Sittenbild der Nach-Thatcher-Ära

Von Verena Herb |
Die englische Krimiautorin Ruth Rendell schreibt unter dem Pseudonym Barbara Vine und ist eine Expertin für seelische Abgründe. 1930 wurde sie in London geboren. Ihr neuer Roman heißt "Das Geburtstagsgeschenk". Darin schenkt ein Machtmensch, Draufgänger und Politiker seiner Geliebten ein riskantes Geschenk, das seine Karriere und sein Leben zu zerstören droht. In Hamburg hat sie ihr Buch vorgestellt.
Man sieht Ihr das Alter nicht an – der britischen Queen of Crime, der Königin der Kriminalromane. Mit blonder Kurzhaarfrisur und dunklem Hosenanzug macht Ruth Rendell es sich bequem auf der Bühne, während Tim Grobe, Ensemblemitglied des Hamburger Schauspielhauses, Passagen aus ihrem Buch vorliest:

"In dem Artikel, den Iris und ich lasen, hieß es, die Polizei gehe von einer versuchten Entführung aus. Das Opfer sei Hebe Furnal, 28, wohnhaft in West-London. Der Wagen sei mit einem 40Tonner zusammengestoßen, Hebe Furnal sei gefesselt und geknebelt gewesen. Die beiden Männer hätten Kapuzenjacken getragen, behauptete die Zeitung."

"Das Geburtstagsgeschenk" heißt ihr neuestes Buch – veröffentlicht unter ihrem Pseudonym Barbara Vine. Seit 1986 schreibt sie als "Barbara Vine" Psychothriller im Gewand raffinierter Gesellschaftsromane.

"Das Geburtstagsgeschenk" liest sich als Sittenbild und ausgefeiltes Soziogramm der 90er-Jahre – der Nach-Thatcher-Ära: Ivor Tesham, Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium. Zu Beginn der Lesung wird Ivor Tesham vorgestellt – Ruth Rendell liest, in der Person des Ich-Erzählers, Teshams Schwager Robin Delgado, und stellt den Protagonisten so vor:

"Um Ivor bekannt zu machen – Sie mögen sich wahrscheinlich nicht mehr daran erinnern, als er Minister in John Mayors Regierung war ..."

Ivor Tesham ist ein Member of Parliament, ein Mitglied des Unterhauses, mit einer gewissen Leidenschaft. Er trifft sich mit seiner jugendlichen Geliebten Hebe – die selbstredend verheiratet ist - regelmäßig zu SM-Abenteuern – im Buch geschildert vom Ich-Erzähler:
"Zwei Menschen mit den gleichen Vorlieben, denselben ungewöhnlichen Sehnsüchten. Denselben atemlosen Verlangen. Liebe – ich glaube kaum."

Pünktlich zu ihrem 28. Geburtstag will er sie mit einem pikanten Geschenk überraschen: einer vom ihm inszenierten Entführung. Ein Vorspiel der besonderen Art. Aber der Wagen, der sie zu ihm bringen soll, verunglückt. Die Geliebte stirbt. Ivor Teshams größte Sorge: Die Angst vor Entdeckung. Das Spiel des sexbesessenen, von nun an um seine Karriere bangenden Politikers gerät außer Kontrolle, als der Zufall sich einmischt.

Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler bezeichnete Ruth Rendell einst als "gewitzte Architektin familiärer Gefühlslabyrinthe" – dort forscht sie nach den Beweggründen psychopatischer Schurken und solcher, die zufällig in Unheil verstrickt wurden.

"Nichts als der Zufall bestimmt unser Leben", sagte Barbara Vine einst. Ob es Zufall ist, dass sie sich in ihrem neuesten Roman in das Umfeld der Politik begibt? Eine konkrete Person hatte sie bei Ivor Tesham jedoch nicht im Sinn:

"Das können mehrere verschiedene Menschen sein. Und ich glaube, in diesem Fall ist es auch zutreffend. Aber ich nehme nie nur eine Person als Vorlage."

Ruth Rendell weiß, wie es in der Welt der Politik zugeht: 1997 wurde sie auf Vorschlag von Tony Blair geadelt, seitdem sitzt sie als sogenannte "Working Peer”, als Baroness Rendell, für die Labour Partei im House of Lords. Im Laufe des Buchs wird geschildert, dass die Skandale von Labour und den Liberalen meist mit Korruption zu tun haben – die Skandale der Konservativen hatten meist mit Sex zu tun, damals zu Beginn der 90er. Doch heute sei das nicht mehr so, so die Britin:

"Das kann daran liegen, dass die Parteien näher zusammengerückt sind, auch inhaltlich. Die großen Unterschiede, die Demarkationslinien zwischen Labour und den Conservatives gibt es in dem Sinne nicht mehr."

Rendell schrieb nicht immer als Barbara Vine. Ihr erster Roman war eine klassische Kriminalgeschichte um den Chief-Inspector Reginald Wexford. Seit 1964 löst Wexford Fälle im fiktiven Ort Kingsmarkham – bis sich Ruth Rendell 1986 mit dem Pseudonym Barbara Vine und dem Roman "Die im Dunkeln sieht man doch" ein neues Arbeitsfeld eröffnete. Ob sie sich jemals mit einem Charakter besonders solidarisierte? Nein, sagt sie voller Überzeugung:

"Das sind Charaktere, die ich erfunden habe. Ich wüsste nicht, welchen Effekt das hätte, wenn ich auch noch anfangen würde, einen Charakter zu hassen oder zu lieben. Das wäre sehr komisch. Ich kann mir das nicht vorstellen."

Julian Symons, ein Freund und Kollege Ruth Rendells sagte einst: in ihr stecken mehrere Schriftstellerinnen. Und Leser, die Bücher sowohl von Rendell als auch von Vine kennen meinen, den Unterschied genau herauszulesen. Indes behauptet die Autorin, zwischen den beiden Schriftstellerpersönlichkeiten nicht unterscheiden zu können und rein aus Gefühl zu entscheiden, ob sie als Ruth Rendell den Chief Inspector Wexford ermittelt lässt, oder einen Roman ohne ihren sanftmütigen Helden schreibt – aber immer noch als Ms. Rendell – oder als Barbara Vine noch dichter an die sozialen und psychischen Befindlichkeiten der Menschen heranrückt.

Mehr als 60 Bücher hat die 79-Jährige bis heute geschrieben – und ans Aufhören scheint sie nicht zu denken. Und sie erinnere sich an jedes einzelne Buch, das sie geschrieben hat:

"Ich weiß noch, wie die Plots waren. Wenn ich mir nicht mehr sicher bin, dann lese ich noch einmal nach. Denn man hat Angst davor, sich zu wiederholen. Und ich will das auf keinen Fall. Wissen Sie – Leute sagen, alle meine Bücher seien unterschiedlich. Und ich will auch nicht, dass sich das ändert und ich fange auf einmal an, ein Buch immer und immer wieder zu schreiben."