Sommerloch. Was jetzt genau, fragt der besorgte Zeitgenosse, etwa davor, dass sie dort hineinfällt und endgültig verschwindet oder dass wie bislang alle nur klar vernehmlich durcheinanderreden und niemand mehr weiß, was und wen die Genossen wirklich wollen. Sprachregelung soll jetzt angeordnet worden sein.

Ein wirklich vernünftiger Vorschlag - oder etwa auch noch ein Thema im Sommerloch? Auszuschließen wäre das natürlich nicht. Nessi darf neidisch werden.


Prof. Rainer Burchardt lehrt an der Hochschule Kiel im Bereich Medien- und Kommunikationsstrukturen. Er hat zudem seit längerer Zeit eine Honorarprofessur an der Hochschule Bremen inne. Rainer Burchardt war zuvor seit Juli 1994 Deutschlandfunk-Chefredakteur. Vor seiner fast zwölfjährigen Tätigkeit beim Deutschlandfunk war Burchardt langjähriger ARD-Korrespondent in Brüssel, Bonn, Genf und London. Unter anderem schrieb er für DIE ZEIT, Sonntagsblatt und andere Zeitungen und ist Vorstandmitglied der Journalistenvereinigung "Netzwerk Recherche".