"Skepsis eher in Widerstand umsetzen"

Wulf Kansteiner im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 10.06.2011
In Jena diskutieren Historiker, wie die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden neu erzählt werden kann. Der in New York lehrende Wissenschaftler Wulf Kansteiner ist von den literarischen Stilmitteln eines Kollegen begeistert.
Liane von Billerbeck: "Geschichtsschreibung ist Erzählung, Erzählungen sind sprachliche Kunstprodukte, auch wenn sie sich auf reale Personen und reale Ereignisse beziehen. Deshalb ist Geschichtsschreibung Erfindung!" Das war kurz zusammengefasst und aus einem Vortrag zitiert die These des Historikers Hayden White, die er schon 1973 in seinem Buch "Metahistory" begründet hat. Diese These hat damals und auch in Deutschland erst viel später – nach 1990 – für Aufruhr unter den Historikern gesorgt, denn die verstanden White so, als würde er damit bestreiten, dass Historiker Daten, Fakten, Dokumente liefern, die historische Wahrheit also.

Wenn White Geschichtsschreibung Fiktion nennt, was bedeutet das für die Holocaustforschung? Den Holocaust erzählen, das ist die Frage, die Wissenschaftler während einer Tagung an der Jena-Universität diskutieren, Legenden der Geschichtsschreibung sind eingeladen, eben Hayden White, dazu Saul Friedländer, dessen großes Werk "Das Dritte Reich und die Juden" auch literarisch ambitioniert ist. Der Historiker Wulf Kansteiner hält in Jena den Einführungsvortrag, er lehrt an der State University of New York, hat sich mit Geschichtstheorie und kollektiver Erinnerungskultur befasst und auch vor langem die erste Konferenz organisiert, während der die beiden Historiker-Legenden ins Gespräch gekommen sind. Herr Professor Kansteiner, ich grüße Sie!

Wulf Kansteiner: Ja, Grüße an Sie auch!

von Billerbeck: Der Holocaust, die Shoah ist eine Tatsache, die eigentlich nur Unbelehrbare bestreiten. Was bedeutet in diesem Zusammenhang die These von Hayden, Geschichtsschreibung sei Erfindung?

Kansteiner: Sie haben vollkommen recht, der Holocaust ist natürlich ein Grenzfall der Geschichtsschreibung, aber gerade deswegen erhoffen wir und erhoffen viele Historiker, dass das, was man am Beispiel des Holocaust erforschen kann, was man am Beispiel des Holocaust über die Geschichtsschreibung erkennen kann, dass sich diese Erkenntnisse eben auch auf anderen Gebieten anwenden lassen. Und Hayden Whites Argument ist hier von besonderer Relevanz, weil man tatsächlich auch in der Holocaust-Geschichtsschreibung sehr deutlich sehen kann, dass einzelne Historiker, die natürlich die Fakten anerkennen und zur Faktenfindung beitragen, trotzdem dieser Geschichte ganz andere Interpretationsrichtungen, ganz andere Schwerpunkte geben.

Das fängt damit an, wo man die Geschichte des Holocaust anfangen lässt und wo man sie enden lässt. Das hat aber auch so ganz wichtigen Einfluss zum Beispiel auf die Figuren, die in den geschichtswissenschaftlichen Erzählungen auftauchen. Zum Beispiel, wenn die Historiker sich auf Überlebende besonders spezialisieren, dann ist dieser Geschichte oft schon ein versöhnliches Moment eingeschrieben, trotz der dramatischen, trotz der tragischen Umstände des Holocaust selber, weil die Überlebenden eben die Katastrophe überlebt haben! Andere Historiker mögen sich da eher auf die Figur der Opfer konzentrieren, und dann gewinnt die Geschichte eine ganz andere Färbung, eine andere Interpretation, ein doch eher verstörendes Moment.

von Billerbeck: Einer der Überlebenden ist ja bei dieser Konferenz in Jena dabei. Und wie hat er denn damals auf diese These von Hayden reagiert – Geschichtsschreibung als Erzählung, als Literatur zu bezeichnen, ich meine den Historiker Saul Friedländer?

Kansteiner: Ja, das ist richtig. Für Saul Friedländer gelten so viele Rollen. Er ist halt ein Überlebender, er ist gleichzeitig einer der wichtigsten Historiker des Holocaust, und er ist – das ist auch noch sehr wichtig! – ein Mensch, der, Sie haben das schon erwähnt, ganz viel literarisches Gespür und Geschick hat und in ganz vielen verschiedenen Genres zuhause ist. Man denke da nur an seine ganz berühmte Autobiografie. Das heißt, hier ist ein Historiker, der ganz stark literarisch sensibilisiert ist und sich sehr bewusst ist, dass Stil, dass Auswahl, dass das Schaffen von Spannungsbögen, dass all diese Momente die Geschichten – die Inhalte auch der Geschichten, das was Geschichten vermitteln – sehr stark verändern und dass all diese Dinge innerhalb der Wahlmöglichkeiten des Historikers sind. Das heißt eben, dass man faktisch ganz penibel tatsachengetreue Geschichten erzählen kann, die trotzdem sehr verschiedene Ausrichtungen, sehr verschiedene Einsichten von Geschichte vermitteln.

von Billerbeck: Wie hat sich dann diese Art, Geschichte literarisch zu beschreiben, in seinem Werk "Das Dritte Reich und die Juden" niedergeschlagen, wie macht Friedländer das?

Kansteiner: Ja, das Werk ist meiner Ansicht nach wirklich eine Ausnahmeerscheinung. Deshalb ist es so ein glücklicher Umstand, dass wir hier im Jena-Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, und dass der Direktor des Jena-Centers Norbert Frei es geschafft hat, diese führenden Holocaust-Forscher und Hayden White hierher einzuladen, denn in dem Werk passiert etwas Außergewöhnliches. Meiner Ansicht nach geht Friedländer ein Stück weit in Richtung der Dekonstruktion der wichtigsten Grundelemente geschichtswissenschaftlichen Erzählens. Und das ist Zeit, Raum und Kausalität. Und er schafft durch eine komplexe literarische erzählte Welt Widersprüche in diesen Grundparametern historiografischen Erzählens, die – das ist der Clou an seinem Schreiben – die den Leser ein Stück weit in die Gefühlswelt der Opfer des Holocaust hineinversetzen soll. Das heißt, Zeit und Ort ist so konstruiert, so unübersichtlich, so verstörend zum Teil, dass der Leser ein Echo der Ängste, der Befürchtungen der Opfer erleben kann.

von Billerbeck: Das heißt, wenn Saul Friedländer zwischen den Zeiten, Räumen und Orten hin- und herspringt, dann fühlt sich der Leser ähnlich gehetzt wie es damals möglicherweise die verfolgten Juden waren?

Kansteiner: Genau! In der Struktur, in der Erzählstruktur der ganz schnelle Wechsel von Handlungsorten, das ganz schnelle Hin- und herspringen in der Zeit – immer wieder die gleichen Zeitpunkte aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, aber auch eine Relativierung von Kausalität! Denn einerseits hat das Buch ein ganz explizites Kausalmodell des Antisemitismus, aber andererseits hat das Buch so viele Facetten, so viele Erzählungen, so viele Vignetten, die sich nicht auf dieses Kausalmodell reduzieren lassen, so dass eine Instabilität in vielen Aspekten des Buches eingeschrieben ist. Und genau diese Instabilität erinnert an, sie simuliert die Perspektive der Gefühlswelt der Opfer des Holocaust.

von Billerbeck: Nun wird ja nicht erst seit heute Geschichtsschreibung über den Holocaust betrieben. Es gab viele große Bücher von Eugen Kogon über Raul Hilberg bis eben zu Saul Friedländer. Was hat sich geändert, wie schrieb man damals – sagen wir Anfang der 60er – über den Holocaust? Wie schreibt man heute darüber?

Kansteiner: Ich würde es mal so formulieren, dass es natürlich eine Geschichte der Geschichtsschreibung gibt, in der die Stile sich etwas gewandelt haben, aber in der jetzt zum ersten Mal eine neue Alternative, ein neuer Stil zum Vorschein kommt, und das ist der Stil von Saul Friedländer. Historiker schreiben allgemein stabiler mit wenig Zweifeln. Sie sind tatsächlich eher der Aufgabe verpflichtet – und das ist hier auch ganz wichtig –, die Vergangenheit zu erklären und nicht das in den Vordergrund zu stellen, was sich nicht erklären lässt. Auch die Historiker, die Geschichtsschreiber – ein Raul Hilberg war sich seiner Erklärung sehr sicher, und das hat sein Text auch zum Ausdruck gebracht. Und hier finden wir zum ersten Mal, glaube ich, eine Gesamtdarstellung, die an ein allgemeines Publikum gerichtet ist, die sich gleichzeitig, während sie erklärt, sich selbst in Zweifel zieht. Und das schafft natürlich Instabilitäten, aber es schafft auch Freiheit! Freiheiten des Erzählens, die es vielleicht so vorher in der Disziplin der Geschichtswissenschaft nicht gegeben hat, sondern eher in anderen Bereichen des Erzählens.

von Billerbeck: Und da ist keine Furcht bei den Historikern, dass sie eben Literatur schreiben und keine Wissenschaft machen?

Kansteiner: Ja, Sie haben Recht. Gefühle, auch Furcht, Befürchtungen, spielen bei diesen Entwicklungen eine Rolle. Das ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass die Herausforderung, die Hayden White schon vor vier Jahrzehnten formuliert hat, in den Geschichtswissenschaften nur sehr zögerlich Anerkennung finden, oft abgelehnt werden und nur selten dazu geführt haben, dass Historiker versucht haben, mit anderen Erzählstilen zu experimentieren. Und deshalb ist es so wichtig, dass hier, in einem der ganz bedeutsamen Ereignissen des 20. Jahrhunderts, dem wichtigsten, vielleicht dem deprimierensten, hier eine andere Erzählung, ein anderer Erzählstil gewählt werden. Und das ist ganz sicher darauf zurückzuführen, dass diese beiden ganz wichtigen Historiker des 20. Jahrhunderts eben sich schon öfter begegnet sind – Sie haben das angesprochen, 1990 in Los Angeles –, und das die Überlegungen, die aus dieser Konferenz damals hervorgegangen sind, Eingang gefunden haben in das Werk von Saul Friedländer.

von Billerbeck: Trotzdem die Frage, was für erzählerische Strategien sind denn heute empfehlenswert? Wenn Sie die Debatten im Kopf haben, die da jetzt in Jena geführt werden, um über den Holocaust zu schreiben, ohne dass es unangemessen wird.

Kansteiner: Das ist auch eine moralische Frage. Und das ist sicherlich dem einzelnen Historiker überlassen, wie man da die Grenzen ziehen will; für Saul Friedländer heißt das zum Beispiel, dass es bei der Simulierung der Perspektive der Opfer eben nicht nur darum geht, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – das ist ein Teil. Aber für ihn heißt diese Perspektive zu wählen eben auch, dass der Historiker die Gesellschaft sensibilisiert, moralisch sensibilisiert, dass der Historiker diese Fassungslosigkeit der Opfer einsetzt und an die Leser weitergibt, damit die Fassungslosigkeit der Leser auch umgesetzt werden kann – ganz konkret – in zum Beispiel politische Handlungen, in Skepsis gegenüber totalitär gesetzten Ideologien. Der Historiker möchte ein Stück dazu beitragen, dass in Zukunft die Leser, die Bürger, vielleicht Skepsis eher in Widerstand umsetzen können, als das in den 1930er Jahren der Fall war. Es ist also eine zutiefst moralische Frage, und deshalb ist da die Subjektivität, die Reflexivität, die Einstellung des einzelnen Historikers gefragt. Man kann also da kein Rezept formulieren, was für alle gelten könnte.

von Billerbeck: Den Holocaust erzählen, ein Fragezeichen steht ja hinter diesem Satz; was heißt das für die Erinnerungspraxis, wenn nachfolgende Generationen keine Zeitzeugen mehr zur Verfügung haben, sondern nur "Geschichtsschreibung als Literatur"? Ist das der Weg, nachzuerzählen und in Teilen nachfühlen zu können, was da geschehen ist?

Kansteiner: Es ist sicherlich richtig, und ich denke mir, dass dieser Einschnitt – das Versterben der Zeitzeugen – sicherlich ganz wichtig ist. Er ist, glaube ich, ganz wichtig auch in der persönlichen Auseinandersetzung. Da ist der Zeitzeuge nicht zu ersetzen. Ich glaube, es wird einen Einschnitt geben, wenn zum Beispiel in Gedenkstätten für zukünftige Schülergenerationen kein Zeitzeuge mehr da ist, der sehr viel Glaubwürdigkeit, aber auch mit viel Gefühlskraft über diese Welt berichten kann. Andererseits gibt es natürlich Möglichkeiten, die Perspektive der Zeitzeugen jetzt in andere Formate einfließen zu lassen, in visuelle Formate, aber jetzt eben auch in geschichtswissenschaftliche Formate, und dadurch hoffe ich, dass doch eine Sensibilisierung über diesen Wendepunkt hinaus möglich ist.

Abgesehen davon ist es natürlich so, dass alle Generationen, jede Generation muss sich den Zugang zu solchen Ereignissen wieder neu erschließen und wird auch neue Formate, neue Fragestellungen aufwerfen, die wieder ganz andere Antworten, auch ganz viele andere narrative Muster finden werden. Das lässt sich sehr schwer vorhersagen. Ich bin froh, dass sich hier offensichtlich eine gewisse Flexibilität auftut, eine größere Palette des Erzählens möglich wird, die dann hoffentlich auch überdauert.

von Billerbeck: Das sagt der Historiker Wulf Kansteiner von der State University of New York, der in Jena den Einführungsvortrag hält während einer Tagung, die danach fragt, wie man den Holocaust erzählen kann. Danke Ihnen!

Kansteiner: Danke auch!
Der Autor Saul Friedländer bei der Verleihung des Preises der Buchmesse in Leipzig
Der Autor Saul Friedländer bei der Verleihung des Preises der Buchmesse in Leipzig© AP
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