Skandaltheater: Alles oder Nitsch

Von Michael Laages · 22.06.2013
Die Ära von Sebastian Hartmann am Leipziger Centraltheater endet mit toten Tieren: Der Intendant hat zum Finale der "Leipziger Festspiele" und seinem Abschied aus Leipzig den berüchtigten Hermann Nitsch eingeladen. Nitsch lässt seine Akteure mit Tierkadavern spielen, was Tierschützer entrüstet.
Der Skandal fand mit Ansage statt - wenige Tage vor dem Finale der "Leipziger Festspiele", dem Abschiedsfestival des scheidenden und überaus experimentierfreudigen Schauspielintendanten Sebastian Hartmann, brach der Sturm los über die Einladung an den österreichischen Künstler Hermann Nitsch, dessen "Festspiel" mit einem Konzert begann und mit einem Fest endete.

Dazwischen lag die umstrittene "Aktion" - seit bald 50 Jahren werden bei den Spektakeln des demnächst 75-jährigen Nitsch zuweilen Tiere geschlachtet und oft sogar verspeist. Tierschützer traten auf den Plan, die Stadt machte dem Theater rechtlich verbindliche Auflagen – so durfte etwa kein Tier sterben auf der Bühne. Natürlich hielt sich Sebastian Hartmann an alle gesetzlichen Vorgaben – und hat außerhalb des Theaters, auf der Suche nach Schlachtvieh, viel schlimmere Erfahrungen gemacht als drinnen zu erwarten waren. Und überhaupt war das Gelärme draußen vor der Tür beträchtlich – wenn auch weithin ohne Sinne und Verstand; und am Ziel vorbei sowieso.

Darauf schauen auf das, worüber sich viele so lauthals erregten, sich ein eigenes Bild manchen von dem, was so vehement abgelehnt wurde - das mochte natürlich kaum jemand von den Protestierern; ein paar Trillerpfeifen gelangten nach drinnen, einer war da, der eine Weile schrie, noch einer, der eine Art Sitzblockade versuchte und von einem kräftigen Kerl vom Sicherheitsdienst hinaus getragen wurde; unter dem Beifall derer, die sich kundig machen wollten über das Spektakel von Hermann Nitsch – und vom Protest radikaler Tierschützer nichts hielten, trotz aller Liebe zum Tier.

Hautnaher Kontakt mit toten Tier-Körpern
Was aber war nun tatsächlich zu sehen? Eine Art Stationendrama, mit den immer wieder gleichen Bildern – der Mensch, die nackte, durch Augenbinden blinde Kreatur, lebendig an Kreuze und Gerüste gebunden, wird konfrontiert mit der anderen, der toten Kreatur – fachgerecht im Schlachthof geöffnete Tiere, sorgsam ausgeweidet und kopfunter an Gerüste gehängt; die Aktionisten des Hermann Nitsch, Akteurinnen und Akteure, die von den Stammkräften im Nitsch-Team jeweils vor Ort rekrutiert werden, sind dann immer wieder damit beschäftigt, die Innereien wieder hinein zu räumen in die toten Körper.

Einmal – und das ist vielleicht die zarteste, berührendste Szene des Abends - schneidet der greise, rauschebärtige Nitsch mit dem Seziermesser ein kleines Loch in die Herz-Gegend eines Tieres; und gut zwei Dutzend Zuschauer befüllen das Tier danach aus kleinen Blut-Ampullen mit dem Überlebenssaft. In Momenten wie diesen jedenfalls nimmt Nitsch die Kreatur ernst, sehr ernst, wie Bruder und Schwester der Schöpfung – ernster jedenfalls, als das im Schlachthof möglich ist; und schon gar nicht am Drehspieß beim Gartengrillfest ...

Immer wieder nackte Menschen- im hautnahen Kontakt mit toten Tier-Körpern – wer will, mag eine Art Exorzismus darin sehen; zumal die Aktionisten in lange weiße Büßer-Umhänge gekleidet sind. Die sich natürlich extrem rot färben, wenn die mit Gewölle werfen und Blut darüber und über sich gießen; auch wenn sie einen Tomatenberg in Matsch verwandeln – all dies aber folgt strengen Regeln und, zur monumentalen Musik, Befehlen und Triller-Pfiffen wie draußen vor der Tür ...

Von acht kleinen Ritual-Plattformen führt die Prozession auf die Bühne, und zahllose Mitaktionisten, ans Kreuz gebunden, erhalten die Bluttaufe gemeinsam mit Bruder Tier ... die religiöse Bildhaftigkeit ist enorm. Und gelegentlich sollen die Menschen-Körper auch in konvulsivischem Zucken zu orgiastischer Einheit verschmelzen – da aber bleibt Nitsch halt weltenweit entfernt von der Intensität sinnlicher und oft auch blutiger Rituale wie der Santeria auf Kuba, Candomble in Brasilien oder Afrikas Voodoo-Kulten – ist halt leider alles nur Kunst bei Nitsch.
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