Sinnsuche mit Hegel beim Tee
Deutschlands erste Philosophische Praxis wurde vor 25 Jahren in Bergisch Gladbach gegründet. Inzwischen gibt es bundesweit mehr als 130. Wer heute in der Wirtschaft als Selbstständiger oder als Bewohner einer Vorstandsetage nach dem Sinn des Lebens sucht, oder gar nach sich selbst, geht nicht mehr Extrembergsteigen oder Tunneltauchen und schon gar nicht in eine psychologische Praxis. Er, der Mann, bespricht seine Probleme mit einem Philosophen. Das sieht weniger hilfebedürftig aus und macht Eindruck.
Marianne E. (Name ist der Redaktion bekannt): " Wir sind alle nur darauf gepolt, zu funktionieren, abzuliefern. Und in diesen ganzen Rädern immer so mitzulaufen und das Rad treibt immer jemand anders an ... dieses mal anhalten und zu überlegen, was will ich und was kann ich auch verantworten und wie ist eigentlich meine Wertestruktur so zusammengesetzt, dass fehlt einfach im Alltag. "
Marianne E. arbeitet in einer Marketingabteilung. Sie trägt Verantwortung und muss oft ihre persönliche Meinung hinter die des Unternehmens stellen. Ein Balanceakt, der ihr nicht immer leicht fällt.
Marianne E.: " Im Alltag geht es ja bei mir nur um Effizienzsteigerung, was ist gut fürs Unternehmen, können wir mehr Gewinne einfahren – und solche Dinge. Auf Dauer geht mir das so, dass ich das Gefühl habe, dass man da innerlich ziemlich verblödet damit. ... Das man sich um die wirklich wichtigen Dinge gar nicht mehr kümmert. "
In diesem Zustand der Unzufriedenheit entdeckt Marianne E. in einem Hamburger Café zufällig einen Flyer des Hamburger Philosophen Robert André.
Sie wollen ...
... Ihre Erfahrungen reflektieren und neue Klarheit gewinnen.
... unterscheiden lernen zwischen dem, was in Ihrer Verantwortung liegt, und dem, was außerhalb Ihrer Macht steht.
... jenseits materieller Sicherheiten einen Zustand innerer Unabhängigkeit entdecken.
Dann machen Sie sich im philosophischen Gespräch die Koordinaten bewusst, in denen Sie sich bewegen und bestimmen Sie ihren Spielraum neu.
Philosophische Praxis Hamburg.
Orientierung/Selbstverständigung/Transparenz
Marianne E.: " Ich hatte so was noch nie gehört, "philosophische Praxis", und das klang so unheimlich spannend. Da war ich auch in einer Phase der Neuorientierung, und da habe ich gedacht, da rufe ich jetzt mal an. "
Das war vor vier Jahren. Inzwischen hat sich sein sinnstiftendes Angebot rum gesprochen.
Robert André: " Es gibt in uns inhärent ein Bedürfnis, sich zu orientieren, Klarheit zu haben, wo man hingehört, wo man steht, was gut ist. Die Frage ist, in welchem Maße wir auf die Stimme, die da ist, eingehen. Die Tradition der Philosophie ist der Versuch aufzuzeigen, dass nicht jeder Einzelne da alleine steht, dass es da ganz viele andere gibt, die sich schon mit diesen Fragen befasst haben. "
Andrés philosophische Praxis liegt mitten im quirligen Hamburger Schanzenviertel – umgeben von kleinen Modeläden, Szene-Bars und Restaurants. Betritt man die hellen Räume der Praxis, fühlt man sich unversehens an einen Ort der Ruhe und Sachlichkeit versetzt. Hier lässt es sich ganz sicher gut und konzentriert philosophieren.
André: " Was ist der Mensch, ist eigentlich die Grundfrage. Was zeichnet uns aus? Was sind die Dinge, die wir tun müssen? Woran sollen wir uns orientieren? Es sind aber auch Erkenntnisfragen: Was können wir überhaupt wissen? Können wir so etwas wie ein objektives Wissen haben oder nicht? Und es sind natürlich immer Fragen im sozialen Kontext. Was ist da richtig, was ist da falsch? Was darf ich erwarten, was nicht? "
Robert André hat Philosophie, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Hamburg, Tübingen und Baltimore studiert. 1999 schrieb er seine Doktorarbeit zu Celan, Heidegger und Hölderlin. Eigentlich hatte André eine Hochschulkarriere avisiert und ab 2001 am Graduiertenkolleg in Tübingen gearbeitet, wo er habilitieren wollte. Durch die Krise in diesem Jahr wurden jedoch sämtlich Mittel gekürzt und er hätte ein Jahr warten müssen, um sich neu zu bewerben.
André: " Dann habe ich gemerkt, okay, irgendwann muss ich mir einen Plan B überlegen, wenn das nicht klappt. Ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Ich hatte auch schon diverse Fragezeichen, ob die Hochschulkarriere für mich tatsächlich das non plus ultra ist ... In dieser Situation, wo ich selber eine Entscheidung treffen musste, habe ich diese Idee, von der ich schon gehört hatte, aufgegriffen und mich entschieden, dann mache ich eine eigene philosophische Beratung, phil. Praxis auf, wo ich versuche, mein Wissen, mein Know-how in die Praxis zu bringen. "
Warum besprechen einige Menschen ihre Probleme lieber mit einem Philosophen, als dass sie sich vertrauensvoll an einen Psychologen wenden?
Marianne E. hat dazu eine ganz klare Haltung:
" Ich bin ja nicht krank. Da habe ich vielleicht auch mehr Berührungsängste. Ich habe es wirklich gemacht, um den eigenen Kurs zu finden und auch so ein bisschen - na manchmal hat man im Alltag so das Gefühl, gerade auch in meinem Beruf, dass man geistig verhungert. Ich glaube, dass hat man nicht beim Psychologen, dass man auch Nahrung für den Geist bekommt, dass man wieder erfrischt ist. Ich möchte ja nicht mit meinen kleinen Problemen mich um mich selber drehen, sondern auch was mitnehmen, was für länger ist. "
André: " Es ist ein Gespräch auf Augenhöhe. Natürlich habe ich auch Kompetenzen, Fachwissen, Denkerfahrung. Aber es ist trotzdem ein Gespräch auf Augenhöhe in dem Sinne, weil ich mein Gegenüber in keiner Weise pathologisiere oder zuordne in ein bestimmtes Krankheitsbild. Es geht wirklich darum, Denkprozesse, die jeder Einzelne ein Stück weit mit sich selbst entwickeln könnte, bei mir im Gespräch zu komprimieren, zu verkürzen. "
Achenbach: " Ich hatte schon damals, das war 1981, den Eindruck, der sich immer mehr bestätigt, dass die Zeit der Psychotherapien zurecht zuende geht. Man könnte sagen, dass 20. Jahrhundert war die Zeit des Homo Psychologicus, des Menschen, der nach sich selber gräbt. (...) Weil ja die Psychologie eine Wissenschaft ist, die spezialisiert ist auf Probleme, die uns die Seele und ihre Geschichte einträgt. Die meisten Probleme aber, die die Menschen haben, sind gar nicht seelisch bedingt, sondern wirken sich nur seelisch aus. (…) Eine neue Idee fällt nicht vom Himmel, sondern sie wird in die Welt gesetzt, und dazu bedarf es einen, der das tut. Und das sind Pioniertypen. "
Gerd Achenbach ist so ein Pioniertyp. Vor 27 Jahren ist er auf die Idee gekommen, der Philosophie einen praktischen Bezug zu geben. Er hat die erste philosophische Praxis Deutschlands gegründet.
Achenbach: " Ich habe sehr lange studiert und auch sehr viele Fächer und habe immer mehr gemerkt, der Philosophie fehlt die Praxis. In dem Sinne, in dem man sagen kann, fast alle Wissenschaften leben davon, dass sie Annahmen haben und diese in die Tat umsetzen und zu gucken, was daraus wird. Das heißt, erst eine Theorie, die die Chance hat, auch zu scheitern, in der Praxis zu scheitern, kann korrigiert werden. Die Philosophen denken aber überwiegend, ohne ihre Gedanken auf die Probe zu stellen. Die Probe für Gedanken ist die Praxis. "
Dass die Philosophie mehr als reine Denkleistung sein kann, war schon in der Antike bekannt.
Achenbach: " In Griechenland war Philosophie die Bemühung um ein gelingendes Leben. An Anfänge anzuknüpfen, ist immer dann sinnvoll, wenn eine Sache zu versanden droht. Das war ein bisschen meine Befürchtung im Blick auf die Philosophie. Sie gerät an Universitäten, zum Teil berechtigt, an Randzonen und in den Schatten. "
Gerd Achenbach lebt und arbeitet in Bergisch-Gladbach. Seine philosophische Praxis befindet sich in einer Reihenhaussiedlung. Von außen betrachtet, wirkt es nicht so, als würden hier in diesem vorstädtischen Ambiente, hinter den grau verputzten Mauern, feingeistige Gespräche geführt werden. Der Eindruck täuscht. Innen ist es hell und freundlich - Achenbachs Praxis floriert. Menschen mit den unterschiedlichsten Anliegen machen sich auf den Weg nach Bergisch-Gladbach, um mit ihm zu sprechen. Sie sind nicht nur auf der Suche nach dem Sinn ihrer Existenz. Es kommen zum Beispiel auch viele mit mehr oder weniger komplizierten Beziehungsproblemen, denen die klassische Paartherapie nicht weiterhelfen konnte.
Achenbach: " Ich habe das in dem Ausmaße nicht erwartet. Da kann man gleich mal sagen, dass heute die Beziehung so signifikant oft scheitert, hängt nicht damit zusammen, dass die Menschen eine psychische Macke haben, sondern weil sie so denken, wie sie denken und Erwartungen haben, wie sie sie haben - und von der Ehe oder Partnerschaft so denken. Damit hängt es zusammen. Hier ist eine Korrektur von Einschätzungen erforderlich. "
Und dann kommen noch Menschen in seine philosophische Praxis, die durchaus erfolgreich sind, aber die das Gefühl haben, nicht die ihnen gebührende Anerkennung zu bekommen. Und ...
Achenbach: " ... dann noch Berufsprobleme, Erziehungsprobleme, junge Leute und Kinder, die sehr begabt sind und von denen die Eltern meinen, sie seien in der Schule unterfordert. Die brauchen Anregungen. Das hat mir besonders viel Freude gemacht. "
Marianne E.: " Ich habe zu Hause einen ganzen Ordner. Das ist so meine Bibel. Hier zum Beispiel: Einer der ersten Workshops, bei dem ich war, da ging es um Hegel. Macht, Streben nach Anerkennung. Das finde ich auch sehr interessant. (Blättert) (…) Da war irgendetwas mit Kämpfen und Anerkennung, Herr und Knecht, wo war das? Mit Leben und Tod, diesem Kampf um Leben und Tod. "
Zurück in Hamburg. Hier hat Marianne E. in der philosophischen Praxis von Robert André Texte von Kant, Hegel, Nietzsche und Spinoza gelesen.
Marianne E.: " "Das Verhältnis beider Selbstbewusstsein ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. - Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewissheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem Andern und an ihnen selbst erheben. Und es ist allein das Daransetzen des Lebens, wodurch die Freiheit, wodurch es bewährt wird, dass dem Selbstbewusstsein nicht das Sein, nicht die unmittelbare Weise, wie es auftritt..." Was bei mir besonders hängengeblieben ist, ist dieser Kampf um Leben und Tod. Dass man sich wirklich in die Auseinandersetzung bewegen muss. Egal, wie schwierig das ist. "
André: " Also, warum philosophiert man überhaupt? Eigentlich immer dann, wenn etwas nicht in Ordnung ist, wenn etwas drückt, wenn es Reibungspunkte gibt, wo irgendwas nicht stimmt. Dann möchte ich es verstehen, möchte es analysieren können, vielleicht Auswege finden. Letztendlich ist es ein Versuch, sich eine Klarheit zu verschaffen über sich und die Welt. "
Aus dem Workshop: " Du hattest es eingebracht: Die mittleren Betriebe verschwinden, dass sehe ich auch als eine Gefahr für eine Gesellschaft. Und der zweite Gedanke, dem ich so nachhänge, dass man im Leben schon eine individuelle Sinnfindung so hat, selbst, wenn sie einem nicht bewusst ist. "
Frau: " Das habe ich in dieser Woche auch gelernt: Man kommt aus der eigenen Verantwortung nicht raus, auch nicht mit so einem schönen Seminar Wirtschaftsethik - auch, wenn das ja ganz praktisch wäre. Ich frage mich mehr und mehr: ... Wie kann man, wenn man eigenverantwortlich ist, andere dazu bewegen, auch mehr Eigenverantwortung zu übernehmen? "
André: " Das berührt so ein bisschen die Frage, die wir gestern hatten: Wie viel Einflussmöglichkeiten habe ich? Und die Frage, wie kann ich überhaupt motivieren, ihre eigenen Chancen wahrzunehmen? Da hängt es wesentlich davon ab, dass man bei sich bleibt und sagt: Okay, ich nutze meine Handlungsspielräume. Also, man muss letztlich Maßstäbe setzen durch eigene Action, durch eigene Präsenz, durch eigene Handlung, indem man interveniert, indem man sich zeigt. "
Fünf Frauen und vier Männer sitzen um den großen schwarzen Holztisch in Robert Andrés philosophischer Praxis in Hamburg und diskutieren. Die Workshopteilnehmer haben allesamt Bildungsurlaub genommen, um sich fünf Tage lang mit Fragen der Wirtschaftsethik zu befassen.
André: " Ich habe ihnen schon einiges abverlangt. Es ist ja auch ein Thema, was einen konfrontiert mit der eigenen Realität, auch mit dem, was man vielleicht noch nicht gedacht hat, oder mit den eigenen Vorurteilen, die man vor sich rum trägt, wie man Dinge einschätzt. Und dass eben zu hinterfragen, zu diskutieren und sich neue Anregungen geben zu lassen, dass war Sinn und Zweck dieser Veranstaltung. "
Manchmal ergibt sich auch etwas ganz praktisches aus den theoretischen Exkursen.
André: " Ein Teilnehmer, der letztes Jahr hier mitgemacht hat, der hat sich entschlossen, einen Fonds aufzulegen, der nach ethischen Gesichtspunkten Aktien zusammenfasst und die Leuten, die Geld anlegen wollen, anbietet. Da hat er sich mit jemandem zusammengetan, der sich in dem Geschäft auskennt und als Berater arbeitet. Der war in diesem Jahr auch dabei und hat seinen Fonds vorgestellt: Wie der arbeitet, nach welchen Kriterien die Aktien ausgewählt werden. "
Einmal im Monat lädt Robert André zum Philosophischen Salon in die Tee-Lounge ins Stilwerk am Hamburger Fischmarkt. Zwischen 30 und 40 Gäste nehmen dann auf den modernen, weißen Polstern Platz und genießen bei einer guten Tasse Tee philosophische Diskurse. Es geht um Themen wie Utopien, Sterblichkeit oder Macht.
André: " Beim letzten Mal war im Salon die Frage, was sind Weltvorstellungen. Woher kommen unsere Vorstellungen von Welt eigentlich? Wie konstituiert sich Welt und wie sind wir in der Welt verankert? Wenn man nach dem Menschen fragt, fragt man natürlich auch immer nach dem, worin er lebt, dem Gefüge, in dem man sich aufhält. Ob man das ändern muss oder ob man das für gut heißen kann, nach welchen Kriterien man das bewerten kann. "
"Die Meisten werden, wenn sie am Ende zurückblicken, finden, daß sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt haben, und verwundert seyn, zu sehn, daß Das, was sie so ungeachtet und ungenossen vorübergehen ließen, eben ihr Leben war, eben Das war, in dessen Erwartung sie lebten. Und so ist denn der Lebenslauf des Menschen, in der Regel, dieser, daß er, von der Hoffnung genarrt, dem Tode in die Arme tanzt."
Dieses Zitat von Arthur Schopenhauer untermauert auf der Homepage von Gerd Achenbach die Bedeutung der philosophischen Beratung. Allerdings muss sie nicht per se gelingen. Genauso wie man an gute oder schlechte Psychologen geraten kann, gibt es gute und weniger gute Philosophen. Das Philosophiestudium allein reiche nicht aus, um die Probleme des Gegenübers zu erfassen und zu analysieren, betont Achenbach. Nicht zuletzt deswegen hat er eine dreijährige Ausbildung zum philosophischen Praktiker konzipiert.
Achenbach: " Die ersten zwei Jahre sind eine Wiederholung des Philosophiestudiums. ...Weil jetzt die gesamte Tradition angesehen wird, in wiefern sie eine Hilfe in der phil. Praxis sein kann. Das bedeutet z.B., dass Philosophen, die im offiziellen oder akademischen Milieu gar nicht mal in besonderem Ansehen stehen, hier wichtig werden. So jemand wie Seneca, Montaigne. ..., ... Das wird durchgegangen und dann gibt es besonders unter den neueren Philosophen, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, Kirkegaard, da gibt es dann ganz wichtige Ansätze, die uns weiter helfen. Das sind die ersten zwei Jahre. Im Dritten Jahre geht es v.a. ... um technische Fragen. Also, die Kunst des Gesprächs und ähnliches. "
Es gibt viele Absolventen, die sich um einen Ausbildungsplatz bei Achenbach bewerben. Nicht jeder hat das Glück, einen zu bekommen.
Achenbach: " Ich habe hunderte von Menschen, die Philosophie studiert haben hier im Laufe der Zeit kennen gelernt, die melden sich ja dann immer und dann mache ich eine Gruppe und lade sie ein zum Gespräch. Ich muss mir immer viel Mühe geben, die meisten abzuschrecken. Die könnten das nicht. ... Weil... viele Philosophen haben sich im Studium auch lebensuntauglich gemacht. Das ist leider so. Philosophie kann, wenn sie in einer bestimmten Weise studiert wird, auch weltfremd machen. Dann leben die bloß noch im Heidegger oder so was und gucken durch so eine Brille in die Welt und sind noch nicht mal imstande ihre eigene Ehe halbwegs zu leben. "
André: " Wenn ich mein Leben nicht jetzt lebe, dann werde ich es auch morgen nicht tun. Und da hinzuhören, was müsste ich eigentlich da machen, welche Schritte müsste ich gehen, damit ich sagen kann, ja, jetzt weiß ich, wie es sein soll, dass das Leben doch was kostbares ist. Dieses Kostbarsein des Lebens ist nicht abhängig von äußeren Bedingungen, materiellem Einkommen und, und, und. Dieses Selbstverständnis, ich bin okay, das ist eigentlich für mich der Standard. ... Dann braucht man auch keine Philosophie mehr eigentlich. "
Dieses Manuskript wurde am 10.12.2008 redaktionell überarbeitet.
Marianne E. arbeitet in einer Marketingabteilung. Sie trägt Verantwortung und muss oft ihre persönliche Meinung hinter die des Unternehmens stellen. Ein Balanceakt, der ihr nicht immer leicht fällt.
Marianne E.: " Im Alltag geht es ja bei mir nur um Effizienzsteigerung, was ist gut fürs Unternehmen, können wir mehr Gewinne einfahren – und solche Dinge. Auf Dauer geht mir das so, dass ich das Gefühl habe, dass man da innerlich ziemlich verblödet damit. ... Das man sich um die wirklich wichtigen Dinge gar nicht mehr kümmert. "
In diesem Zustand der Unzufriedenheit entdeckt Marianne E. in einem Hamburger Café zufällig einen Flyer des Hamburger Philosophen Robert André.
Sie wollen ...
... Ihre Erfahrungen reflektieren und neue Klarheit gewinnen.
... unterscheiden lernen zwischen dem, was in Ihrer Verantwortung liegt, und dem, was außerhalb Ihrer Macht steht.
... jenseits materieller Sicherheiten einen Zustand innerer Unabhängigkeit entdecken.
Dann machen Sie sich im philosophischen Gespräch die Koordinaten bewusst, in denen Sie sich bewegen und bestimmen Sie ihren Spielraum neu.
Philosophische Praxis Hamburg.
Orientierung/Selbstverständigung/Transparenz
Marianne E.: " Ich hatte so was noch nie gehört, "philosophische Praxis", und das klang so unheimlich spannend. Da war ich auch in einer Phase der Neuorientierung, und da habe ich gedacht, da rufe ich jetzt mal an. "
Das war vor vier Jahren. Inzwischen hat sich sein sinnstiftendes Angebot rum gesprochen.
Robert André: " Es gibt in uns inhärent ein Bedürfnis, sich zu orientieren, Klarheit zu haben, wo man hingehört, wo man steht, was gut ist. Die Frage ist, in welchem Maße wir auf die Stimme, die da ist, eingehen. Die Tradition der Philosophie ist der Versuch aufzuzeigen, dass nicht jeder Einzelne da alleine steht, dass es da ganz viele andere gibt, die sich schon mit diesen Fragen befasst haben. "
Andrés philosophische Praxis liegt mitten im quirligen Hamburger Schanzenviertel – umgeben von kleinen Modeläden, Szene-Bars und Restaurants. Betritt man die hellen Räume der Praxis, fühlt man sich unversehens an einen Ort der Ruhe und Sachlichkeit versetzt. Hier lässt es sich ganz sicher gut und konzentriert philosophieren.
André: " Was ist der Mensch, ist eigentlich die Grundfrage. Was zeichnet uns aus? Was sind die Dinge, die wir tun müssen? Woran sollen wir uns orientieren? Es sind aber auch Erkenntnisfragen: Was können wir überhaupt wissen? Können wir so etwas wie ein objektives Wissen haben oder nicht? Und es sind natürlich immer Fragen im sozialen Kontext. Was ist da richtig, was ist da falsch? Was darf ich erwarten, was nicht? "
Robert André hat Philosophie, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Hamburg, Tübingen und Baltimore studiert. 1999 schrieb er seine Doktorarbeit zu Celan, Heidegger und Hölderlin. Eigentlich hatte André eine Hochschulkarriere avisiert und ab 2001 am Graduiertenkolleg in Tübingen gearbeitet, wo er habilitieren wollte. Durch die Krise in diesem Jahr wurden jedoch sämtlich Mittel gekürzt und er hätte ein Jahr warten müssen, um sich neu zu bewerben.
André: " Dann habe ich gemerkt, okay, irgendwann muss ich mir einen Plan B überlegen, wenn das nicht klappt. Ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Ich hatte auch schon diverse Fragezeichen, ob die Hochschulkarriere für mich tatsächlich das non plus ultra ist ... In dieser Situation, wo ich selber eine Entscheidung treffen musste, habe ich diese Idee, von der ich schon gehört hatte, aufgegriffen und mich entschieden, dann mache ich eine eigene philosophische Beratung, phil. Praxis auf, wo ich versuche, mein Wissen, mein Know-how in die Praxis zu bringen. "
Warum besprechen einige Menschen ihre Probleme lieber mit einem Philosophen, als dass sie sich vertrauensvoll an einen Psychologen wenden?
Marianne E. hat dazu eine ganz klare Haltung:
" Ich bin ja nicht krank. Da habe ich vielleicht auch mehr Berührungsängste. Ich habe es wirklich gemacht, um den eigenen Kurs zu finden und auch so ein bisschen - na manchmal hat man im Alltag so das Gefühl, gerade auch in meinem Beruf, dass man geistig verhungert. Ich glaube, dass hat man nicht beim Psychologen, dass man auch Nahrung für den Geist bekommt, dass man wieder erfrischt ist. Ich möchte ja nicht mit meinen kleinen Problemen mich um mich selber drehen, sondern auch was mitnehmen, was für länger ist. "
André: " Es ist ein Gespräch auf Augenhöhe. Natürlich habe ich auch Kompetenzen, Fachwissen, Denkerfahrung. Aber es ist trotzdem ein Gespräch auf Augenhöhe in dem Sinne, weil ich mein Gegenüber in keiner Weise pathologisiere oder zuordne in ein bestimmtes Krankheitsbild. Es geht wirklich darum, Denkprozesse, die jeder Einzelne ein Stück weit mit sich selbst entwickeln könnte, bei mir im Gespräch zu komprimieren, zu verkürzen. "
Achenbach: " Ich hatte schon damals, das war 1981, den Eindruck, der sich immer mehr bestätigt, dass die Zeit der Psychotherapien zurecht zuende geht. Man könnte sagen, dass 20. Jahrhundert war die Zeit des Homo Psychologicus, des Menschen, der nach sich selber gräbt. (...) Weil ja die Psychologie eine Wissenschaft ist, die spezialisiert ist auf Probleme, die uns die Seele und ihre Geschichte einträgt. Die meisten Probleme aber, die die Menschen haben, sind gar nicht seelisch bedingt, sondern wirken sich nur seelisch aus. (…) Eine neue Idee fällt nicht vom Himmel, sondern sie wird in die Welt gesetzt, und dazu bedarf es einen, der das tut. Und das sind Pioniertypen. "
Gerd Achenbach ist so ein Pioniertyp. Vor 27 Jahren ist er auf die Idee gekommen, der Philosophie einen praktischen Bezug zu geben. Er hat die erste philosophische Praxis Deutschlands gegründet.
Achenbach: " Ich habe sehr lange studiert und auch sehr viele Fächer und habe immer mehr gemerkt, der Philosophie fehlt die Praxis. In dem Sinne, in dem man sagen kann, fast alle Wissenschaften leben davon, dass sie Annahmen haben und diese in die Tat umsetzen und zu gucken, was daraus wird. Das heißt, erst eine Theorie, die die Chance hat, auch zu scheitern, in der Praxis zu scheitern, kann korrigiert werden. Die Philosophen denken aber überwiegend, ohne ihre Gedanken auf die Probe zu stellen. Die Probe für Gedanken ist die Praxis. "
Dass die Philosophie mehr als reine Denkleistung sein kann, war schon in der Antike bekannt.
Achenbach: " In Griechenland war Philosophie die Bemühung um ein gelingendes Leben. An Anfänge anzuknüpfen, ist immer dann sinnvoll, wenn eine Sache zu versanden droht. Das war ein bisschen meine Befürchtung im Blick auf die Philosophie. Sie gerät an Universitäten, zum Teil berechtigt, an Randzonen und in den Schatten. "
Gerd Achenbach lebt und arbeitet in Bergisch-Gladbach. Seine philosophische Praxis befindet sich in einer Reihenhaussiedlung. Von außen betrachtet, wirkt es nicht so, als würden hier in diesem vorstädtischen Ambiente, hinter den grau verputzten Mauern, feingeistige Gespräche geführt werden. Der Eindruck täuscht. Innen ist es hell und freundlich - Achenbachs Praxis floriert. Menschen mit den unterschiedlichsten Anliegen machen sich auf den Weg nach Bergisch-Gladbach, um mit ihm zu sprechen. Sie sind nicht nur auf der Suche nach dem Sinn ihrer Existenz. Es kommen zum Beispiel auch viele mit mehr oder weniger komplizierten Beziehungsproblemen, denen die klassische Paartherapie nicht weiterhelfen konnte.
Achenbach: " Ich habe das in dem Ausmaße nicht erwartet. Da kann man gleich mal sagen, dass heute die Beziehung so signifikant oft scheitert, hängt nicht damit zusammen, dass die Menschen eine psychische Macke haben, sondern weil sie so denken, wie sie denken und Erwartungen haben, wie sie sie haben - und von der Ehe oder Partnerschaft so denken. Damit hängt es zusammen. Hier ist eine Korrektur von Einschätzungen erforderlich. "
Und dann kommen noch Menschen in seine philosophische Praxis, die durchaus erfolgreich sind, aber die das Gefühl haben, nicht die ihnen gebührende Anerkennung zu bekommen. Und ...
Achenbach: " ... dann noch Berufsprobleme, Erziehungsprobleme, junge Leute und Kinder, die sehr begabt sind und von denen die Eltern meinen, sie seien in der Schule unterfordert. Die brauchen Anregungen. Das hat mir besonders viel Freude gemacht. "
Marianne E.: " Ich habe zu Hause einen ganzen Ordner. Das ist so meine Bibel. Hier zum Beispiel: Einer der ersten Workshops, bei dem ich war, da ging es um Hegel. Macht, Streben nach Anerkennung. Das finde ich auch sehr interessant. (Blättert) (…) Da war irgendetwas mit Kämpfen und Anerkennung, Herr und Knecht, wo war das? Mit Leben und Tod, diesem Kampf um Leben und Tod. "
Zurück in Hamburg. Hier hat Marianne E. in der philosophischen Praxis von Robert André Texte von Kant, Hegel, Nietzsche und Spinoza gelesen.
Marianne E.: " "Das Verhältnis beider Selbstbewusstsein ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. - Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewissheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem Andern und an ihnen selbst erheben. Und es ist allein das Daransetzen des Lebens, wodurch die Freiheit, wodurch es bewährt wird, dass dem Selbstbewusstsein nicht das Sein, nicht die unmittelbare Weise, wie es auftritt..." Was bei mir besonders hängengeblieben ist, ist dieser Kampf um Leben und Tod. Dass man sich wirklich in die Auseinandersetzung bewegen muss. Egal, wie schwierig das ist. "
André: " Also, warum philosophiert man überhaupt? Eigentlich immer dann, wenn etwas nicht in Ordnung ist, wenn etwas drückt, wenn es Reibungspunkte gibt, wo irgendwas nicht stimmt. Dann möchte ich es verstehen, möchte es analysieren können, vielleicht Auswege finden. Letztendlich ist es ein Versuch, sich eine Klarheit zu verschaffen über sich und die Welt. "
Aus dem Workshop: " Du hattest es eingebracht: Die mittleren Betriebe verschwinden, dass sehe ich auch als eine Gefahr für eine Gesellschaft. Und der zweite Gedanke, dem ich so nachhänge, dass man im Leben schon eine individuelle Sinnfindung so hat, selbst, wenn sie einem nicht bewusst ist. "
Frau: " Das habe ich in dieser Woche auch gelernt: Man kommt aus der eigenen Verantwortung nicht raus, auch nicht mit so einem schönen Seminar Wirtschaftsethik - auch, wenn das ja ganz praktisch wäre. Ich frage mich mehr und mehr: ... Wie kann man, wenn man eigenverantwortlich ist, andere dazu bewegen, auch mehr Eigenverantwortung zu übernehmen? "
André: " Das berührt so ein bisschen die Frage, die wir gestern hatten: Wie viel Einflussmöglichkeiten habe ich? Und die Frage, wie kann ich überhaupt motivieren, ihre eigenen Chancen wahrzunehmen? Da hängt es wesentlich davon ab, dass man bei sich bleibt und sagt: Okay, ich nutze meine Handlungsspielräume. Also, man muss letztlich Maßstäbe setzen durch eigene Action, durch eigene Präsenz, durch eigene Handlung, indem man interveniert, indem man sich zeigt. "
Fünf Frauen und vier Männer sitzen um den großen schwarzen Holztisch in Robert Andrés philosophischer Praxis in Hamburg und diskutieren. Die Workshopteilnehmer haben allesamt Bildungsurlaub genommen, um sich fünf Tage lang mit Fragen der Wirtschaftsethik zu befassen.
André: " Ich habe ihnen schon einiges abverlangt. Es ist ja auch ein Thema, was einen konfrontiert mit der eigenen Realität, auch mit dem, was man vielleicht noch nicht gedacht hat, oder mit den eigenen Vorurteilen, die man vor sich rum trägt, wie man Dinge einschätzt. Und dass eben zu hinterfragen, zu diskutieren und sich neue Anregungen geben zu lassen, dass war Sinn und Zweck dieser Veranstaltung. "
Manchmal ergibt sich auch etwas ganz praktisches aus den theoretischen Exkursen.
André: " Ein Teilnehmer, der letztes Jahr hier mitgemacht hat, der hat sich entschlossen, einen Fonds aufzulegen, der nach ethischen Gesichtspunkten Aktien zusammenfasst und die Leuten, die Geld anlegen wollen, anbietet. Da hat er sich mit jemandem zusammengetan, der sich in dem Geschäft auskennt und als Berater arbeitet. Der war in diesem Jahr auch dabei und hat seinen Fonds vorgestellt: Wie der arbeitet, nach welchen Kriterien die Aktien ausgewählt werden. "
Einmal im Monat lädt Robert André zum Philosophischen Salon in die Tee-Lounge ins Stilwerk am Hamburger Fischmarkt. Zwischen 30 und 40 Gäste nehmen dann auf den modernen, weißen Polstern Platz und genießen bei einer guten Tasse Tee philosophische Diskurse. Es geht um Themen wie Utopien, Sterblichkeit oder Macht.
André: " Beim letzten Mal war im Salon die Frage, was sind Weltvorstellungen. Woher kommen unsere Vorstellungen von Welt eigentlich? Wie konstituiert sich Welt und wie sind wir in der Welt verankert? Wenn man nach dem Menschen fragt, fragt man natürlich auch immer nach dem, worin er lebt, dem Gefüge, in dem man sich aufhält. Ob man das ändern muss oder ob man das für gut heißen kann, nach welchen Kriterien man das bewerten kann. "
"Die Meisten werden, wenn sie am Ende zurückblicken, finden, daß sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt haben, und verwundert seyn, zu sehn, daß Das, was sie so ungeachtet und ungenossen vorübergehen ließen, eben ihr Leben war, eben Das war, in dessen Erwartung sie lebten. Und so ist denn der Lebenslauf des Menschen, in der Regel, dieser, daß er, von der Hoffnung genarrt, dem Tode in die Arme tanzt."
Dieses Zitat von Arthur Schopenhauer untermauert auf der Homepage von Gerd Achenbach die Bedeutung der philosophischen Beratung. Allerdings muss sie nicht per se gelingen. Genauso wie man an gute oder schlechte Psychologen geraten kann, gibt es gute und weniger gute Philosophen. Das Philosophiestudium allein reiche nicht aus, um die Probleme des Gegenübers zu erfassen und zu analysieren, betont Achenbach. Nicht zuletzt deswegen hat er eine dreijährige Ausbildung zum philosophischen Praktiker konzipiert.
Achenbach: " Die ersten zwei Jahre sind eine Wiederholung des Philosophiestudiums. ...Weil jetzt die gesamte Tradition angesehen wird, in wiefern sie eine Hilfe in der phil. Praxis sein kann. Das bedeutet z.B., dass Philosophen, die im offiziellen oder akademischen Milieu gar nicht mal in besonderem Ansehen stehen, hier wichtig werden. So jemand wie Seneca, Montaigne. ..., ... Das wird durchgegangen und dann gibt es besonders unter den neueren Philosophen, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, Kirkegaard, da gibt es dann ganz wichtige Ansätze, die uns weiter helfen. Das sind die ersten zwei Jahre. Im Dritten Jahre geht es v.a. ... um technische Fragen. Also, die Kunst des Gesprächs und ähnliches. "
Es gibt viele Absolventen, die sich um einen Ausbildungsplatz bei Achenbach bewerben. Nicht jeder hat das Glück, einen zu bekommen.
Achenbach: " Ich habe hunderte von Menschen, die Philosophie studiert haben hier im Laufe der Zeit kennen gelernt, die melden sich ja dann immer und dann mache ich eine Gruppe und lade sie ein zum Gespräch. Ich muss mir immer viel Mühe geben, die meisten abzuschrecken. Die könnten das nicht. ... Weil... viele Philosophen haben sich im Studium auch lebensuntauglich gemacht. Das ist leider so. Philosophie kann, wenn sie in einer bestimmten Weise studiert wird, auch weltfremd machen. Dann leben die bloß noch im Heidegger oder so was und gucken durch so eine Brille in die Welt und sind noch nicht mal imstande ihre eigene Ehe halbwegs zu leben. "
André: " Wenn ich mein Leben nicht jetzt lebe, dann werde ich es auch morgen nicht tun. Und da hinzuhören, was müsste ich eigentlich da machen, welche Schritte müsste ich gehen, damit ich sagen kann, ja, jetzt weiß ich, wie es sein soll, dass das Leben doch was kostbares ist. Dieses Kostbarsein des Lebens ist nicht abhängig von äußeren Bedingungen, materiellem Einkommen und, und, und. Dieses Selbstverständnis, ich bin okay, das ist eigentlich für mich der Standard. ... Dann braucht man auch keine Philosophie mehr eigentlich. "
Dieses Manuskript wurde am 10.12.2008 redaktionell überarbeitet.