Skandal um Gaskammer-Imitation

Ein Kommentar von Arno Orzessek |
Der Künstler Santiago Serra setzt auf die entrüsteten Reaktionen seines Publikums, die Aufregung ist sozusagen Teil der Kunst, so auch bei seinem jüngsten Projekt: Über sechs Gummischläuche hat Serra die Abgase von Autos in die ehemalige Synagoge in Pulheim eingeleitet - das Publikum konnte das Gebäude nur mit Gasmasken betreten. Die Aktion war als Protest gegen die "Banalisierung des Holocaust" gedacht; doch die Opfer des Holocaust fühlen sich verunglimpft.
Du musst es in den Eingeweiden spüren - es muss auf deiner Haut brennen - es muss dir buchstäblich den Atem nehmen - es muss dich tiefer und gründlicher packen als das ganze Gedankengewäsch: So lautet der Imperativ der Unmittelbarkeit in der Kunst, den nun Santiago Sierra in Pulheim mit Blick auf den Holocaust aufs radikalste variiert hat.

Wenn alles gesagt ist, und schon tausendmal; wenn sich die Reflexionsschleifen ins Bodenlose schrauben; wenn die Fraktionen des Für und Wider von dieser oder jener elaborierten Erinnerungsform sich bis zum Überdruss beharkt haben, aber immer noch weitermachen, denn Weitermachen ist ihr Geschäft, dann soll der geschockte Körper den Maßstab geben, dann soll der Körper die Wahrheit fühlen, der Körper als letzte Instanz des Sinns: Das ungefähr ist Sierras Versuchsaufbau.

Wenn man der heiklen Gas-Aktion des Provokateurs Vorschuss gewährt, könnte man sie als Probehandeln bezeichnen - als einen punktuellen Test darauf, ob sich mehr Bewusstsein oder das richtige Bewusstsein für die Zyklon-B-Duschen von Auschwitz erwirken lässt, indem man im Jahr 2006 experimentierfreudigen Menschen den Aufenthalt in einer real vergasten Ex-Synagoge ermöglicht.

Wie man hört, waren einige Besucher sehr ergriffen. Manche haben geweint und vermutlich haben sich alle, die mit ihren Atemschutzmasken klar gekommen sind und nicht an die eigene Lebensgefahr denken mussten, Gedanken über den millionenfachen Tod in den Gaskammern gemacht - wir nehmen an und hoffen, nicht zum ersten Mal.

Aber ist damit etwas gegen die Banalisierung der Holocaust-Erinnerung getan, wie der Künstler als seine Intention kundtat? Und welche Banalisierung ist überhaupt gemeint?

Eines kann Sierra, der sich signifikant oft über den Krawall an der Tabufront ins Gespräch bringt, nicht gut behaupten: Dass man näher an den Opfern von Auschwitz ist, wenn man sich in Pulheim den Gas-Thrill verschafft und den Körper in Angsthormonen badet. Wäre das so, könnte man auch die Luft anhalten bis zur drohenden Erstickung, und dann in Schmerzen gedenken.

Der Gas-Thrill, wenn er etwas anderes ist als bloße Provokation, entlässt die Menschen mit einer kurzfristig gesteigerten Wahrnehmung in ihren Alltag. Was sie in den Autoabgasen erleben, ist bei aller strategischen Verstörung ein sinnhaltiges, konzises, pädagogisch wertvolles Geschehen - oder soll es zumindest sein.

Die Gaskammern aber hatten keinen Sinn, sie hatten nichts Konzises, nichts Pädagogisches und nichts Wertvolles - sie hatten vor allem kein eingebautes Happyend. Was in ihnen erlebt wurde, war mehr als der Vergiftungs- und Erstickungstod, den Sierra in Pulheim zum Nachempfinden empfiehlt - denn die Sterbenden waren eben nicht nur sterbende Körper, wie sie auch sterbende Tiere haben.

Die Kritik auf Sierras Kunstaktion kam so schnell und gewaltig, dass die Stadt Pulheim schon heute Nachmittag die Aussetzung bekannt gab. Und obwohl die Argumente der Kritiker die immer gleichen sind - hier ist ihnen zu folgen.

Sierra hat das Unmögliche versucht: Er wollte den Nachgeborenen einen Zugang zur Gaskammererfahrung der Opfer verschaffen. Er hat dabei die gedankliche Mühe gescheut und Mittel gewählt, die Routine in Skandalisierung beweisen.

Es ist gut, dass Sierra nun nach Deutschland kommt, um über die Sache zu streiten. Der Schwarze Peter der Banalisierung, den er laut Nachrichtenlage den anderen zugeschoben hat, liegt vorläufig bei ihm.