Sommer in einer namenlosen Stadt

Von Jörg Plath |
Auf fast körperliche Weise macht Esther Kinskys Roman „Sommerfrische“ die Hitze in einer südostungarischen Vorstadt spürbar. Ansonsten passiert nicht viel. Eine fremde Frau zieht her und gibt sich schwerzüngig. Der Leser bleibt bei der Stange, weil die Autorin mit wunderbaren Sprachschöpfungen fasziniert.
Zwei Schauplätze hat Esther Kinskys Erzählungsreigen „Sommerfrische“. Einer ist die Peripherie einer namenlosen Stadt am Rande der ungarischen Tiefebene, nahe der Grenze zu Rumänien, in die eine „Neue Frau“ gezogen ist. Die Fremde ist das geheime Zentrum des Buches. Sie kann sich nur „schwerzüngig“ und „offenlautig“ in der Landessprache ausdrücken, schweigt daher meist und starrt von der Dachbodentreppe hinüber zu Lacibácsi.

Der Nachbar ist Schrotthändler und stolzer Besitzer eines „Swimmingpull“. Er besitzt auch eine Kneipe im üdülö. Die Feriensiedlung am Fluss, in deren ungarischer Bezeichnung das griechische Idyll nachklingt, ist der zweite Schauplatz des Buches. Das üdülö ist dolce vita auf Ungarisch.

Von einem Sommer erzählt „Sommerfrische“, und anfangs hat es den Anschein, als ob die einzige erhebliche Aktivität das Steigen der Quecksilbersäule im Thermometer sei. Alles andere geht nämlich äußerst geruhsam seinen halblegalen Gang. Schrottsammler, Plünderer von Unfallautos und einige nächtliche Marikas und Zsuzsas mit sehr kurzen Röcken repräsentieren eine dürftige Überlebensökonomie.

Die früher prosperierende Zuckerfabrik ist eine Ruine, die Tagelöhner arbeiten auf den Feldern, die ihnen einst gehörten. Die Herrscher der Vorstadt heißen Zwiebelkönige und sind mit Lacibácsi verwandt, die Könige des üdülö sind die Kozakjungs mit einem Hofstaat aus fleischigen, weißen Frauen und vielen Kindern. Gemächlich, ohne Klage und Verurteilung lässt Esther Kinsky ein schäbiges Stillleben nach dem anderen vorüberziehen.

In dieser Welt geschieht nichts, oder es ist schon längst geschehen. So hat die Neue Frau mit einem Mal einen Mann: Antal hat Frau, Sohn und vier Pfauen verlassen. Die drei Mitglieder der zerstörten Kleinfamilie sind die einzigen, die in einem Monolog das Wort ergreifen. Die übrigen Figuren behandelt der auktoriale Erzähler als Nebenfiguren eines Randwelttheaters: Das Land ist „grell und flach bis zum Horizont“, ein Kieswerk mahlt die Träume klein, die gewaltigen Sonnenblumenfelder rascheln verdorrt. Träge steht die erhitzte Luft, erfüllt von Gerüchen und Geräuschen von Mensch und Tier. Es ist so heiß, dass selbst die Fliegen müde werden.

„Sommerfrische“ lässt die Hitze auf fast körperliche Weise spüren. Esther Kinsky, 1956 geboren, hat so schwierige Autoren wie Zygmunt Haupt, Hanna Krall, Aleksander Wat, Magdalena Tulli und Svetlana Vasilenko ins Deutsche übersetzt. Nun findet die Neuberlinerin für die südostungarische Gegend, in der sie nach London einige Jahre lebte, eine Sprache, die vom Fremdsein auf märchenhafte und legendenartige Weise erzählt und dabei die Zustände und Personen weder verurteilt noch beschönigt.

Zahlreiche seltene Wörter kennt das Buch, auch erfundene wie das wunderbare „schlapsen“ in Sandalen, und viele fügt es glücklich zusammen wie die „schlafsanfte Schnauze“. Ein „herzschwer“ erinnert an Herta Müller, die nahebei im rumänischen Banat aufwuchs, und mit der Wendung vom „schmächtigen Geldchen“ ist Kakanien präsent, während ein Mond „furchig uneben wie ein Stück Wurst“ und Laute von Tieren wie Pflanzen an Bruno Schulz‘ magische Welt gemahnen.

In „Sommerfrische“ schenkt Esther Kinsky dem Garstigen und Schäbigen für den Augenblick der Benennung den Glanz der Aufmerksamkeit. Und was für einen Glanz!

Rezensiert von Jörg Plath

Esther Kinsky: Sommerfrische
Matthes & Seitz Berlin
Berlin 2009
118 Seiten, 16,80 Euro