Sodom und Camorra
Es war im Oktober 1944, als der britische Nachrichtenoffizier Norman Lewis das vom Krieg schwer mitgenommene Neapel erreichte. Trotz der Zerstörung und dem Elend, das deutsche Besatzer und alliierte Bomber verursacht hatten, war Lewis von der Stadt verzaubert. Es fehlte am Nötigsten, an Nahrung, Strom und Trinkwasser, aber Vitalität und Einfallsreichtum der Neapolitaner wirkten auf den humorbegabten Briten überwältigend.
Aus dem städtischen Aquarium waren alle Fische - auch Haie und kostbare Exoten - entwendet und verspeist worden. Aus dem Hauptquartier der Militärpolizei in der Festung Castellamare wurden eines nachts die Autoreifen aller Armeefahrzeuge abmontiert und gestohlen. Wenn die Briten verschwundene Telefonleitungen wiederherstellen wollten, mussten sie den Kupferdraht anderntags auf dem Schwarzmarkt zurückkaufen.
Über die Umgebung notierte der Brite: "Wenn hier jemand regiert, ist es die Camorra" - die Mafia Neapels und der Region Kampanien. Gerichtsverhandlungen arteten stets zur Farce aus: die Richter waren hilflos gegenüber der Omertà, der Verschwörung des Schweigens und der blanken Lüge. "Hätte ich eine zweite Chance, würde ich gerne in Italien auf die Welt kommen", schrieb Lewis in seinem Buch "Neapel '44".
Ob er es wohl heute noch so pittoresk finden würde? Der Überlebenskampf der Nachkriegszeit liegt ja ein Weilchen zurück. Seit 60 Jahren haben Neapel und sein Hinterland keine Hungersnot, keine Luftangriffe, keine fremde Besatzung erlebt. Aber an den wüsten Verhältnissen im Süden Italiens hat sich wenig geändert. Dolche, Knüppel, Schlagringe wurden durch automatische Waffen ersetzt, minderjährige Botengänger durch Mobiltelefone, Zigarettenschmuggel durch Heroinhandel. Doch die Erpressung von Schutzgeldern, dieses uralte Handwerk, nährt immer noch seinen Mann.
In den Territorialkriegen der Camorra-Familien geht es nicht mehr um Millionen Lire, sondern um Milliarden Euro. Die Geldwäsche findet in Mailand, Frankfurt oder London statt. Für die Protektion vor der Justiz sorgen nicht mehr Bürgermeister, sondern Politiker von nationalem Rang.
Letzte Woche bekam in Sizilien der Regierungschef Salvatore Cuffaro wegen seiner Verbindungen zu Mafia-Bossen fünf Jahre Gefängnis. Da das Urteil erst nach einer Revision vollstreckt werden kann, die sich Jahre hinziehen mag, verweigert Cuffaro den Rücktritt: Er bleibt einfach Siziliens Regierungschef, und niemand hindert ihn daran - nicht einmal Romano Prodi, Chef der Mitte-Links-Koalition in Rom.
Die Macht der Camorra ist inzwischen mit bloßem Auge, ja sogar mit der Nase wahrnehmbar. 100.000 Tonnen Abfall verrotteten auf den Straßen Neapels, weil die Verbrecher nicht mehr hinreichend am Geschäft der Müllabfuhr beteiligt wurden.
Eine weitere Kalamität, die für Schlagzeilen sorgt, hat mit der Camorra zu tun: Italiens begehrteste Käsesorte, mozzarella di bufala, ist von einem Virus unter den Büffelherden gefährdet. Dass die Viren wüten, liegt daran, dass Camorristi den amtlichen Tierärzten den Mund verbieten, wenn sie Alarm schlagen und die Notschlachtung eines infizierten Tieres anordnen wollen.
Um den Käse zu retten, müssten in Kampanien bis zu 30.000 Büffel gekeult werden. Da die Camorra aber eigene Herden besitzt und sich als Beschützer der Bauern aufspielt, dürfte es demnächst zur Kraftprobe zwischen den Gesundheitsbehörden und der Unterwelt kommen.
Die inzestuösen Beziehungen zwischen Politik und Verbrechen wurden letzten Mittwoch auch in Rom in grelles Licht getaucht: Kein Geringerer als Italiens Justizminister Clemente Mastella erklärte theatralisch seinen Rücktritt, weil gegen ihn wegen Korruption ermittelt wird und seine Frau unter Hausarrest gestellt wurde. Das Ehepaar Mastella hat seine politische Heimat in Kampanien - dem Hinterland Neapels, wo Camorra blüht. Frau Mastella wird beschuldigt, gerade im Gesundheitswesen viele Posten mit politischen Günstlingen besetzt zu haben.
Der Justizminister selbst ist Chef einer christdemokratischen 1,4-Prozent-Partei, ohne die Romano Prodis römische Koalition ihre knappe Mehrheit - und die Regierungsfähigkeit - verlieren würde. Um Mastella nicht zu verärgern, hat Prodi keinen Nachfolger ernannt, sondern das Justizministerium taktvoll selbst übernommen - so gut hat der korruptionsverdächtige Chef einer Mini-Partei den Premierminister Italiens im Griff.
Die solidarischen Küsse und Umarmungen, die Mastella von den Abgeordneten der Koalitionspartner zuteil wurden, wirkten eher abstoßend als rührend. Ein solches Schmierenstück hatte die zuschauende Nation seit den Zeiten Silvio Berlusconis nicht mehr erlebt.
Carlos Widmann, Journalist, geboren in Buenos Aires, war 30 Jahre lang Redaktionsmitglied und Auslandskorrespondent der "Süddeutschen Zeitung" sowie 12 Jahre lang Reporter und Kolumnist beim "Spiegel". In seiner Zeit als Italien-Korrespondent der SZ erhielt er den Internationalen Journalistenpreis der Stadt Rom. Heute lebt er als freier Autor in Umbrien und Paris.
Über die Umgebung notierte der Brite: "Wenn hier jemand regiert, ist es die Camorra" - die Mafia Neapels und der Region Kampanien. Gerichtsverhandlungen arteten stets zur Farce aus: die Richter waren hilflos gegenüber der Omertà, der Verschwörung des Schweigens und der blanken Lüge. "Hätte ich eine zweite Chance, würde ich gerne in Italien auf die Welt kommen", schrieb Lewis in seinem Buch "Neapel '44".
Ob er es wohl heute noch so pittoresk finden würde? Der Überlebenskampf der Nachkriegszeit liegt ja ein Weilchen zurück. Seit 60 Jahren haben Neapel und sein Hinterland keine Hungersnot, keine Luftangriffe, keine fremde Besatzung erlebt. Aber an den wüsten Verhältnissen im Süden Italiens hat sich wenig geändert. Dolche, Knüppel, Schlagringe wurden durch automatische Waffen ersetzt, minderjährige Botengänger durch Mobiltelefone, Zigarettenschmuggel durch Heroinhandel. Doch die Erpressung von Schutzgeldern, dieses uralte Handwerk, nährt immer noch seinen Mann.
In den Territorialkriegen der Camorra-Familien geht es nicht mehr um Millionen Lire, sondern um Milliarden Euro. Die Geldwäsche findet in Mailand, Frankfurt oder London statt. Für die Protektion vor der Justiz sorgen nicht mehr Bürgermeister, sondern Politiker von nationalem Rang.
Letzte Woche bekam in Sizilien der Regierungschef Salvatore Cuffaro wegen seiner Verbindungen zu Mafia-Bossen fünf Jahre Gefängnis. Da das Urteil erst nach einer Revision vollstreckt werden kann, die sich Jahre hinziehen mag, verweigert Cuffaro den Rücktritt: Er bleibt einfach Siziliens Regierungschef, und niemand hindert ihn daran - nicht einmal Romano Prodi, Chef der Mitte-Links-Koalition in Rom.
Die Macht der Camorra ist inzwischen mit bloßem Auge, ja sogar mit der Nase wahrnehmbar. 100.000 Tonnen Abfall verrotteten auf den Straßen Neapels, weil die Verbrecher nicht mehr hinreichend am Geschäft der Müllabfuhr beteiligt wurden.
Eine weitere Kalamität, die für Schlagzeilen sorgt, hat mit der Camorra zu tun: Italiens begehrteste Käsesorte, mozzarella di bufala, ist von einem Virus unter den Büffelherden gefährdet. Dass die Viren wüten, liegt daran, dass Camorristi den amtlichen Tierärzten den Mund verbieten, wenn sie Alarm schlagen und die Notschlachtung eines infizierten Tieres anordnen wollen.
Um den Käse zu retten, müssten in Kampanien bis zu 30.000 Büffel gekeult werden. Da die Camorra aber eigene Herden besitzt und sich als Beschützer der Bauern aufspielt, dürfte es demnächst zur Kraftprobe zwischen den Gesundheitsbehörden und der Unterwelt kommen.
Die inzestuösen Beziehungen zwischen Politik und Verbrechen wurden letzten Mittwoch auch in Rom in grelles Licht getaucht: Kein Geringerer als Italiens Justizminister Clemente Mastella erklärte theatralisch seinen Rücktritt, weil gegen ihn wegen Korruption ermittelt wird und seine Frau unter Hausarrest gestellt wurde. Das Ehepaar Mastella hat seine politische Heimat in Kampanien - dem Hinterland Neapels, wo Camorra blüht. Frau Mastella wird beschuldigt, gerade im Gesundheitswesen viele Posten mit politischen Günstlingen besetzt zu haben.
Der Justizminister selbst ist Chef einer christdemokratischen 1,4-Prozent-Partei, ohne die Romano Prodis römische Koalition ihre knappe Mehrheit - und die Regierungsfähigkeit - verlieren würde. Um Mastella nicht zu verärgern, hat Prodi keinen Nachfolger ernannt, sondern das Justizministerium taktvoll selbst übernommen - so gut hat der korruptionsverdächtige Chef einer Mini-Partei den Premierminister Italiens im Griff.
Die solidarischen Küsse und Umarmungen, die Mastella von den Abgeordneten der Koalitionspartner zuteil wurden, wirkten eher abstoßend als rührend. Ein solches Schmierenstück hatte die zuschauende Nation seit den Zeiten Silvio Berlusconis nicht mehr erlebt.
Carlos Widmann, Journalist, geboren in Buenos Aires, war 30 Jahre lang Redaktionsmitglied und Auslandskorrespondent der "Süddeutschen Zeitung" sowie 12 Jahre lang Reporter und Kolumnist beim "Spiegel". In seiner Zeit als Italien-Korrespondent der SZ erhielt er den Internationalen Journalistenpreis der Stadt Rom. Heute lebt er als freier Autor in Umbrien und Paris.

Carlos Widmann© privat