Skandalmedikament und Hoffnungsträger

Von Peggy Fuhrmann · 31.10.2007
"Ruhe und Schlaf zu fördern vermag Contergan. Dieses gefahrlose Medikament wird auch von empfindlichen Patienten gut vertragen ..." So warb der Pharma-Hersteller Chemie-Grünenthal vor 50 Jahren für sein neues Schlafmittel Contergan. Das Besondere: Es war das erste Schlafmittel, das auch bei starker Überdosierung nicht zum Tode führte.
Vier Jahre später musste Grünenthal das Medikament wegen verheerender Nebenwirkungen vom Markt nehmen. Weltweit wurden 10.000 Contergankinder geboren, davon etwa 4000 in Deutschland. Ihnen fehlten Arme oder Beine, viele hatten zudem schwere Organschäden. Nur wenige Jahre später wurde Contergan erneut verordnet: vorwiegend in Entwicklungsländern als Mittel gegen Lepra. Wieder kamen Hunderte von Kindern mit schweren Fehlbildungen zur Welt. Außerdem sind weitere massive Nebenwirkungen bekannt. Dennoch erlebt der Contergan-Wirkstoff Thalidomid nun in vielen Ländern ein Comeback: Weil er das Wachstum bestimmter, bereits weit fortgeschrittener Krebstumoren verzögert und bei einigen Folgeerkrankungen von Aids hilft.

Stolberg, eine Kleinstadt bei Aachen. Es ist längst dunkel, als sich vor den schmiedeeisernen Toren des Chemiewerkes Grünenthal etwa zwei Dutzend Männer und Frauen versammeln. Sie entzünden rote Grablichter, legen weiße Blumen und Kränze nieder. Das ist mühsam, denn die meisten haben keine Arme, ihre Hände sind direkt an der Schulter angewachsen. Andere sitzen im Rollstuhl, weil sie stark verkürzte oder gar keine Beine haben.

Es ist der 50. Jahrestag der Markteinführung des Schlafmittels Contergan. Mit ihrer Mahnwache vor dem Stammwerk des damaligen Herstellers Chemie-Grünenthal wollen die Menschen an den größten Arzneimittelskandal der Nachkriegsgeschichte erinnern und an die vielen Tausend Geschädigten.

Sie kamen mit schweren körperlichen Fehlbildungen zur Welt, weil ihre Mütter während der Frühschwangerschaft Contergan genommen hatten. So wie Maria:

"An der rechten Schulter zwei Finger, an der linken Schulter einen Finger, bin allgemein sehr klein, bin also bloß 1,42 Meter groß, das liegt auch daran, dass die Beine nicht so lang gewachsen sind, habe auch auf der linken Seite ne sehr starke Hüftluxation, auf der rechten Seite befindet sich gar keine Hüfte. Innerlich ist es also so, dass ich Schwierigkeiten im Nieren-Blasen-Bereich durch die Conterganschädigung hab, letztlich hab ich noch ’ne Blindheit auf dem rechten Auge, da kommt schon einiges zusammen."

"Ungiftig!" "Vollkommen unschädlich!"

Stand auf dem Beipackzettel des Schlafmittels Contergan zu lesen, das Grünenthal am 1. Oktober 1957 in den Handel brachte. Das Besondere an seinem Wirkstoff Thalidomid: Tierversuche hatten ergeben, dass selbst eine starke Überdosis nicht tödlich wirkte. Und das war neu: Ein Schlafmittel, mit dem sich niemand umbringen konnte!

Firmensprecher behaupteten, Contergan sei so harmlos wie Zuckerplätzchen. Binnen kurzem entwickelte sich das Medikament weltweit zum Verkaufsschlager. In der Bundesrepublik Deutschland war es rezeptfrei zu haben und wurde zum meist verkauften Schlafmittel.

Ein Mitarbeiter Grünenthals erklärte: "Während der Hoch-Zeit des Präparates haben wir etwa 20 Millionen Tabletten pro Monat in den Handel gebracht. Diese Zahl bezieht sich ausschließlich auf die Bundesrepublik. Und wir haben etwa einen 20-prozentigen Marktanteil in der Bundesrepublik erreicht."

Doch eineinhalb Jahre nach der Markteinführung mehrten sich Berichte, Contergan würde besonders bei älteren Menschen massive Nervenstörungen verursachen. In einem Artikel mit dem Titel "Zuckerplätzchen forte” fasste die Zeitschrift "Der Spiegel” die Beobachtungen zusammen:

"Die Patienten litten unter Unruhe und schmerzhaften Wadenkrämpfen. Sie wurden, teils am ganzen Körper, teils nur im Gesicht, von nervösen Zuckungen befallen; ihre Beine schwollen an, Hände und Füße schienen ihnen eingeschlafen zu sein. Mitunter ermüdeten die Patienten rasch beim Gehen und konnten sich nur noch mühsam aufrichten. Die Nervenstämme an Armen und Beinen waren hochgradig druckempfindlich. Einige Patienten hatten sogar Sprachstörungen und konnten sich selbst einfachste Dinge nicht mehr merken.”

Statt die Vorwürfe zu prüfen, konterte Grünenthal:

"Ein Zusammenhang zwischen Nervenschädigungen und der Einnahme von Contergan ist in keinem Fall gegeben."

Unterdessen hatte der Konzern längst eine neue Zielgruppe ins Visier genommen. Er empfahl Contergan nun ausdrücklich werdenden Müttern, die unter Schwangerschaftsübelkeit litten. Ohne je geprüft zu haben, wie das Mittel auf den Fötus wirkt.

Ein Versäumnis mit katastrophalen Folgen – die der Hamburger Kinderarzt Widukind Lenz als erster bemerkte. Im November 1961 schrieb er einen Brief an die Konzernzentrale:

"Sehr geehrte Herren. Seit etwa 1957 ist in der Bundesrepublik ein bestimmter Typ von Missbildungen in zunehmender Häufigkeit aufgetreten."

Professor Lenz war aufgefallen, dass immer mehr Kinder geboren wurden, denen Arme oder Beine fehlten und die oft zusätzlich schwere Organschäden hatten. Nachdem er die Fälle akribisch untersucht hatte, kam er zu dem Ergebnis:

"Eine sehr intensive Fahndung nach allen möglichen Faktoren, welche mit der Entstehung von Missbildungen in Zusammenhang gebracht werden kann, hat nur einen einzigen Faktor erkennen lassen, der regelmäßig in der Anamnese vorhanden war: In jedem einzelnen Fall wurde in den ersten Schwangerschaftsmonaten Contergan genommen. Ich halte es für erforderlich, dass das Medikament sofort aus dem Handel zurückgezogen wird."

Die Reaktion: Professor Lenz erhielt umgehend Besuch von der Firmenspitze. Die Herren warfen ihm "Rufmord an einem Medikament" und "geschäftsschädigendes Verhalten" vor.

Doch inzwischen hatte auch die Presse von den Untersuchungen des Kinderarztes erfahren:

"Missgeburten durch Tabletten? Alarmierender Verdacht eines Arztes gegen ein weitverbreitetes Medikament ..."

... überschrieb die "Welt am Sonntag" einen ausführlichen Artikel über die vermuteten Contergan-Schäden. Nun erst gibt Grünenthal auf.

Weltweit kommen 10.000 Kinder mit Conterganschäden zur Welt, allein in Deutschland etwa 5000. Jedes dritte Baby ist so schwer geschädigt, dass es bereits kurz nach der Geburt stirbt.

Im Dezember 1961 beginnt die Oberstaatsanwaltschaft Aachen, gegen führende Mitarbeiter der Chemie-Grünenthal zu ermitteln. Der Konzern wehrt sich mit allen Mitteln: Akten verschwinden, bevor der Staatsanwalt sie sichern kann. Außerdem verweigern die Angeklagten jede Hilfe bei der Klärung der Vorwürfe und schweigen konsequent. Sie hoffen darauf, dass die mit konkurrenzlos hohen Honoraren gewonnenen renommierten medizinischen Sachverständigen und erstklassigen Verteidiger sie vor einer Verurteilung bewahren werden.

Und so dauern die Ermittlungen sechseinhalb Jahre! Als 1968 endlich der Prozess beginnt, sind die Contergan-Kinder bereits im Schulalter. Und haben bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei finanzielle Unterstützung von Grünenthal erhalten. Um die schwer geschädigten Kinder wenigstens medizinisch zu versorgen, erhält das Gesundheitsministerium Sonderzuschüsse der Regierung von mehreren Millionen DM. Die damalige Gesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt über die Verwendung des Geldes:

Elisabeth Schwarzhaupt: "Es wird zunächst einmal verwendet zur Förderung der Forschung auf dem Gebiet der Prothesen für solche kleinen Kinder, es wird verwendet für den Ausbau von Klinikbetten, denn durch das Anwachsen der Zahl von Kindern mit schwer fehlgebildeten Gliedern sind eben sehr viel mehr Betten, sehr viel mehr Prothesen, auch mehr Hilfskräfte, auch mehr Prothesenwerkstätten nötig als bisher."

Mai 1968, Alsdorf bei Aachen. Im Casino-Saal der "Zeche Anna” beginnt der Prozess gegen acht führende Grünenthal-Mitarbeiter. Die Anklage wirft ihnen fahrlässige Körperverletzung vor, weil sie das Medikament nicht unverzüglich aus dem Verkehr zogen, nachdem Ärzte sie über die massiven Nervenschäden und später die Missbildungen informiert hatten. Außerdem hätten sie durch Fahrlässigkeit den Tod jener Säuglinge und Kleinkinder verschuldet, die an den schweren Missbildungen starben.

Es ist ein Mammutprozess: Die Anklageschrift umfasst fast 1000 Seiten, 60 Sachverständige treten auf, die meisten von der Verteidigung bestellt, um die Angeklagten zu entlasten. Denn verurteilt werden können die Grünenthal-Mitarbeiter nur, wenn das Gericht nachweist, dass eindeutig und unwiderlegbar Thalidomid die Nervenschädigungen und Missbildungen verursacht hat.

Und so setzen die Verteidiger alles daran, auch noch die unwahrscheinlichsten Möglichkeiten zu erörtern, wie die Behinderungen entstanden sein könnten. So erklärt einer der Sachverständigen, der damalige Direktor der Westfälischen Landeskinderklinik Bochum:

"Zu allen Zeiten sind Menschen geboren worden, deren körperliche Erscheinung gering oder stark vom allgemein gültigen Menschenbilde abwich, und immer haben diese Menschen Beachtung gefunden. Das lässt sich aus Zeichnungen oder Plastiken entnehmen, die bis in die Steinzeit hinreichen. Das historische Material zeigt, dass all das schon gesehen worden ist, was uns heute als ganz neue Erscheinung imponieren möchte."

Doch jene Missbildungen, die typisch für die sogenannten "Contergan-Kinder" sind, gab es nie zuvor auch nur annähernd in dieser Häufung.

Eine Strategie der Verteidiger besteht im Versuch, die Mütter für die Missbildungen verantwortlich zu machen. Die Opfer werden wie Täter verhört:

"Hatten Sie einen Abtreibungsversuch?”,"

... fragen die Grünenthal-Anwälte unter anderem. Und:

""War das missgebildet zur Welt gekommene Kind ein Wunschkind?” "Wieviel Alkohol trinken Sie?” "Rauchen Sie?” "Wie lange sitzen Sie vor dem Fernseher?” "Gab es Streit zwischen Ihnen und Ihrem Mann?”"

Schließlich spricht Professor Widukind Lenz als medizinischer Hauptsachverständiger der Anklage. Er erläutert seine Untersuchungen und zitiert die Studie eines australischen Kollegen. Dieser Arzt hatte ebenfalls festgestellt, dass sämtliche Frauen, die in der Frühschwangeschaft Contergan nahmen, Kinder mit Fehlbildungen bekamen. Schließlich berichtet Widukind Lenz noch von einer Untersuchung in den USA, bei der knapp 3000 trächtige Affen Thalidomid erhielten. Ergebnis: Jede Äffin bekam ein missgebildetes Junges. Ausnahmslos. Trotz dieser erdrückenden Beweise versuchen die Verteidiger mit allen Mitteln, Widukind Lenz zu diskreditieren.

Widukind Lenz: ""Es gab dann eine Befragung, so eine Art Kreuzverhör, das darauf abgezielt war, Punkt für Punkt meine Aussagen in Frage zustellen, zu demonstrieren, dass die Unterlagen nicht zuverlässig seien, oder dass ich nicht alles berücksichtigt hätte usw. Und das hat insgesamt - dieses Kreuzverhör, wenn ich das mal so nennen darf - ich weiß nicht, ob das juristisch so richtig ist, aber das kam mir so vor, insgesamt 45 Stunden gedauert. Eine der längsten Befragungen eines Sachverständigen in der deutschen Justizgeschichte."

Im Dezember 1970 endet der Prozess mit einem Vergleich. Der Oberstaatsanwalt erklärt zwar:

"Die Folgen der Tat sind im Bereich der Nervenschädigungen erheblich, im Bereich der Missbildungen ungewöhnlich schwerwiegend."

Aber: Die individuelle Schuld jedes einzelnen Angeklagten lasse sich nicht exakt bestimmen. Deshalb könne niemand verurteilt werden. Fazit:

"Die Staatsanwaltschaft stimmt daher der Einstellung des Verfahrens gemäß § 153 zu."

Ein Vertrag wird geschlossen, in dem sich Grünenthal verpflichtet, 100 Millionen Mark in einen Hilfsfonds zu zahlen. Die Bundesregierung legt noch einmal dieselbe Summe dazu. Aus diesem Fonds erhalten die Contergangeschädigten finanzielle Beihilfen.

Als Reaktion auf den Contergan-Skandal wurde 1971 das Arzneimittelgesetz verschärft. Und seither sind die Vorschriften noch weitaus strikter geworden. Bevor ein Medikament heute in den Handel kommt, muss es intensiv zunächst präklinisch – das heißt in der Regel durch Tierversuche - und danach klinisch geprüft werden.

Der Vorsitzende der Deutschen Arzneimittelkommission, Professor Wolf-Dieter Ludwig, erklärt:
"Bevor ein Präparat überhaupt in die klinische Prüfung kommt, muss es sehr ausgiebig toxikologisch in präklinischen Untersuchungen getestet werden, und in den klinischen Studien hat man sehr strikte Vorgaben, dass unerwünschte Arzneimittelwirkungen natürlich sorgfältigst dokumentiert, registriert und dann auch Schlussfolgerungen gezogen werden, ob man überhaupt mit der klinischen Prüfung weiter machen kann. Ich glaube, wenn diese Vorgaben damals exisiert hätten, hätte man sehr viel früher die katastrophalen teratogenen Wirkungen gesehen."

Die heutigen Gesetze stellen sicher, dass häufig auftretende Nebenwirkungen eines Medikamentes vor einer Markteinführung entdeckt werden. Anders aber sieht es mit seltenen Nebenwirkungen aus:

Wolf-Dieter Ludwig: "Wir sehen ja an verschiedenen Präparaten, die vom Markt gezogen wurden, dass durchaus schwerwiegende Nebenwirkungen, Herzinfarkte, schwere Leberschädigungen immer wieder auftreten können, auch bei Präparaten, die an einer überschaubar kleinen Zahl von Probanden in klinischen Prüfungen getestet wurden und dann erst beim Einsatz bei mehreren Tausenden oder Zehntausenden von Patienten auffallen. Das heißt, seltene unerwünschte Arzneimittelwirkungen werden Sie nie verhindern können, entscheidend ist, dass nach Zulassung eine sehr gründliche Marktüberwachung stattfindet hinsichtlich dieser zum Teil schwerwiegenden Nebenwirkungen."
Die Contergan-Katastrophe war einer der größten Arzneimittelskandale weltweit. Dennoch gab es triftige Gründe, das Medikament nur wenige Jahre später erneut zu verordnen. Das Comeback begann mit einem Zufall:

Mitte der 60er Jahre gab der israelische Arzt Jacob Sheskin einem Lepra-Kranken Contergan aus Restbeständen, der wegen unerträglicher Schmerzen nicht mehr schlafen konnte. Darauf hin schlief der Patient nicht nur gut, auch seine durch Lepra verursachten massiven Haut-Entzündungen besserten sich deutlich. Tests bei weiteren Lepra-Kranken bestätigten diese Wirkung.

Darauf hin empfahl die WHO den Contergan-Wirkstoff Thalidomid viele Jahre als Medikament gegen Lepra. Und Grünenthal gab für diesen Zweck seine Restbestände kostenlos an die betroffenen Länder ab. Doch wiederum kamen in einigen Entwicklungsländern etwa 1000 Kinder mit schweren Missbildungen zur Welt.
Kurt Eger, Professor für pharmazeutische Chemie an der Universität Leipzig, erklärt:

"Die Patienten wurden nicht ausreichend aufgeklärt, meistens waren auch die Beipackzettel in englischer Sprache oder zum Beispiel war da so ein Piktogramm, schwangere Frau und ein Strich durch, und das haben die so interpretiert, wirkt verhütend. Und da sind dann diese fatalen Dinge passiert."

Dennoch wird Thalidomid weiterhin als Lepra-Medikament eingesetzt. Hersteller ist nun ein anderes Pharma-Unternehmen, und die Auflagen für die Verschreibung sind äußerst streng: Patienten werden in ihrer jeweiligen Sprache über die Risiken des Medikamentes aufgeklärt, mündlich und schriftlich. Frauen müssen sich verpflichten, parallel zwei Methoden der Empfängnisverhütung zu nutzen und zusätzlich regelmäßig Schwangerschaftstests durchführen.

Inzwischen verordnen Ärzte Thalidomid auch bei weiteren Krankheiten. Denn der Wirkstoff heilt Geschwüre in Mund und Rachen, an denen Aidspatienten im Spätstadium oft leiden. Außerdem fanden Forscher heraus, dass makabrer Weise der gleiche Wirkmechanismus, der beim Ungeborenen Missbildungen hervor ruft, auch bösartige Tumoren am Wachstum hindert. Thalidomid stoppt die Bildung von neuen Blutgefäßen und hemmt damit die Vermehrung von Krebszellen, die auf Blutzufuhr angewiesen sind.

Kurt Eger: "Das ist natürlich faszinierend. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ist das eine Substanz für einen Pharmakologen, die ist grausam. Sie kann viel zu viel und man weiß gar nicht so richtig, wo kommt der Effekt her."

Kurt Eger ist zutiefst beeindruckt von diesen heilenden Wirkungen des Skandal-Medikaments, die nach der Contergankatastrophe allmählich entdeckt wurden. Er begann vor 20 Jahren, Thalidomid zu erforschen. Die fruchtschädigende – teratogene – Wirkung schreckte ihn nicht ab.

Kurt Eger: "Das hat mich fasziniert, heraus zu bekommen, was ist die Ursache. Weil in dem Moment wo ich weiß, welcher Molekülteil für diese Teratogenität verantwortlich ist, kann man ja versuchen, diesen Molekülteil zu verändern."

Doch bis heute ist es weder ihm noch anderen Chemikern gelungen, die Struktur des Wirkstoffes so zu verändern, dass er Embryonen nicht mehr schädigt.
Kurt Eger: "Wir sind derzeit in Deutschland die einzigen, die am Thalidomid chemisch noch was verändern, also arbeiten. Und es gibt noch Arbeitsgruppen in USA, die was tun, und in Japan. Manchmal noch in Frankreich, man kann sagen, diese drei Arbeitsgruppen arbeiten daran."

In der Berliner Charité, Klinik für Onkologie und Hämatologie. Über die hellen langen Flure eilen einige Krankenschwestern. Gedämpfte Atmosphäre. Hier liegen schwer erkrankte Krebspatienten, manche ohne jede Aussicht auf Heilung. Viele von ihnen hoffen auf Thalidomid.

Patientenstudien haben gezeigt, dass der Wirkstoff bei Hirntumoren und bestimmten Formen der Leukämie eine weitere Ausbreitung des Krebses verhindern kann. Allerdings waren bisher zu wenige Patienten an diesen Studien beteiligt, um die Wirkung abschließend zu beurteilen. Eindeutig nachgewiesen aber ist, dass Thalidomid Kranken hilft, die an einem Multiplen Myelom leiden - einer bestimmten Form des Knochenmark-Krebses.

Der Klinikleiter Professor Wolf-Dieter Ludwig erklärt:

"Es ist sicher so, dass Thalidomid weder eine Wunderdroge ist noch die angesprochenen Tumorerkrankungen heilen kann. Was Thalidomid bewirkt, ist, dass die Krankheit besser anspricht als mit den dann zuvor eingesetzten Arzneimitteln, dadurch verbessert sich möglicherweise die Lebensqualität des Patienten und es gibt zumindest beim multiplen Myelom auch einige Hinweise, dass vielleicht das Gesamtüberleben der Patienten etwas verlängert werden kann."

Die gravierenden Nebenwirkungen des Medikamentes aber sind geblieben: Es kann heftige Nervenstörungen verursachen und wirkt teratogen – schädigt also Embryonen.

Thalidomid ist heute in Australien, Neuseeland, den USA, Israel und der Türkei zugelassen. In Deutschland darf der Wirkstoff ausschließlich Krebskranken verordnet werden, bei denen andere Medikamente nicht mehr wirken und deren Leben bedroht ist.

Doch längst nicht jeder Kranke, dem Thalidomid helfen könnte, erhält bei uns das Präparat. Weil der Wirkstoff nicht allgemein zugelassen ist, halten sich Ärzte mit der Verordnung zurück, erklärt der Mediziner Wolf-Dieter Ludwig:

"Die Vorsicht ist im Wesentlichen derzeit begründet mit der zum Teil fehlenden Erstattung. Thalidomid ist ein relativ teures Präparat, und wenn natürlich der Patient das aus eigener Tasche bezahlen muss, dann ist der Arzt sehr zurückhaltend, es zu verordnen. Man muss es importieren aus einem Land, wo es zugelassen ist, wie Australien, und dieser Import bedeutet, dass die Krankenkasse in Deutschland zum Teil zumindest, einige haben das auch praktiziert, die Erstattung verweigern kann."

"Hallo zusammen!
Leider sind viele Ärzte dem Thalidomid gegenüber sehr wenig aufgeschlossen wegen dem einstigen Contergan-Skandal und weil sie sich der Wirkung nicht so recht bewusst sind.”


Schreibt ein Internetnutzer in einem Krebsforum. Dort ist Thalidomid ein wichtiges Thema. Viele betrachten das Medikament als letzte Rettung, manche erklären es zur Wunderdroge.

Weil Thalidomid legal so schwer zu bekommen ist, hat sich sogar ein Schwarzmarkt für das Medikament entwickelt.

"Bei meiner Schwiegermutter wurde Anfang September Leberkrebs festgestellt. Der Arzt sagte ihr, dass er leider nichts mehr machen kann. Wir würden es gerne mit Thalidomid versuchen. Leider wissen wir aber nicht, wie man da ran kommt. In den Apotheken ist es ja nicht zu haben. Wir wären sehr dankbar, wenn uns jemand helfen könnte.”"

Demnächst könnte es für manche Patienten einfacher sein, Thalidomid zu bekommen. Denn:

Wolf-Dieter Ludwig: ""Es gibt konkret einen Zulassungsantrag bei der europäischen Arzneimittelbehörde, der EMEA in London, für die Indikation primäre Therapie des multiplen Myeloms. Ich persönlich bin eigentlich recht sicher, dass Thalidomid für die primäre Therapie so wie auch in den USA bereits im Jahre 2006, zugelassen wird, vermutlich 2008."

"Der Bundesverband Contergangeschädigter möchte im Grunde die Zulassung von Thalidomid und somit den offiziellen Wiedereinsatz von thalidomidhaltigen Präparaten verhindern. Der Gedanke, das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan kommt in abgewandelter Form wieder auf den Markt, löst geradezu traumatische Reaktionen aus. Vielschichtige, im tiefsten Unterbewusstsein verschüttete Erinnerungen an schlimmste menschliche Szenarien brechen los.”

Kommentierten Contergangeschädigte den Zulassungsantrag in einer Presse-Erklärung. Und fügten hinzu:

"Trotz dieser tiefgreifenden emotionalen Belastungen, maßt sich der Bundesverband aber auch nicht die Verantwortung dafür an, dass Patienten mit schwersten Krankheiten, bei deren Behandlung etablierte Medikamente erfolglos blieben, die Möglichkeit einer erfolgversprechenden Therapie mit Thalidomid versagt bleibt.”

Wolf-Dieter Ludwig: "Ich denke, ein rationaler Umgang mit diesem sehr interessanten Wirkstoff, der ja eine Vielzahl von Wirkungen hat, die wir eigentlich in den letzten Jahren erst verstanden haben, ist in jedem Fall möglich. Und ich denke, eine irrationale Angst vor dem Einsatz, wenn es denn hilft bei zum Beispiel Knochenmarkkrebs, ist unbegründet."

Doch das Mittel ist so gefährlich wie früher. Patienten dürfen es nur unter sorgfältiger ärztlicher Überwachung einnehmen. Weil Details der Wirkmechanismen noch immer unbekannt sind, kann Thalidomid auch heute für böse Überraschungen sorgen:

Anfang 2006 begannen Mediziner der Charité Berlin, im Rahmen einer Studie zu untersuchen, ob Thalidomid ALS-Patienten helfen kann. ALS ist eine unheilbare Erkrankung des Zentralnervensystems, an der die meisten Patienten nach wenigen Jahren sterben. Die Aufregung war groß, als im Juli 2006 eine Frau einen Herz-Kreislauf-Zusammenbruch erlitt. Sie konnte gerettet werden. Doch bereits zuvor war ein Patient plötzlich aus ungeklärter Ursache gestorben. War Thalidomid Schuld an den dramatischen Zwischenfällen? Weil das niemand ausschließen kann, wurde die Studie unverzüglich abgebrochen.

Ein besser verträgliches Nachfolgepräparat wird also dringend gesucht. Und seit kurzem ist eine Neuentwicklung auf dem Markt, die genau das verspricht. Doch Wolf-Dieter Ludwig als Vorsitzender der Deutschen Arzneimittelkommission äußert sich skeptisch. Was unterscheidet das neue Lenalidomid vom alten Thalidomid?

Wolf-Dieter Ludwig: "Zum einen der Preis. Er ist deutlich höher. Zum zweiten ist es so, dass diese Substanz für sich wirbt, dass sie deutlich weniger Nervenschäden auslöst als das Thalidomid, ich denke, bevor wir das abschließend beurteilen können, brauchen wir sehr viel mehr Ergebnisse aus der Behandlung von Patienten, am besten natürlich in kontrollierten klinischen Studien. Wir wissen, dass eine Nebenwirkung, die Thalidomid nicht hat, nämlich die Verminderung von Blutzellen, unter Lenalidomid relativ häufig auftritt."

Vor 50 Jahren kam Contergan auf den Markt. Fast die Hälfte der Opfer ist bereits an den Folgen der schweren Behinderungen gestorben. In Deutschland leben heute noch etwa 2700 Contergangeschädigte. Sie leiden inzwischen nicht nur unter den angeborenen Behinderungen, sondern zusätzlich an Folgeschäden.

So wie Sigrid Kwella vom Berliner Landesverband der Contergangeschädigten. Sie hat keine Arme, ihre Finger sitzen direkt an den Schultern.

Sigrid Kwella: "Es war nicht abzusehen, dass wir dadurch, dass wir vieles mit den Füßen machen oder durch kurze Arme ständig der Rücken belastet ist, weil wir eine viel höhere Rückgratwanderung immer nach vorne machen müssen, oder auch nur ein Glas heben, sehr auf die Schultern, auf den Rücken geht, so dass es ein Problem wird, weil die Pflege immer mehr zunimmt. Weil außer der Behinderung die Folgeschäden eigentlich im Moment das ist, was uns mehr hindert, im Alltag zurecht zu kommen, wir einfach mit Schmerzen leben die ganze Zeit."

Sigrid Kwella kann sich wie die meisten Contergangeschädigten aufgrund der Jahrzehnte langen Fehlbelastung von Wirbelsäule und Gelenken nur noch eingeschränkt bewegen und leidet oft unter Schmerzen.

Contergan-Opfer erhalten Renten aus dem Stiftungs-Fonds, der 1971 mit dem Geld von Grünenthal und der Bundesregierung eingerichtet wurde. Die Höhe richtet sich nach dem Grad der Behinderung und liegt bei maximal 545 Euro. Das ist ohnedies wenig. Erhöhte Kosten durch Folgeschäden sind dabei überhaupt nicht berücksichtigt.

Sigrid Kwella: "Das ist nicht abgedeckt. Nein. Weil die Eltern damals unterschreiben mussten, dass an die Grünenthal-Stiftung keine weitere Forderung mehr gestellt wird."

Ein Schuldeingeständnis des Arzneimittel-Konzerns hat es nie gegeben. In seiner aktuellen Selbstdarstellung im Internet schreibt Grünenthal, die Folgen der Einnahme von Contergan seien "nicht absehbar” gewesen. Und fährt fort:

""Am 18. Dezember 1970 wurde das Strafverfahren wegen geringer Schuld eingestellt. Grünenthal zahlte über 100 Millionen DM plus 10 Millionen Zinsen. Diese Summe lag über dem Betrag, den neutrale Sachverständige damals als maximale wirtschaftliche Belastung für Grünenthal ansahen.”"

Grünenthal produziert heute Schmerztabletten und Verhütungsmittel und hatte 2006 einen Umsatz von über 800 Millionen Euro. Aus dem Familienunternehmen ist ein international agierender Konzern mit 27 Tochtergesellschaften in verschiedenen Ländern geworden.

Vor den Toren des Grünenthal-Stammwerkes in Stolberg. Die Mahnwache hat aus roten Grablichtern den Schriftzug "Contergan” gebildet. Im Kerzenschein kauern die Männer und Frauen auf dem Vorplatz. Viele tragen weiße T-Shirts mit einem grünen Schriftzug. Darauf steht: "Ich bin ein Produkt von Grünenthal.” Die kleine Gruppe setzt sich dafür ein, dass der frühere Contergan-Produzent auch die durch Langzeitschäden entstandenen höheren Kosten – etwa durch größeren Pflegeaufwand - trägt. Aussicht auf Erfolg hat sie kaum.