Slapstick auf der Intensivstation

McCartens Buchidee beruht auf einer Zeitungsmeldung über den skurrilen Wettbewerb eines Autohauses: 40 Kandidaten legten eine Hand auf einen Geländewagen und der letzte, der losließ, gewann das Auto. Aus dem Spaß wird im Roman ein surrealer Albtraum.
"Könnten Sie mir bitte nachsprechen: Ich sammle gern Muscheln am Meer. Im Sand ist das Kuscheln nicht schwer."

Populär wurde Anthony McCarten in Deutschland durch die Verfilmung seines Theaterstücks "Ladies Night", deutscher Titel "Ganz oder gar nicht", in dem sechs arbeitslose Loser eine Männerstripgruppe gründen. Geschrieben hatte er es 1986 im Alter von nur 25 Jahren zusammen mit seinem Freund Stephen Sinclair, bekannt als Autor des Drehbuches zu "Der Herr der Ringe". Der Neuseeländer Anthony McCarten, Jahrgang 1961, ist ein Multitalent: Er schrieb elf Theaterstücke und arbeitete auch als Film-Regisseur. 1999 wurde sein Film "Via Sattelite" nach Cannes eingeladen. Dazu hat er fünf Romane geschrieben, unter anderem "Superhero" 2007 und "Englischer Harem" 2008.

Jetzt ist McCartens neuer Roman "Hand aufs Herz" erschienen, und wie immer bei McCarten beruht die Buchidee auf einer realen Zeitungsmeldung: ein skurriler Wettbewerb beziehungsweise Werbegag eines Londoner Autohauses, bei dem ein schicker Geländewagen zu gewinnen war. Auf Startpfiff legten 40 ausgeloste Kandidaten eine Hand auf das Auto, und wer als letzter losließ, der hatte das Auto gewonnen.

Aus dem Spaß wird ein surrealer Albtraum. Nach Tagen setzt totale Erschöpfung ein, die Kandidaten fangen an zu halluzinieren. Einer stirbt. Ein anderer wird zum Terroristen. Die beiden Hauptfiguren aber, Tom, der Klugscheißer, und Jess, die polnisch-stämmige Politesse, erleben ihr persönliches Happy End.

Große Gefühle, Händchen halten und Slapstick auf der Intensivstation. Fragt der Notarzt: "Könnten Sie mir bitte nachsprechen: Ich sammle gern Muscheln am Meer. Im Sand ist das Kuscheln nicht schwer." Auf dieser Loriot-Ebene wird auch Tragödie kommunizierbar; es darf gelacht werden. McCarten ist ein Meister der Situationskomik; sein Theaterstück "Ganz oder gar nicht" war 2002 bis 2004 das am meisten gespielte auf deutschen Bühnen.

McCarten erinnert an T. C. Boyle und an die großen Südamerikaner Marquez und Borges, allesamt Vertreter des "Magischen Realismus", wie man die Kunst nennt, einen Roman zu schreiben, bei dem der Leser sagt: das bin ja ich !

McCarten ist auch ein politischer Autor. Die "Times" beschrieb seine Romane als "ein einziges Aufbegehren gegen unsere bigotte und intolerante Gesellschaft". In "Hand aufs Herz" heißt es:

"Kein Wunder, dass einige der klügsten Köpfe jeder Generation entweder beim Verbrechen oder beim Großkapital landen. Beides Typen, die gerne die Grenzen des Systems und des Profits austesten. Ihren Instinkten folgen."

Auf den ersten Blick kommt "Hand aufs Herz" ähnlich mächtig und tragisch daher, wie die beiden letzten Romane. (Im vorletzten, in "Superhero" zum Beispiel besorgt ein Therapeut einem unheilbar kranken, sterbenden 14-jährigen Jungen eine Prostituierte, damit der vor seinem Tod einmal Sex im Leben hat.) In "Hand aufs Herz" lernen wir eine Politesse kennen, die ihren Mann bei einem Autofall verloren hat und deren Tochter seitdem im Rollstuhl sitzt. Aber in "Hand aufs Herz" gibt’s ein Happy End - ein Roman, der nicht so tief schürft wie die Romane zuvor und der auch nicht so ausgetüftelt durchkomponiert ist. "Hand aufs Herz" ist eine Miniatur, eine Studie, eine spielerische Skizzenfolge. Und das macht ihn gerade besonders leicht und liebenswert. McCarten-Fans werden begeistert sein, und für Noch-Nicht-McCarten-Fans ist der Roman ein wunderbarer Einstieg.

Besprochen von Lutz Bunk

Anthony McCarten: Hand aufs Herz
Aus dem Englischen von Manfred Allié
Diogenes Verlag 2009
320 Seiten, 21,90 Euro