Sinologe ruft zu nüchterner Debatte über Tibet und China auf

Moderation: Stephan Karkowsky · 22.04.2008
Der Bonner Sinologe Wolfgang Kubin hat die Berichterstattung der westlichen Medien über China kritisiert. Aufgrund der mangelnden Sprachkompetenz würden viele Bilder mit falschen Informationen angereichert, sagte Kubin. Die chinesische Seite gewinne den Eindruck, dass sie als Bösewicht dargestellt und gegen Tibet ausgespielt werde.
Stephan Karkowsky: Was war denn bloß los am Wochenende in zahlreichen Hauptstädten der Welt? Nach den Protesten gegen den Fackellauf gingen nun die Chinesen auf die Straße und protestierten für China, gegen den Dalai Lama und gegen die China-Kritik des Auslandes. Haben wir uns alle geirrt? Ist China wohlmöglich besser als sein Ruf? Das sind Fragen, die uns der Bonner Chinaforscher Wolfgang Kubin beantworten soll. Guten Morgen!

Wolfgang Kubin: Guten Morgen!

Karkowsky: Die Demonstranten protestierten auch in Deutschland, vor allem ja gegen ein falsches Chinabild in den westlichen Medien. Es hieß, die Medien würden Lügen verbreiten über China. Was ist das denn genau, was die Chinesen als unfair oder unwahr wahrnehmen?

Kubin: Die chinesische Seite ist der Auffassung, dass die deutsche Seite auch eben nur ein ganz bestimmtes Chinabild zum Ausdruck bringen möchte, weil sie anscheinend einen Bösewicht braucht, den sie gegen eine andere Seite ausspielt, nämlich gegen die tibetische Seite, die eben als heilig und unantastbar hingestellt wird.

Zunächst müssen wir diese Sache emotional herunterspielen, und zwar deswegen, weil einfach die Diskussion derzeit völlig überhitzt ist. Wir können nicht, wie die chinesische Seite annimmt, davon ausgehen, dass es ein einheitliches China- oder Tibetbild des gesamten Westens gibt. Wir sehen auch in Deutschland, dass die Berichterstattung völlig unterschiedlich ist. Wir finden auf der einen Seite eine sehr seriöse Berichterstattung, und auf der anderen Seite finden wir tatsächlich eine sehr einseitige Berichterstattung, die bestimmte Informationen unterschlägt oder bestimmte Informationen forciert, die teilweise auch mit Informationen handelt, die aus wenig nachprüfbaren Quellen stammen.

Karkowsky: Haben Sie da Beispiele für die Berichterstattung in Deutschland?

Kubin: Ja, wir hatten bei bestimmten Medien, die ich jetzt hier nicht weiter nennen möchte, Bilder vermittelt bekommen, die nicht aus China stammten, sondern aus Nepal. Wir haben Bilder bekommen, wo Krankenwagen abgebildet worden sind, die dann im Untertext aufgeführt, aufgelistet worden sind als Polizeiwagen. Man kann natürlich im zweiten Falle nur die Berichterstattung gerecht gestalten, wenn man überhaupt Chinesisch kann. Und manche sind eben des Chinesischen nicht kundig und sind deswegen nicht in der Lage, Bilder gerecht zu beurteilen und ruhig zu beurteilen.

Karkowsky: Hatten Sie den Eindruck, dass es wegen einer Parteinahme für Tibet geschehen ist, dass dort Nachrichten manipuliert sind, oder war das, wie Sie gerade vielleicht angedeutet haben, doch eher ein Versehen?

Kubin: Die Frage ist auch sehr schwer zu beantworten. Das hängt damit zusammen, wir leben ja heute mehr oder minder in einem heidnischen Deutschland. Dieses heidnische Deutschland bedarf aber einer übergeistigen, seelischen Überhöhung, einer Erlösung. Und die Menschen auch bei uns, selbst wenn sie an nichts mehr richtig glauben, hoffen dennoch, noch etwas Heiliges in dieser Welt finden zu können. Und das hat sich jetzt an Tibet festgemacht. Und deswegen muss unter allen Umständen dieses Tibet für bestimmte Leute heilig bleiben und darf nicht angetastet werden. Und was immer in Tibet geschieht, wird für die tibetische Seite positiv ausgelegt und für die andere Seite, zum Beispiel für die chinesische Seite, negativ ausgelegt.

Karkowsky: Dann haben die Demonstranten nicht ganz unrecht gehabt. Nun gibt es ja in China Zensur statt freier Medien und demonstriert werden darf auch nur, wenn es dem Staatswohl dient. Was waren denn das für Demonstranten überhaupt, die hier in Berlin, in Paris, in den USA für China demonstriert haben? Offenbar keine Regimegegner?

Kubin: Das Verwunderliche und Überraschende ist ja, dass es der westlichen Presse, ich verallgemeinere jetzt einmal, gelungen ist, etwas zu schaffen, was die Kommunistische Partei Chinas und die chinesische Regierung über viele Jahre nicht geschafft hat, nämlich die Chinesen auf ihre Seite zu bringen. Das hängt damit zusammen, dass die Kritik des Westens verallgemeinert daherkommt, sodass sich Chinesen im Ausland nicht sagen können, ja, diese Kritik gilt der Partei oder gilt der Regierung, und hat nun das Gefühl, diese Kritik gilt jedem, egal, wie er politisch eingestellt ist.

Karkowsky: Das heißt, wir haben den Nationalstolz, oder was ist das, verletzt dieser Menschen, die dort auf die Straße gegangen sind?

Kubin: Ja, da muss man weiter ausholen. Nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung in China 1989 hatte die Partei, hatte die Regierung völlig an Glaubwürdigkeit verloren. Und man hat dann ab 1992 eben eine sogenannte sozialistische Marktwirtschaft eingeführt, und nun kann sich jeder bereichern, wie er will. Gleichzeitig hat man einen Patriotismus ausgegeben, ein nationales Identitätsgefühl zur Einigung des Landes. Und diese Politik des Patriotismus und des nationalen Gefühls hat sich letzten Endes jetzt dank der westlichen Presse für die chinesische Seite positiv ausgewirkt.

Diejenigen, die auf die Straße gegangen sind, zumindest im Westen, sind im Grunde genommen Studenten, Dozenten, Professoren, die nicht vom chinesischen Staat geschickt sein müssen, die überwiegend eingeladen sind von der deutschen Seite zum Beispiel oder die sich selber finanziert haben. Das sind auch nicht unbedingt Leute gewesen, die mit der Partei oder mit der Regierung früher viel haben anfangen können. Ganz das Gegenteil, die waren eher sehr kritisch eingestellt gewesen.

Karkowsky: Herr Kubin, das ist quasi antichinesische Propaganda, wenn ich hier sitze und sage, dass diese Demonstrationen von Staat und Partei gesteuert waren. Dann haben diese Demonstranten in gewisser Weise recht. Lassen Sie uns noch mal über das Tibetbild der Menschen in Deutschland reden. Sie haben schon gesagt, dass wir hier auf der Suche nach Erlösung sind und dieses Religiöse, der religiöse Überbau Tibets, verdient Beschützung bei vielen. Das heißt, da kommen diese Beschützerinstinkte heraus. Nun gibt es ja auch eine andere Diskussion in Deutschland, gerade in der Linkspartei, wo ja einige anzweifeln, dass ein tibetischer Gottesstaat seinen Bürgern mehr Demokratie und Menschenrechte gönnen würde, als dies jetzt die Chinesen tun.

Kubin: Ja, man kann die Dinge so kritisch sehen. Aber auch da muss man ganz ruhig bleiben. Man müsste im Grunde genommen die gesamte chinesische, tibetische Geschichte der letzten 1500 Jahre aufarbeiten. Denn die Chinesen und die Tibeter, die haben immer miteinander gekämpft und gerungen. Das, was jetzt passiert, ist nichts Neues in der chinesischen und tibetischen Geschichte. Da wiederholt sich nur etwas, was im Mittelalter, im siebten, achten Jahrhundert, längst begonnen hat.

Und wenn wir uns anschauen, wie sah das denn aus, als die Volkrepublik China wieder ihre Macht auf Tibet ausgestreckt hat? Nun, es herrschte in Tibet ein System, wo fünf Prozent zur Aristokratie gehörten und die restlichen 95 Prozent waren Leibeigene. Und dieses System der Einheit von Religion und Staat, von Aristokratie und Leibeigenen, ist eben zerstört worden. Und das, was die tibetische Kultur im Großen und Ganzen ausmacht, ist eine aristokratische Kultur zumindest gewesen. Und die Rückkehr zu einer solchen aristokratischen Kultur und der Regierungsform ist natürlich nicht möglich. Aber es wäre sicherlich möglich, wieder Staat und Kirche quasi in eins zusammenzubringen.

Karkowsky: Aber die Gleichung, Tibet gleich Menschenrechte und Demokratie, China das Gegenteil, die stimmt so nicht?

Kubin: Die Sachen sind alle viel komplexer. Wir hatten doch gerade in der letzten Woche Francois Jullien, den großen französischen Philosophen und Sinologen, in Deutschland, der auch in verschiedenen Medien zur Sprache gekommen ist. Und der hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Sache mit den Menschenrechten komplexer ist, dass diese Menschenrechte in Europa in einer bestimmten historischen Situation entstanden sind, höchst komplex sind, als höchst unfertig gelten, und dass wir nicht den Fehler weiter begehen sollten, die Menschenrechte immer wie eine Gebetsmühle einzusetzen und wie eine Art Waffe einzusetzen. Es gibt sogar Sinologen, die sind der Auffassung, dass Europa heute nicht mehr mit den Waffen China zu erobern versucht, auch nicht mehr mit der Marktwirtschaft, mit dem Kapitalismus, sondern mithilfe der Menschenrechte.

Karkowsky: Wie geht es denn nun weiter, vor allen Dingen für China selbst? Der ursprüngliche Plan der Chinesen war ja, wir zeigen, was wir können. Die wollten Werbung machen für China mit den Olympischen Spielen. Ist das denn überhaupt noch möglich, wenn die Medien weltweit ihre Berichterstattung vor allem auf die Proteste gegen China konzentrieren und Partei nehmen für Tibet?

Kubin: Ja, da ist gegenwärtig äußerst schwierig und die chinesische Führung hat sich da vielleicht nicht besonders geschickt angestellt. Aber beide Seiten müssen miteinander reden. So, wie das jetzt ist, kann das ja nicht weitergehen. Denn sonst könnte man einfach vorhersagen, dass das die letzen Olympischen Spiele überhaupt waren. Inzwischen ist es ja nicht nur die Politik, es ist nicht nur die Wirtschaft, die da das Sagen hat, sondern inzwischen sind es ja auch die überhitzten Menschen, man kann auch sagen Volksmassen. Und danach machen Olympische Spiele überhaupt keinen Sinn mehr.

Karkowsky: Musste China nicht von vornherein damit rechnen, dass auch die Regimegegner Werbung für ihre Sachen machen würden? Es sieht manchmal so aus, als wäre China davon überrascht worden.

Kubin: Ja, im Nachhinein sind wir klüger. Da können wir natürlich sagen, ja, sie hätten das eigentlich wissen müssen oder wir hätten das wissen müssen. Aber wir hatten eigentlich eine gute Hoffnung, und diese gute Hoffnung bestand auch auf der chinesischen Seite, und es gab auch hinlänglich Anlass. Allerdings in den letzten zwölf Monaten hat sich einiges getan an Widersprüchlichkeiten in China, die schwer einzuschätzen sind. Es sieht so aus, dass die Regierung und die Partei viel schwächer sind, als sie tun, und dass es innerhalb unterschiedliche Meinung, ja sogar Kämpfe gibt.

Karkowsky: Die olympische Fackel ist heute in der indonesischen Hauptstadt Jakarta angekommen. Übermorgen erreicht sie Australien, am Samstag dann Japan. Und über die chinesischen Proteste gegen die Anti-China-Berichte in den westlichen Medien sprachen wir mit dem Bonner Sinologen Wolfgang Kubin. Herr Kubin, herzlichen Dank!