Black Female Queer
Rosetta Tharpe war Wegbereiterin des Rock'n'Roll. Mit ihrem Gitarrenspiel und ihrer Bühnenpräsenz inspirierte sie viele junge Männer, die in den 1950er-Jahren eine neue Ära der Popmusik prägten. Trotzdem ist die afroamerikanische Musikerin heute fast vergessen.
Im Sommer 1964 tritt eine afroamerikanische Musikerin mit weißer E-Gitarre im verregneten Manchester auf. Ihr Name ist Sister Rosetta Tharpe. Das englische Fernsehen überträgt das Konzert. Die Art und Weise, wie diese Frau singt und Gitarre spielt, versetzt das Publikum in Erstaunen.
In den 30er und 40er-Jahren war die Gospelsängerin mit der E-Gitarre in den USA ein wahrer Rockstar. Viele der jungen Männer, die in den frühen 50ern den neuen Musikstil mit kehligem Gesang, hartem Riff und vielsagenden Körperbewegungen etablierten, haben sie gehört und bewundert, erklärt Gayle Wald.
Mut in Zeiten der Segregation
Die Amerikanistin und Anglistin hat 2007 die Biografie "Shout Sister Shout" über Rosetta Tharpe veröffentlicht. Während der Segregation in den USA habe die Afroamerikanerin Mut bewiesen, sagt Wald. So nimmt Rosetta Tharpe zum Beispiel die Jordenaires als Tour-Support mit - eine weiße Gesangsgruppe.
"Rosetta Tharpe war schlau in der Art und Weise, wie sie versuchte, mit der Segregation umzugehen. Die Jordenaires zum Beispiel mussten sich vor einem afroamerikanischen Publikum beweisen und deren Ansprüchen gerecht werden. In den 50er Jahren hatte sie eine weibliche Gesangsgruppe, The Rosettes, die sie begleitete. Das waren junge Frauen. Rosetta war damals ungefähr Mitte 40. Sie passte darauf auf, dass diese jungen Frauen sich nie in einer herablassenden oder stereotypen Weise auf der Bühne präsentieren mussten. Bei einem Auftritt im amerikanischen Fernsehen sollten sie zum Beispiel in einer Kulisse mit einem Heuwagen wie auf dem Land stehen, die Frauen sollten Kopftücher tragen. Für Rosetta Tharpe stellte das den Stereotyp der schwarzen Frau als Sklavin auf den Feldern dar, es hatte nichts mit emanzipierten, kreativen Künstlerinnen zu tun. Sie lehnte die Kopftücher für ihre Sängerinnen ab und setzte sich durch."
Vorreiterin in Sachen Queerness
Die "Godmother of Rock'n' Roll" war auch eine Vorreiterin in Sachen Queerness, sagt Gayle Wald. Sie soll eine romantische Beziehung zu ihrer Gesangspartnerin Marie Knight gehabt haben, wie ihre Biografin berichtet:
"Als ich das Buch schrieb, sagte viele Leute, die sie kannten, dass sie sich sowohl zu Frauen als auch zu Männern hingezogen fühlte. Ein paar erzählten mir, dass ihre Beziehung zu Marie Knight eine Liebesbeziehung war. Marie Knight selbst, die ich noch vor ihrem Tod sprechen konnte, verneint das kategorisch. Ich denke, dass es wahrscheinlich ist, dass Rosetta Tharpe eine Beziehung zu Marie Knight und zu anderen Frauen hatte. Das heißt aber nicht, dass ihre Ehen Scheinehen waren, obwohl es oftmals vermutlich Vernunftehen waren."
"Ich denke eher, dass sie wie viele Musikerinnen und Musiker ein relativ unkonventionelles Leben geführt hat. Sie war nie eine Hausfrau. Das hatte seinen Preis, aber gleichzeitig war das auch die Möglichkeit, ein Leben außerhalb bestimmter sozialer Normen zu führen. In einem subkulturellen Raum - sogar innerhalb der Gospel-Welt – in dem es nicht nur heteroexuelle Liebe gab. In diesem Raum hielt sie sich auf, vermute ich. Aber aus heutiger Sicht ist es schwer, ihre Identität klar zu benennen. Ich denke, sie ist jemand, die heute als queere Wegbereiterin für viele junge Künstlerinnen und Künstler gelten kann. Gleichzeitig bleibt sie ein Rätsel – das hat mit der Privatheit zu tun, die ihre Generation in Bezug auf die sexuelle Orientierung pflegte. Man sprach darüber einfach nicht. Rosetta verstand ihr erotisches Leben nicht als Teil ihrer Identität, wie wir es heute tun."
Mit Little Richard auf der Bühne
In seinen Memoiren benennt Little Richard Tharpe als eines seiner großen musikalischen Vorbilder. Mit 14 Jahren begegnet er seinem Idol. Und Tharpe - beeindruckt vom musikalischen Talent des Teenagers - lädt ihn ein, bei einem ihrer Konzerte auf die Bühne zu kommen, sagt Wald:
"Sie holte ihn auf die Bühne und bezahlte ihn für seinen Auftritt. Das bedeutete ihm viel, dass er von jemandem wie ihr wahrgenommen und ermutigt wurde, weiterzumachen. Und wer weiß, vielleicht haben sich beide auch als sexuell grenzuberschreitende Performer wahrgenommen. Selbst wenn Rosetta nicht bisexuell war oder Beziehungen mit Frauen hatte. Die Tatsache, dass ihr Gitarrenspiel als männlich wahrgenommen wurde, veränderte Rosettas Verhältnis zur Weiblichkeit aus Sicht der Leute. Sie war queer auf viele verschiedene Weisen für ihr Publikum."
Leere Kirche und anonymes Grab
Am 09. Oktober 1973 stirbt Rosetta Tharpe, gerade einmal 58 Jahre alt, an einem zweiten Schlaganfall. Zuvor hatte man ihr aufgrund einer Diabetis-Erkrankung ein Bein amputiert. Zu ihrer Beerdigung war die Kirche gerade mal zur Hälfte gefüllt - und sie wurde in einem anonymen Grab beigesetzt.
Erst seit Anfang des Jahrtausends wird der Künstlerin zunehmend die Rolle zugestanden, die sie musikgeschichtlich verdient hat. 2008 wird bei einem Konzert Geld gesammelt, um ihr im gleichen Jahr einen Grabstein zu setzen. 2017 wird sie endlich in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen.
"Das Besondere an Rosetta Tharpe ist, dass andere Musikerinnen und Musiker sie nie vergessen haben. Wir haben den Eindruck, dass sie eine vergessene Musikerin ist und das ist auch richtig. Aber es ist auch wichtig zu sagen, dass Musikerinnen und Musiker ihr Genie immer erkannt haben."
So auch Johnny Cash. Als er 1992 in die Rock & Roll Hall Of Fame aufgenommen wird, ehrt er Rosetta Tharpe in seiner Dankesrede - als seine Lieblingssängerin.