Skurrile Geschichten aus der 200-jährigen Hirnforschung

Rezensiert von Kim Kindermann |
Die 40-jährige Suche der Journalisten und Wissenschaftler nach Einsteins Gehirn endete in einem tristen Wohnzimmer in Kansas City: Hierhin hatte es der Pathologe Thomas Harvey nach der Obduktion Einsteins mitgenommen und in 240 Würfel geteilt – nicht aus Perversion, sondern bei seinem pseudowissenschaftlichen Versuch, das Genie des großen Wissenschaftlers zu lokalisieren. Harvey, einfacher Arzt am Princeton Hospital, wollte im großen Reigen der Hirnforscher mittanzen und imitierte dabei deren Vorgehen ohne wissenschaftlichen Sinn.
Der Kult um Einsteins Gehirn ist wohl der skurrilste Auswuchs in der 200-jährigen Geschichte der Hirnforschung, von dem Michael Hagner exemplarisch in seinem Buch „Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung“ erzählt. Hagner berichtet in seiner vortrefflichen Materialsammlung von einer langen Kette von Irrungen einer angesehenen Wissenschaft, in der auf der Suche nach der Genialität die Schädel berühmter Leute gesammelt, abgetastet und vermessen wurden, in der die Wissenschaftler Gehirne von Toten auf Größe, Gewicht und Windungsreichtum untersuchten, in Formalin legten und in Würfel oder hauchdünne Scheiben schnitten.

Dabei zeigt sich rasch, dass die Forscher meist das herausfanden, was sie bereits im Vorfeld erwartet hatten. So wurden Ende des 18. Jahrhunderts vor jeder Analyse eines Schädels, der damals stellvertretend für das Gehirn untersucht wurde, akribisch Daten über die intellektuelle Leistung des Toten gesammelt, um diese anschließend in den Schädel hineinzulesen. Satirisch anmutende Episoden einer, wie man annehmen sollte, ehrbaren Zunft kommen so zutage, etwa die über Schiller.

1826 stießen anerkannte Hirnforscher auf eine Gruft, in der sich 23 unbeschriftete Schädel befanden, einer davon – so viel war klar – war der Schillers. Kurzerhand wählten die Forscher den größten, ganz nach der damals herrschenden Meinung: das größte Genie müsse den größten Schädel haben. Ein Irrtum, wie sich Jahrzehnte später herausstellte: Der vermeintliche Schiller-Schädel war deutlich größer als Schillers Kopf, wie der Vergleich mit einer zu Schillers Lebzeiten angefertigten Büste zeigte. Hagner hat damit die Lacher auf seiner Seite, doch er will mehr: Geschickt setzt der Autor Geschichten wie diese ein, um mit seiner wissenschaftlich und philosophisch geleiteten Quellenstudie den Blick des Lesers dafür zu schärfen, das Wissenschaft immer auch aus ihrem soziokulturellen Kontext heraus zu bewerten ist.

Forschung – so macht Hagner deutlich – wird stets auf der Grundlage der jeweils geltenden gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen betrieben und schafft selbst neue kulturprägende Werte. Der Autor zeigt, dass es in der Elitegehirnforschung nicht selten um die Festschreibung bestehender Machtverhältnisse, um Rassismus, Sexismus und um Eugenik ging und oft Vergleiche gezogen wurden zwischen Präparaten von Genies und denen von Geisteskranken, Kriminellen, Exoten, Affen und Frauen, um damit die Seriosität der Grundannahmen zu bestätigen.

Wiesen die Ergebnisse Ungereimtheiten auf, so zeigt Hagners messerscharfe Analyse, diskreditierten sie die gesamte Wissenschaft, wie der Fall Hausmann 1860 beweist. Als die Forscher das Gehirn des damals berühmten Mineralogen untersuchten, kamen sie zu dem ernüchternden Ergebnis, dass es sich „in keiner Weise auszeichne“, sondern vielmehr „an dasjenige eines Embryos erinnere“. Zwar zeigt eine solche Geschichte, dass die Wissenschaftler die Irrtümer ihrer Genietheorien oft selbst aufdeckten, aber trotzdem stockt dem Leser in solchen Momenten der Atem. Was, so fragt man sich, passiert eigentlich in der heutigen Wissenschaft?

Genau das will Michael Hagner erreichen. Er schärft den Blick des Lesers und fordert ihn zu einer kritischen Überprüfung wissenschaftlicher Ergebnisse auf. Dies gilt umso mehr, als auch in jüngster Zeit wieder vermehrt Blicke ins Gehirn geworfen werden und es scheint, dass die Forscher wieder auf dem Weg sind, verbindliche Aussagen über den Sitz unseres Geistes zu machen. Ob sie damit richtig liegen, lässt der Autor offen. Insgesamt ist Michael Hagner mit seinem Buch ein genialer Wurf gelungen, dessen einzige Schwäche in der hochkomplexen Verästelung seiner Abhandlung liegt, die dem Leser viel Disziplin abverlangt, zumal die zahlreichen Fremdwörter wie Cytoarchitektur und vivisektorisch etc. nicht erklärt werden. Wer sich davon allerdings nicht abschrecken lässt, dem steht ein erkenntnisreiches Lesevergnügen bevor.

Michael Hagner
Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung.
Wallstein Verlag
Göttingen 2004
375 S., gebunden: 38 Euro