Skandalisierung als Masche

Rezensiert von Rainer Braun · 12.09.2005
Das Fernsehen scheint immer häufiger auf fragwürdige Events zu setzen, die es selbst arrangiert. Und es bezieht sich am liebsten auf sich selbst und neigt zur permanenten Skandalisierung. Aufklärung in dieser Hinsicht verspricht nun ein Sammelband mit dem pointierten Titel "TV Skandale".
Zu einem veritablen Skandalon dürfte dieser in vieler Hinsicht aufschlussreiche und lesenswerte Band kaum werden. Dazu bedürfte es - wie die Autoren auch selbst anmerken - vor allem der breiten medialen Aufmerksamkeit. Das Fernsehen selbst, auch das öffentlich-rechtliche, tut sich bis heute notorisch schwer, Medienkritik in eigener Sache aufzugreifen oder gar zu popularisieren. Das würde bedeuten, dass sich ein Medium selbst in Frage stellt, das gerade den Anspruch erhebt und permanent Illusionen nährt, die Wirklichkeit abzubilden.

Sind Tabu-Verletzungen und die zufälligen oder gezielten Regelverstöße nicht ständige Begleiter des Fernsehens?

-Ja, sie sind diesem streng normativen Medium, das sich über den Regelbetrieb und den unaufhörlichen Strom der Bilder und Töne definiert, gewissermaßen immanent. Das zeigt sich auch in den Einzelbeiträgen dieses Sammelbandes.

Nicht von ungefähr etwa überschreibt Jana Scherer ihre Analyse von "Wetten dass ...?" mit dem Titel "Ein Fest mit Störung". Anschaulich zeigt sie, warum die aufreizende Kleidung von Brigitte Nielsen, Cher oder zuletzt auch Spekulationen über die fehlende Unterwäsche bei Sarah Connor ein Dauer-Aufreger in der ZDF-Familien-Show sein konnten.

Zum einen bedarf es mit Blick auf die Skandalisierung solcher Vorgänge fraglos anderer Massenmedien wie der Boulevardpresse oder ähnlichen Formaten im Fernsehen. Andererseits sind diese Versuche der "Skandalisierung" selbstverständlich immer auch im gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Wenn sich eine Gesellschaft darüber verständigen will, was moralisch oder sittlich vielleicht noch oder schon wieder fragwürdig ist, wird sie ihre Aufmerksamkeit vor allem auf Programme mit hoher Resonanz richten.

Interessant ist in "TV Skandale" deshalb nicht zuletzt der Blick auf die historische Perspektive. So erinnert Oliver Fahle etwa an die Kontroversen um "Wünsch Dir was" Anfang der 70er. Überzeugend zeichnet er nach, warum die von Dietmar Schönherr und Vivi Bach moderierte Show in mancher Hinsicht für ihre Zeit "zu modern" war und schließlich scheiterte.

Erhellend ist hier auch der Beitrag von Stephan Borg. Er untersucht die Darstellung von Homosexualität in Fernsehfilmen und Serien im öffentlich-rechtlichen Fernsehen seit Mitte der 70er Jahre und blendet auch die heftigen Reaktionen des Bayerischen Rundfunks nicht aus. Es war kein Einzelfall, dass sich der BR kurzerhand aus dem ARD-Programm ausblendete, als das Erste Wolfgang Petersens Film "Die Konsequenz" ausstrahlte.

Beide Artikel unterstreichen den affirmativen Charakter des Fernsehens, der bevorzugt von der Boulevard-Presse eingeklagt wird, die sich gern als Hüter von Moral und Anstand der kleinen Leute geriert.

Das führt zur Frage, inwieweit die Mechanismen dieser Skandalisierung offen gelegt und erklärt werden. Bekanntlich ist die Rolle des selbsternannten Hüters von Sitte und Anstand nur die eine Seite des Spiels zwischen Printmedien und Fernsehen. Schließlich verspricht sich die Boulevard-Presse von der Dauerempörung und permanenten Skandalisierung sicher auch höhere Auflagen.

Das ist fraglos richtig und verdiente eigentlich auch einer näheren Betrachtung, die hier leider zu kurz kommt. Die Stärken des Bandes liegen dort, wo anhand konkreter Beispiele gezeigt wird, wie sich im Lauf der Zeit die Wahrnehmung und auch die Moralvorstellungen gewandelt haben. Das lässt sich nicht zuletzt an der Musik festmachen. So erregten etwa die Hüftschwünge eines Elvis Presley in den 50ern einen Teil der Öffentlichkeit in den USA ähnlich wie heute die rabiaten Texte und Posen von Eminem.

Aufschlussreich ist die Lektüre aber auch dort, wo die Herausgeber den
Begriff "TV Skandal" näher erklären. Schließlich gibt es die Skandale, die das Fernsehen selbst produziert, indem es bewusst Grenzen überschreitet - wenn wir etwa an "Big Brother" denken. Aber speziell das Boulevard-Fernsehen empört sich auch gern über die Eskapaden eines Dieter Bohlen oder Boris Becker oder von Prominenten, die nur deshalb - wie Daniel Kübelböck - prominent sind, weil sie einem Millionenpublikum am Bildschirm bekannt sind

Leerstellen bleiben hingegen in der Analyse der Skandalisierung, den ökonomischen und auch politischen Interessen, aber auch dem Zusammenspiel der Medien bei der Aufbereitung von vermeintlichen Skandalen. Das ist umso überraschender, da gerade die heftigen Debatten um "Big Brother" oder "Deutschland sucht den Superstar" ohne die Boulevard-Presse anders verlaufen wären. So empörte sich die BILD-Zeitung fast täglich über das "Ekel-Fernsehen" in "Ich bin ein Superstar - holt mich hier raus" und weckte enormes Interesse.
Diese Mechanismen näher zu beleuchten, wäre fraglos angebracht gewesen. Und etwas mehr Engagement wäre auch der Redaktion und dem Lektorat des Bandes zu wünschen gewesen. Manche Doppelungen und fehlende Verweise auf die übrigen Beiträge erschweren die Lektüre bisweilen unnötig.

Welchen Stellenwert nehmen in "TV Skandale" die gezielten Fälschungen von Michael Born ein, der für "stern tv" arbeitete?

Immerhin fast ein Viertel des Umfangs sind ihm und dem "Borderline-Journalisten" Tom Kummer gewidmet, der sich mit erfundenen Interviews mit Hollywood-Stars zweifelhaften Ruhm erwarb. Die Qualität der einzelnen Beiträge ist aber höchst unterschiedlich, das gilt vor allem für einzelne Wertungen. Wenn Matthias Bickenbach in seinem Beitrag Herrn Born wie Tom Kummer zu "Medientheoretikern" stilisiert und dabei überwiegend auf die literarischen Bekenntnisse beider abstellt, ist das nicht nur mit Blick auf seriöse Quellenkritik zumindest heikel.

Nicht minder bedenklich ist, dass für den Autor die Grenzen zwischen seriösem TV-Journalismus, der Quellen nachweist, und Praktiken im kommerziellen Fernsehen fließend sind. So wäre es etwa im öffentlich-rechtlichen Fernsehen schwerer vorstellbar, dass Bilder ohne die Kennung der Quelle ins Bild rücken. Ein ehemaliger Redaktionsleiter von "stern tv" hat damit weniger Probleme, wie er in einem Interview einräumt.

Abenteuerlich ist auch die Begründung von Kummer und Born für ihre sehr eigenwillige Interpretation von Journalismus. Sie sehen den ersten Golfkrieg als Sündenfall des Fernsehens, weil eine unabhängige Berichterstattung dann nicht mehr möglich gewesen sein soll.

Das ist natürlich Unfug, wie Holger Thomson deutlich macht. Sein Beitrag "Fälschung und Qualitätssicherung im Journalismus" führt aus, dass schon Mark Twain und auch Edgar Allan Poe erfundene Reportagen in Zeitungen publizierten. Dass in Kriegszeiten als erstes die Wahrheit auf der Strecke bleibt, wissen wir im Übrigen nicht erst seit dem Vietnam-Krieg.

Unterm Strich verdient sich dieser Sammelband gleichwohl das Prädikat "empfehlenswert". Zum einen, weil hierzulande erstmals "TV Skandale" systematischer beleuchtet werden und somit eine Lücke der Fernsehforschung geschlossen wird. Zum anderen bietet dieser Reader insgesamt einen facettenreichen Überblick auf die Problematik, der die Lektüre lohnt.

Claudia Gerhards, Stephan Borg, Bettina Lambert (Hrsg): TV-Skandale UVK Verlagsgesellschaft Konstanz,
408 Seiten 34 Euro