Skizzen der Bohéme

Rezensiert von Helmut Böttiger · 18.01.2006
Undine Gruenter blieb lange Zeit relativ unbekannt. Erst kurz nach ihrem Tod im Jahr 2002 wurde sie zum "Kult". Unter dem Titel "Pariser Libertinagen" sind jetzt womöglich allerletzte Prosastücke aus dem Nachlass erschienen. Darin geht es um die Entdeckung von Paris als mythischen Ort und als Kristallisationspunkt einer selbstverliebten Künstler-Bohéme.
Die im Jahr 2002 nach einer schweren Krankheit im Alter von 50 Jahren gestorbene Undine Gruenter schrieb ihre Texte zwar auf deutsch, aber sie wirkten meist wie aus dem Französischen übersetzt - nach Paris war sie früh übersiedelt, an der Seite ihres berühmten Ehemanns Karlheinz Bohrer. Ihr Satzbau, der Rhythmus, die Accessoires und die Gefühle hatten mit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur überhaupt keine Berührungspunkte; das Ich vernetzte sich in lauter Beobachtungen, Details und Augenblickssentenzen.

Undine Gruenter hat sich immer verwandelt, changierte zwischen femme fatale und femme fragile, und wenn sie ihre Lippen so rot schminkte, dass sich die Signalwirkung sofort in eine ästhetische Überreizung auflöste, wurde klar: hier versuchte jemand, sich in eine französische Kunstwelt zu versetzen, in Surrealismus, in art déco, in Ambivalenzen und Capricen.

Undine Gruenters Literatur bewegte sich zwischen alten Riten und moderner Einsamkeit, und als 2003 die nachgelassenen Erzählungen "Sommergäste in Trouville" erschienen, merkten einige Rezensenten plötzlich auf: Da hatte sich weit abseits der üblichen Wahrnehmung etwas herausgebildet, das eigenartig war und seltsam schwer zu fassen.

Kurz nach ihrem Tod wurde Undine Gruenter plötzlich entdeckt, ja "Kult": Vor allem die vom sensiblen, frankophilen Diskurs beeinflussten Rezensentinnen mit größerem Einfluss propagierten nun diese Autorin, die lange als zu exaltiert, verspielt und kopflastig galt.

Nach dem - nicht gänzlich vollendeten und überarbeiteten - Roman "Der verschlossene Garten" erscheinen nun unter dem Titel "Pariser Libertinagen" womöglich allerletzte Prosastücke aus dem Nachlass. Es geht um die Entdeckung von Paris: erste zaghafte Schritte, erste Begegnungen, erste Beobachtungen auf den Straßen und in den Cafés; atmosphärische Details aus Metrostationen und Hotelzimmern, die den mythischen Reiz von Paris immer wieder ausmachen.

Die "Stadt der Liebe", dieses touristisch und literarisch schon längst ausgeweidete Label, wird von Undine Gruenter in kleinen Skizzen erneut in Augenschein genommen, ironisch und bewundernd gedreht und gewendet: Kennen lernen, Streit, Trennungen, Versöhnungen, die ganzen Irritationen des Alltags werden gestreift und erfasst.

Und natürlich steht jene spezifische Bohème im Mittelpunkt, die Paris früher ganz selbstverständlich ausgemacht hat und die jetzt als Zitat mehr denn je anwesend ist: eine Szene, in der jeder seine Zukunft als Schriftsteller und Künstler vor sich sieht und in den vieldeutig schillernden, bekannten Kulissen schon zu finden glaubt.

Kapriziös, detailgenau, vertrackt: so ist die Sprache Undine Gruenters, zwischen Analyse, Zärtlichkeit und Melancholie. Dies ist kein naiver Blick, sondern ein wissender, einer, der, während er sieht, auch bereits die Begriffe aufgesogen hat, mit dem die Dinge und Personen normalerweise benannt werden. Aber es steckt in dieser Prosa auch das Wissen darum, dass dieses Paris ein Paris der Sehnsucht ist: Es existiert schon nicht mehr, während es so beschrieben wird.


Undine Gruenter: Pariser Libertinagen
Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Katrin Hillgruber.
Carl Hanser Verlag, München 2005,
190 Seiten, 17,90 EUR