So tot wie das blühende Leben

Von Claas Christophersen und Norbert Zeeb · 27.12.2012
Er selbst versteht sich als eine Art Tierschützer. Seine Mission: Er will die Zeitgenossen mahnen, doch ein bisschen menschlicher mit Vierbeinern und Vögeln umzugehen. Deshalb flickt Präparator Holger Rathaj Tierleiber zusammen, die längst gestorben sind - und erschafft sie gleichsam neu.
Holger Rathaj: "Wir haben hier in der Nähe die Augustusburg, die hat eine wunderschöne Ausstellung über Jagd und jagdliche Tiere, und dort durfte ich mindestens einmal im Monat mit meiner Oma zu Besuch sein. Und als ich dann so in die fünfte, sechste, siebte, achte Klasse gekommen bin, hat mich das immer mehr fasziniert, warum immer die gleichen Tiere dort sitzen und warum die nie runterfallen und wie die sich festhalten und warum die Augen einen so anschauen, und irgendwie hab ich in mir gespürt, dass ich was mit Natur machen möchte, was aber individuell ist."

Die Fragen, die sich Holger Rathaj als Kind stellt, beschäftigen den Chemnitzer bis heute, jeden Tag, als Tierpräparator im Naturkundemuseum seiner Heimatstadt. Dort haucht er seit nunmehr sechsundzwanzig Jahren toten Säugetieren und Vögeln wieder Leben ein.

In dem fensterlosen Raum in seinem Arbeitsbereich wäscht der Präparator die zukünftigen Exponate – nachdem er ihnen das Fell über die Ohren gezogen hat. Aber: Kein Grund, sich zu ekeln, beteuert Rathaj.

"Mittlerweile mache ich Schaupräparationen vor drei-, vierhundert Leuten und habe also gar keine Bedenken, in die Bauchhaut reinzuschneiden, kann also ganz sauber so ein Tier abziehen, und alle Leute sagen dann am Ende nur: so haben wir uns das nie vorgestellt, wir dachten, jetzt ist überall Blut, und ein Präparator riecht vielleicht auch schlecht und hat einen riesenlangen Bart und ist uralt. Den Beruf des Präparatoren gibt’s also immer noch, er wird auch ausgebildet, und es gibt auch ganz attraktive junge Damen, und man staunt immer, was die auch für tolle Präparate herstellen können."

Das eigentliche Herzstück der Präparatoren-Werkstatt ist das "Atelier", wie es der mittelgroße 47-jährige mit den kurzen dunklen Haaren und dem jugendlichen Gesicht nennt: ein freundlicher, weiß gefliester Raum voller Regale mit Präparaten, in einer Ecke ein altes Radio, aus dem leise Musik dudelt.

Rathaj setzt sich an einen großen hellblauen Keramik-Tisch in der Mitte des Raumes, um einen Waldkauz für eine Ausstellung "zusammenzubauen", wie es im Präparatoren-Fachjargon heißt. Er sitzt sehr aufrecht da und ist mit einem Mal hochkonzentriert. Doch zwischendurch blitzen seine sanften Augen schelmisch auf.

"So, ich hol mir noch ein paar Werkzeuge. Ganz wichtig ist natürlich das Skalpell, eine ordentlich scharfe Schere und ein Mittel, da staunen immer die Leute, wenn ich mit Kartoffelmehl ankomme. Ich will natürlich auch was von dem Tier haben, und es wird vorher paniert, damit ich’s ordentlich braten kann. Ist natürlich völliger Quatsch."
… denn das Kartoffelmehl braucht Rathaj, um nässende Stellen am Fleisch der toten Eule zu trocknen. Die er sodann mit wenigen Schnitten von ihrem inneren Fleischkörper befreit – tatsächlich ohne einen Tropfen Blut oder gar spritzende Gedärme.

"So, jetzt trenne ich noch die Muskulatur am Lauf ab. Da sehen wir auch schon eine ganze Menge Sehnen, und jetzt sehe ich auch, woran er wahrscheinlich gestorben ist. Der hat also nicht diese Kopfverletzung, die relativ häufig ist, sondern er ist mit dem Fuß zuerst, mit dem Fang zuerst, vielleicht irgendwo in ein Auto reingeflogen, der ist nämlich komplett gebrochen. Man versucht natürlich vielleicht, was dem Autofahrer da passiert ist, weil er die Eule nicht gesehen hat, das versucht man als Präparator emotional wieder ein Stück gutzumachen. Der Präparator hatte nicht die Zeit, sich zu verabschieden, hat aber die Chance, dem Tier wieder ein Stück Leben einzuhauchen und es vielleicht als Warnung der Menschheit zurückzugeben, anders mit den Tieren umzugehen."

Viele Arbeitsschritte – wie das Ausspülen der Eulenfedern oder das Schnitzen eines neuen Waldkauz-Innenlebens aus Hartschaum – sind für Holger Rathaj reine Technik Hinzu kommt aber auch ein künstlerisches Element. Rathaj möchte das Besondere des Waldkauzes herausstellen. Für ihn ist das der mystische Blick dieses Vogels. Er setzt dem Präparat milchig-dunkle Glasaugen ein.

"Der Kopf ist umgedreht, und ich denke, da ist wieder ein richtig schönes Gesicht entstanden. Und jetzt geht, die Präparatoren sagen im Fachjargon, das Spielen los, das heißt: Jetzt fang ich an, spielerisch dem Vogel Leben zu geben. Und jetzt kann ich auch ein bisschen mein Leben, meine Seele einfließen lassen. Schon beim Zusammenbauen, schon wenn ich dem jetzt die Augen eingesetzt habe, weiß ich, das ist ein Waldkauz, den ich präpariert habe."

Und so ist aus einem zusammengefallenen toten Körper wieder ein unverwechselbares Stück Natur entstanden, ein unergründlich schauender Waldkauz, der zwar noch auf einem provisorischen Holzklotz sitzt und der sich doch jederzeit bereit machen könnte, zu einem Flug im Dämmerlicht aufzubrechen.