Plädoyer für ein ganzheitliches Verständnis vom Menschen
In ihrem neuen Essay macht sich die Autorin Siri Hustvedt Gedanken über die komplexesten aller Fragen: Was ist der Mensch? Was ist Denken? Wie hängen Geist und Körper zusammen? Gefühle, sagt sie im Interview, haben wir auf der biologischen Ebene noch nicht genau genug verstanden.
Liane von Billerbeck: Was ist der Mensch? Ein Wesen aus Körper, Geist, DNA oder noch viel mehr? Durch Erfahrung und Bestimmung selbst der intelligentesten Maschine überlegen?
Die New Yorker Autorin Siri Hustvedt hat ein neues Buch geschrieben, einen langen Essay, der jetzt auf Deutsch erschienen ist und "Die Illusion der Gewissheit" heißt, und das ist ein leidenschaftliches Plädoyer für ein ganzheitliches Verständnis vom Menschen.
Sie hat sich ja schon in früheren Texten mit Fragen befasst, die an der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst lagen und sie auch mit eigenen Erfahrungen verwoben. Sie kennen sicher einige ihrer Bücher, "Was ich liebte", "Die zitternde Frau", "Der Sommer ohne Männer", "Leben, Denken, Schauen" oder den Roman "Die gleißende Welt".
Zu ihrem 60. Geburtstag hat die FAZ gelobt mit den Worten, Siri Hustvedt schreibe so angenehm spröde. Nun wollen wir über ihr neues Buch reden, "Die Illusion der Gewissheit". Frau Hustvedt, ich grüße Sie!
Siri Hustvedt: Hello, I’m delighted to be here!
Billerbeck: Für ein ganzheitliches Verständnis vom Menschen sprechen sich ja viele Denker, aber auch Mediziner eigentlich schon viel länger aus. Warum fanden Sie es nötig, noch mal dafür zu plädieren, so eindringlich, wie Sie das in diesem Essayband tun?
Hustvedt: Ich glaube, das sind zwei verschiedene Traditionen, von denen Sie da sprechen. Es stimmt, soweit ich weiß, dass in Deutschland in der medizinischen Gemeinschaft eine gewisse Nachkriegstradition eines holistischen, eines ganzheitlichen Ansatzes besteht. Diesen sieht man so in den USA aber noch nicht oder vielleicht entwickelt sich das noch, aber wenn man sich dort die Psychologie oder die Medizin allgemein anguckt, sieht man eher einen biomedizinischen Ansatz.
Billerbeck: Sie verweben in diesem Band die Argumente verschiedener Epochen der Forschung auf ziemlich komplexe Weise. Es gibt ja da bekanntlich viele Positionen, Sie haben sehr viele Zitate. Wie müssen wir uns das vorstellen, haben Sie dafür wochenlang in der Bibliothek gesessen?
"Ich habe in Bibliotheken gesessen, seit ich 14 Jahre alt war"
Hustvedt: Ich habe in Bibliotheken gesessen, seit ich 14 Jahre alt war, und das sind keine neuen Interessen von mir. Die haben sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt. Mein Interesse an wissenschaftlichen Zeitschriften bestand auch schon eine sehr, sehr lange Zeit. Ich habe sie schon immer gelesen, ich habe darin auch veröffentlicht, und meine Forschungen und meine Lernergebnisse, die man in diesem Buch findet, sind Folge vieler Jahrzehnte meines Lebens.
Billerbeck: Wir teilen die Liebe zur Bibliothek, Frau Hustvedt. Die einzigen Tüten, die ich mit Werbeaufdruck herumtrage, tragen den Aufdruck "Staatsbibliothek Berlin".
Hustvedt: Ja, das ist eine Liebe, die wohl sehr viele teilen, wir, die wir diesen lernenden Zug haben und vor allem diese endlose Neugier.
Billerbeck: Viele der in Ihrem Essay erwähnten Forschungen, die sind ja eigentlich schon älter. Denken wir nur an die Ergebnisse der Zwillingsforschung, also wie sich eineiige Zwillinge entwickeln. Sie schauen aber da genau hin und zeigen auf, wie unterschiedlich man diese Forschungsergebnisse auch interpretieren kann. Höre ich da auch so eine Art Kritik an der Wissenschaft?
Hustvedt: Oh ja, da ist eine breite Kritik in diesem Essay auch an der Wissenschaft und an der Forschung, und einige der Forschungen, die ich dort erwähne, ist ziemlich neu, erst ein paar Jahre alt, auch Teile der Zwillingsforschung, die ich erwähne, aber es gibt auch Material aus den 30er- oder 50er-Jahren. Das habe ich auch verwendet, um der historischen Entwicklung bestimmter wissenschaftlicher Ideen einen Rahmen zu geben.
Falsche Hypothesen dürfen nicht zu Dogmen werden
Ich möchte hier mal Goethe zitieren, der gesagt hat, dass man nichts gegen eine falsche Hypothese sagen kann, aber dass ein Problem entsteht, wenn diese Hypothese zum Dogma wird. Das heißt also, einfache Annahmen sollten nicht zu Wahrheiten werden. Manchmal sind diese Annahmen eben sehr wackelig.
Billerbeck: Sie führen in Ihrem Essay auch auf, dass Wissenschaft ja nicht das subjektive Erfahren und Empfinden objektivieren kann, weil wir eben nicht in einen Menschen hineinsehen können. Wir können nicht durch ihn fühlen. Dem könnte man ja nun entgegenhalten, dass es ja doch schon einige Möglichkeiten gibt, zumindest teilweise, Emotionen zu messen. Denken wir an die Hirnströme, ans Adrenalin oder an den Hormonspiegel.
Hustvedt: Was ich sagen möchte, ist, dass es diese Emotionen gibt, die Hormone und so weiter, die man messen kann. Das ist nicht das Thema. Ich habe ja selber wissenschaftliche Aufsätze über Neurowissenschaften geschrieben und mich viel mit dem Gebiet befasst, und ich nutze auch diese empirischen Daten, die man ja hat, die vorhanden sind.
Was ich meine, ist, dass man bei allen objektiven Daten nicht sieht, was die subjektiven Erfahrungen eines Menschen sind, was es bedeutet, ein Mensch in der Welt zu sein, und dass sich das nicht einfach so quantifizieren lässt wie andere physiologische Veränderungen.
Billerbeck: Das heißt, da ist auch schon der Unterschied zur Künstlichen Intelligenz. Sie erwähnen ja auch Hal, den Computer aus "2001: Odyssee im Weltraum" von Stanley Kubrick, eine Maschine, die Gefühle entwickelt, man könnte sagen, fast ein neurotisches Verhalten an den Tag legt. Interessanterweise taucht die auch hierzulande im neuen Buch des Autors Frank Schätzing auf. Ansonsten, scheint es mir, trauen Sie den heutigen Entwicklungen im Künstliche-Intelligenz-Bereich aber gar nicht so viel Gefühl zu.
Hustvedt: Was ich auch zeigen wollte, war die Begrenzung dieses Modells der ersten Generation von Künstlicher Intelligenz, das ja jahrelang benutzt worden ist, die Computational Theory of Mind, also die computerbasierte Theorie des Geistes, die aufzeigt, dass der Geist als ein System getrennt vom Körper funktioniert, und es hat sich ja immer wieder gezeigt, wie dieses Modell in eine Sackgasse gelaufen ist, wie es einfach nicht funktioniert hat.
Computer werden keine Emotionen entwickeln
Inzwischen gibt es weitere Modelle. Es ist klar, dass Künstliche Intelligenz in gewisser Weise auch messbar ist, zum Beispiel können Computer Schach spielen, sie können das besser als Menschen oftmals, aber ich stehe nicht alleine mit der Ansicht: Viele glauben, dass Computer nicht in der Lage sein werden, Emotionen zu entwickeln, denn das Modell gibt das so nicht vor. Wir verstehen auch nicht genau genug, wie diese biologischen Prozesse der Emotionen überhaupt funktionieren.
Billerbeck: Ich wünsche mir das auch, Frau Hustvedt, aber wir sprechen uns in fünf oder zehn Jahren wieder!
Hustvedt: Good idea!
Billerbeck: Danke für das Gespräch!
Hustvedt: Thank you very much for intelligent questions!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.